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Das ovale Porträt

Egli è vivo e parlerebbe se non
osservasse la rigola del silentio.

Inschrift unter einem Gemälde von St. Bruno

Ich hatte in einem außerordentlichen, heftigen und langandauernden Fieber gelegen. Alle Heilmittel, die sich in dieser unwirtlichen Gegend der Appenninen auftreiben ließen, waren erfolglos angewendet worden, und schließlich hatten sie sich erschöpft. Was war nun zu tun? Mein Diener und einziger Gefährte in dem verlassenen Schloß war zu unbedacht und zu ungeschickt, um mir zur Ader lassen zu können; überdies hatte ich in der Schlägerei mit den Banditen schon allzuviel Blut verloren. Auch konnte ich meinen Knecht nicht nach fremder Hilfe ausschicken und selbst allein und hilflos hier zurückbleiben. Da erinnerte ich mich endlich eines Päckchens Opium, das sich bei meinem Rauchtabak und der Huhkapfeife befinden mußte; ich hatte nämlich in Konstantinopel die Gewohnheit angenommen, den Tabak mit dem Gift gemischt zu rauchen.

Pedro reichte mir die Tabaksbüchse. Ich suchte und fand das Narkotikum. Doch als ich ein Stück abschneiden wollte, fühlte ich, daß hier erst überlegt werden müsse. Beim Rauchen war es ziemlich belanglos, wieviel Opium dem Tabak beigemengt wurde. Für gewöhnlich hatte ich den Pfeifenkopf zur Hälfte mit einem Gemisch von Opium und geschnittenem Tabak gefüllt, von beidem gleich viel. Zuweilen konnte ich diese Mischung ganz aufrauchen, ohne irgendwie besondere Folgen zu verspüren; zu andern Zeiten hatte ich kaum zwei Drittel dieser Dosis geraucht, als ich schon beunruhigende Anzeichen geistiger Verwirrung verspürte, die mich warnten, weiterzurauchen. Aber die Wirkung des Giftes nahm stets nur gradweise und allmählich zu, und so konnte ich, indem ich jener ersten Warnung folgte, jede ernstliche Gefahr vermeiden.

Hier jedoch lag der Fall anders. Ich hatte nie vorher Opium geschluckt. Laudanum und Morphium waren gelegentlich schon von mir genommen worden, und diesen Mitteln gegenüber hätte ich keine Ursache gehabt, zu zögern. Konzentriertes Opium aber hatte ich noch nie angewendet. Pedro wußte ebensowenig wie ich, welche Dosis genommen werden durfte, und so war ich in diesem dringenden und wichtigen Fall ganz und gar meinen Mutmaßungen überlassen. Trotzdem empfand ich keine sonderliche Unruhe, denn ich hatte beschlossen, in der Anwendung dieses Medikaments gradweise vorzugehen. Zunächst wollte ich eine sehr kleine Dosis nehmen; sollte sie sich wirkungslos erweisen, so würde ich die zweite gleich große Portion folgen lassen – und so weiter, bis ich ein Nachlassen des Fiebers verspüren oder den so dringend notwendigen Schlaf finden würde, dessen Segen meine taumelnden Sinne nun schon fast eine Woche nicht genossen hatten.

Ohne Zweifel war eben diese Sinnverwirrung – war das dumpfe Delirium, das schon auf mir lastete, die Ursache, daß ich meine Schlußfolgerung nicht als falsch erkannte, sondern so blind blieb, hier, wo doch kein Normalmaß mir als Anhaltspunkt dienen konnte, irgend etwas für groß oder klein anzusehen. Ich hatte in jenem Augenblick nicht die leiseste Ahnung davon, daß das, was ich für ein außerordentlich geringes Quantum von Opium hielt, in Wirklichkeit ein übermäßig großes sei. Im Gegenteil, ich erinnere mich gut, daß ich das Stückchen, das ich nehmen wollte, einfach nach seinem Größenverhältnis zu dem ganzen Klumpen abschätzte, den ich in der Hand hielt, und bei diesem Vergleich war die Portion, die ich also schluckte – tatsächlich nur ein sehr kleiner Teil.

