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Vierter Teil

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Es war ungefähr eine Woche seit dem Tage vergangen, an dem die beiden Personen, von denen unsere Erzählung handelt, das Rendezvous auf der grünen Bank gehabt hatten. An einem heiteren Vormittag gegen halb elf Uhr kehrte Warwara Ardalionowna Ptizyna, die ausgegangen war, um eine ihrer Bekannten zu besuchen, in sehr nachdenklicher, trüber Stimmung nach Hause zurück.

Es gibt Leute, von denen man schwer etwas aussagen kann, das uns diese Menschen mit einemmal und vollständig in ihrer charakteristischen Erscheinung vor Augen stellt; das sind diejenigen, die man meist als die „üblichen“, als „Masse“ bezeichnet und die tatsächlich in jeder Gesellschaft die weitaus überwiegende Mehrheit bilden. Die Schriftsteller bemühen sich in ihren Romanen und Novellen größtenteils, aus der Gesellschaft solche Charaktere herauszugreifen und sie so plastisch und künstlerisch darzustellen, wie sie in der Wirklichkeit nur ganz selten anzutreffen sind, Charaktere, die aber trotzdem fast wirklicher sind als die Wirklichkeit selbst. Podkolessin1 in seiner charakteristischen Gestalt ist vielleicht eine Übertreibung, aber durchaus keine bloße Erdichtung. Unzählige kluge Leute, die Podkolessin durch Gogol kennengelernt haben, haben sofort zwischen Podkolessin und Dutzenden, ja Hunderten ihrer guten Freunde und Bekannten eine überraschende Ähnlichkeit gefunden. Sie haben auch vor Gogol gewußt, daß diese ihre Freunde Leute von der Art Podkolessins waren, haben aber nur noch nicht gewußt, daß sie gerade so hießen. In der Wirklichkeit sind Freier, die vor der Hochzeit aus dem Fenster springen, äußerst selten, weil das, von andern Gründen abgesehen, gar zu unbequem ist; aber trotzdem: wie viele Freier, sogar achtbare, verständige Männer, haben nicht vor der Trauung in der Tiefe ihrer Seele die Empfindung gehabt, daß sie Podkolessins seien! Ebenso rufen ja auch nicht alle Männer bei jedem Schritt: „Tu l'as voulu, George Dandin!“2 Aber, o Gott, wie viele millionen- und billionenmal ist von den Männern der ganzen Welt dieser Aufschrei des Herzens nach den Flitterwochen, ja, wer weiß, vielleicht schon am Tag nach der Hochzeit wiederholt worden!

Wir wollen also, ohne uns auf ernsthaftere Erklärungen einzulassen, nur sagen, daß in der Wirklichkeit das eigentlich Typische der Charaktere gewissermaßen mit Wasser verdünnt ist und daß alle diese George Dandins und Podkolessins wirklich existieren und alle Tage, wenn auch in etwas verdünntem Zustand, an uns vorüberhuschen und vorüberlaufen. Der Vollständigkeit halber wollen wir schließlich noch bemerken, daß einem auch ein ganzer George Dandin, wie ihn Molière geschaffen hat, in der Wirklichkeit begegnen kann, wenn auch nur selten, und wir wollen damit unsere Betrachtung abschließen, die einem Artikel in einer Monatsschrift ähnlich zu werden beginnt. Indes bleibt immer noch die Frage zu beantworten: was soll der Romanschriftsteller mit den Alltagsmenschen, den ganz „gewöhnlichen“ Leuten, anfangen und wie soll er sie dem Leser vorführen, um sie ihm einigermaßen interessant zu machen? Sie in der Erzählung ganz zu übergehen, ist unmöglich, weil die Alltagsmenschen immer und überall das unumgängliche Bindeglied der Ereignisse des Lebens bilden. Wollte man einen Roman, um Interesse zu erregen, nur mit scharf ausgeprägten Charakteren oder gar nur mit seltsamen, nie dagewesenen Persönlichkeiten anfüllen, so würde man damit gegen die Wahrscheinlichkeit verstoßen und vielleicht sogar uninteressant werden. Unserer Ansicht nach muß sich der Schriftsteller bemühen, auch bei den Alltagsmenschen interessante und lehrreiche Seiten herauszufinden. Wenn zum Beispiel das eigentliche Wesen gewisser Alltagsmenschen gerade in ihrer steten, unveränderlichen Alltäglichkeit besteht oder (was noch besser ist) wenn sie trotz all ihrer außerordentlichen Anstrengungen, um jeden Preis aus dem Geleise des Gewöhnlichen und Herkömmlichen herauszukommen, doch schließlich ihr lebelang unverändert Alltagsmenschen bleiben, dann erhalten solche Personen dadurch sogar einen gewissen eigenartig ausgeprägten Charakter: den einer Alltäglichkeit, die um keinen Preis das, was sie ist, bleiben und um jeden Preis Originalität und Selbständigkeit werden möchte, obwohl sie nicht die geringste Befähigung zur Selbständigkeit besitzt.