Das Schloß, in das mein Diener einzudringen gewagt hatte, um mich, der ich arg verwundet war und mich in trostlosem Zustand befand, nicht die Nacht unter freiem Himmel zubringen zu lassen, war ein grandioser, düstrer Bau, der wohl schon lange grimmig in die Berge starrte. Allem Anschein nach mußte er für einige Zeit, und zwar erst kürzlich, verlassen worden sein. Wir hatten uns in einem Zimmer eines vom Hauptgebäude etwas abgelegenen Turmes eingerichtet. Die Ausstattung des Raumes war reich, jedoch alt und verschlissen. Die Wände waren mit Teppichen behangen und mit zahlreichen und mannigfaltigen kriegerischen Trophäen sowie mit einer großen Reihe lebensvoller Gemälde in reichornamentierten goldenen Rahmen überladen.

Diese Bilder, die nicht nur an den vier Wänden, sondern auch in all den Ecken und Nischen hingen, welche die bizarre Architektur des Schloßturmes bedingt hatte – diese Bilder interessierten mich aufs lebhafteste, wahrscheinlich infolge meines beginnenden Deliriums. Ich bat daher Pedro, die schweren Fensterladen zu schließen – denn es war schon Nacht –, die Lichter eines hohen Kandelabers, der am Kopfende meines Bettes stand, anzuzünden und die befransten Vorhänge aus schwarzem Sammet, die das Bett umschlossen, weit zurückzuziehen. Ich ordnete das alles an, um mich, wenn schon nicht dem Schlaf, so wenigstens der Betrachtung dieser Bilder und der Lektüre eines kleinen Büchleins hinzugeben, das ich auf dem Bettkissen gefunden hatte und das eine Beschreibung und Würdigung der Bilder enthielt.

Lange, lange las ich, und andächtig schaute ich. Die herrlichen Stunden flohen, und tiefe Mitternacht nahte. Ich wollte dem Kandelaber eine etwas andre Stellung geben, und um meinen schlummernden Diener nicht zu wecken, streckte ich selbst die Hand aus und stellte den Leuchter so, daß seine Strahlen voll auf mein Buch fielen.

Die Veränderung hatte aber einen ganz unerwarteten Erfolg. Die Strahlen der zahlreichen Kerzen fielen jetzt in eine Nische des Zimmers, die bislang im tiefen Schatten eines mächtigen Bettpfostens gelegen hatte. So sah ich nun ein mir bisher entgangenes Bild plötzlich in vollstem Lichte. Es war das Porträt eines jungen, zum Weibe reifenden Mädchens.

Ich blickte hastig auf das Bild und schloß dann die Augen. Es war mir selbst zunächst nicht verständlich, weshalb ich das tat. Aber während ich die Lider geschlossen hielt, dachte ich über die Ursache hierfür nach. Ich hatte diese Bewegung ganz impulsiv gemacht, um Zeit zum Nachsinnen zu gewinnen – um die feste Überzeugung zu gewinnen, daß meine Blicke mich nicht betrogen hatten – um meine Gedanken, ehe ich einen nachprüfenden, festeren Blick wagen würde, zunächst zu sammeln und zu beruhigen. Einen Moment später sah ich dann offen und scharf auf das Bild hin.

Ich konnte nun nicht mehr daran zweifeln, daß ich wach und völlig bei Sinnen war, denn schon vorhin, als der erste flackernde Kerzenschein auf diese Leinwand fiel, war ich aus der traumhaften Benommenheit, die meine Sinne beschlichen hatte, jäh erwacht.

Das Bild war, wie ich schon sagte, das Porträt eines jungen Mädchens. Das in der Medaillonform der beliebten Porträts von Sully ausgeführte Gemälde zeigte nur Kopf und Schultern. Die Arme, der Busen und das strahlende Haar verschmolzen unmerklich mit den unbestimmten, doch tiefen Schatten, die den Hintergrund des Ganzen bildeten. Der ovale Rahmen bestand aus reich vergoldetem Schnitzwerk. Dies Gemälde war ein bewunderungswürdiges Kunstwerk. Aber weder die hervorragende Ausführung des Bildes noch die überirdische Schönheit des Porträtkopfes konnten mich so unerwartet und tief ergriffen haben. Noch weniger berechtigt war die Annahme, meine so plötzlich aus dem Schlummer geweckte Phantasie habe diesen Kopf da für das Antlitz eines lebenden Menschen gehalten. Ich sah sofort, daß sowohl die Zeichnung selbst wie auch ihre Einrahmung solchen Gedanken augenblicklich zerstreuen mußten – ja, ihn überhaupt nicht aufkommen lassen konnten.

Ich versank in Nachdenken über diese Fragen und lag wohl eine Stunde so da, halb aufgerichtet, die Blicke auf das Bild geheftet. Endlich, als ich das wahre Geheimnis seiner seltsamen Wirkung gefunden zu haben meinte, sank ich in die Kissen zurück. Der Zauber dieses eigenartigen Bildes schien mir in einer absoluten Lebensechtheit des Ausdrucks zu liegen – des Ausdrucks, der mich zuerst überrascht hatte, mich dann verwirrte, erschreckte und überwältigte.

Voll tiefer, ehrfürchtiger Scheu schob ich den Kandelaber an seinen früheren Platz zurück. Und nachdem nun der Gegenstand meiner Unruhe meinen Blicken entzogen war, griff ich begierig nach dem Büchlein, das die Gemälde und ihre Geschichte behandelte. Ich schlug die Nummer auf, die das ovale Porträt führte, und las dort die wunderlichen Worte: –

»Sie war ein Mädchen von seltenster Schönheit und ebenso heiter und lebensdurstig wie liebreizend. Und übel war die Stunde, da sie den Maler sah und liebte – den sie heiratete. Er: leidenschaftlich, gelehrt, ernst und finster, seiner Kunst wie einer Geliebten zugetan; sie: ein Mädchen von seltenster Schönheit und ebenso heiter und lebensdurstig wie liebreizend; ganz wie ein junges Reh nur Licht und Lächeln und spielende Heiterkeit, liebte sie alle Dinge, liebkoste alle Dinge und haßte nur die Kunst, ihre Rivalin, verabscheute nur Palette und Pinsel und alle die Dinge, die ihr die Neigung des Geliebten streitig machten.

Schrecklich war es für sie, als der Maler den Wunsch aussprach, sogar sie, sein junges Weib, porträtieren zu wollen. Aber sie war demütig und gehorsam und saß geduldig viele Wochen lang im hohen dunklen Turmzimmer, in das nur von oben her ein bleiches Licht hereinkroch. Er, der Maler, trank Seligkeit aus seinem Werk, das fortschritt von Stunde zu Stunde und von Tag zu Tag. Und er war ein leidenschaftlicher und wunderlicher und launischer Mann, der sich in Phantasien ganz verlieren konnte. Und er wollte nicht sehen, daß der gespenstische Lichtschein in dem alten einsamen Turm Gesundheit und Lebenswillen seiner jungen Frau aufzehrte.

Sie siechte hin, doch sie lächelte noch immer – und immer ohne zu klagen; denn sie sah, daß ihr Mann, dieser berühmte Maler, eine glühende, eine unsagbare Freude aus seiner Arbeit schöpfte und Tag und Nacht danach rang, das Bild zu vollenden – das Bild von ihr, die ihn hingebend liebte und täglich teilnahmloser und schwächer wurde. Und in Wahrheit: mancher, der das Porträt sah, rühmte in leisen Worten seine Ähnlichkeit – und es war, als rede man von einem seltsamen, machtvollen Wunder, das ein Beweis sei sowohl für das Können des Malers wie für seine tiefe Liebe zu ihr, die er so über die Maßen gut getroffen habe. Aber schließlich, als die Arbeit ihrer Vollendung näher rückte, wurde niemand mehr im Turmzimmer vorgelassen; denn der Maler war fast toll vor brünstigem Arbeitseifer und wandte nur selten die Augen ab von der Leinwand und sah selbst seinem Weib nur selten noch ins Antlitz. Und er wollte nicht sehen, daß die blühenden Farben, die er auf die Leinwand strich, den Wangen der Geliebten, die neben ihm saß, entzogen wurden. Und als viele Wochen vergangen waren und nur noch wenig zu tun übrigblieb, nur noch ein Pinselstrich am Mund, ein Glanzlicht am Auge, da flackerte das Lebensverlangen des jungen Weibes noch einmal auf, wie die Flamme in der erlöschenden Lampe noch einmal aufflackert. Und dann war der Pinselstrich gemacht und das Glanzlicht angebracht, und einen Augenblick stand der Maler entzückt vor dem Werk, das er geschaffen hatte. Im nächsten Augenblick aber begann er zu zittern und erbleichte und rang nach Atem, und ohne den Blick von seinem Werke abzuwenden, schrie er laut auf: Wahrlich, das ist das lebendige Leben selber! Und er wandte sich um, seine Geliebte anzusehen. – Sie war tot.