Zu der Kategorie der gewöhnlichen oder Alltagsmenschen gehören auch einige Personen unserer Erzählung, die dem Leser bisher, wie ich recht wohl weiß, noch nicht mit hinreichender Klarheit geschildert worden sind. Solche Personen sind namentlich Warwara Ardalionowna Ptizyna sowie ihr Gatte, Herr Ptizyn, und ihr Bruder Gawrila Ardalionowitsch.

In der Tat, es kann nichts Ärgerlicheres geben, als zum Beispiel reich und von anständiger Familie zu sein, ein nettes Äußeres und eine hübsche Bildung sein eigen zu nennen, nicht dumm zu sein, sogar ein gutes Herz zu haben, und gleichzeitig kein Talent, keine Besonderheit, nicht einmal eine Wunderlichkeit, keine einzige eigene Idee zu besitzen, sondern einfach ebenso zu sein „wie alle Menschen“. Reichtum ist vorhanden, aber nicht der eines Rothschild; die Familie ist ehrenhaft, hat sich aber nie durch irgend etwas hervorgetan; das Äußere ist hübsch, aber sehr wenig ausdrucksvoll; die Bildung entspricht den gewöhnlichen Anforderungen, aber man weiß nicht, wozu man sie verwenden soll; Verstand besitzt man, aber ohne eigene Ideen; ein gutes Herz hat man, aber ohne eigentlichen Edelmut, und so weiter und so weiter in allen Beziehungen. Solche Leute gibt es auf der Welt eine große Menge und sogar weit mehr, als man zunächst glauben möchte; sie zerfallen wie alle Menschen in zwei Hauptgruppen: zur einen gehören die beschränkten, zur andern die „weit klügeren“. Die ersteren sind glücklicher. Für einen beschränkten Alltagsmenschen ist zum Beispiel nichts leichter, als sich für einen ungewöhnlichen, originellen Menschen zu halten und davon ohne Bedenken das Gefühl hohen Genusses zu haben. Einige unserer Adelsfräulein brauchen sich nur die Haare abzuschneiden, blaue Brillen aufzusetzen und sich Nihilistinnen zu nennen, um sofort davon überzeugt zu sein, daß sie durch das Aufsetzen der blauen Brillen ohne weiteres eigene „Überzeugungen“ gewonnen haben. Mancher braucht nur die geringste Spur eines allgemein menschlichen guten Gefühls in seinem Herzen zu entdecken, um sofort überzeugt zu sein, daß niemand so empfinde wie er, und daß er ein Vorkämpfer in der allgemeinen Entwicklung sei. Mancher braucht nur von einem andern einen Gedanken wortwörtlich zu übernehmen oder eine Druckseite ohne Anfang und Schluß zu lesen, um sofort zu glauben, daß das seine eigenen, in seinem eigenen Gehirn entstandenen Gedanken seien. Die naive Dreistigkeit, wenn man sich so ausdrücken kann, geht in solchen Fällen erstaunlich weit; all das ist fast unglaublich und begegnet einem doch auf Schritt und Tritt. Diese naive Dreistigkeit, diesen festen Glauben des Dummen an sich und sein Talent schildert uns Gogol vorzüglich in der wundervollen Figur des Leutnants Pirogow3. Pirogow zweifelt gar nicht daran, daß er ein Genie ist, ja höher steht als jedes Genie; er ist von einem Zweifel daran so weit entfernt, daß er sich eine Frage dieser Art gar nicht vorlegt, wie denn für ihn Zweifelsfragen überhaupt nicht existieren. Der große Schriftsteller sah sich schließlich genötigt, ihn zur Befriedigung des verletzten moralischen Gefühls des Lesers durchprügeln zu lassen; als er aber sah, daß der große Mann sich nur schüttelte und zur Hebung seiner Kräfte nach der Mißhandlung ein Blätterteigpastetchen verzehrte, da breitete er erstaunt die Arme aus und überließ seine Leser in dieser Situation sich selbst. Ich habe es immer bedauert, daß Gogol den großen Pirogow auf eine so niedrige Rangstufe gestellt hat, denn Pirogow ist so selbstzufrieden, daß für ihn nichts leichter wäre, als sich auf Grund der mit den Jahren und den Beförderungen dicker gewordenen Epauletten einzubilden, daß er ein ausgezeichneter Feldherr sei, und es sich nicht bloß einzubilden, sondern überhaupt nicht daran zu zweifeln; denn er würde sich sagen, man habe ihn zum General befördert, wie solle er da kein Feldherr sein! Und wie viele solcher Leute erleiden dann auf dem Schlachtfeld ein schreckliches Fiasko! Und wie viele Pirogows hat es unter unseren Literaten, Gelehrten und Propagandisten gegeben! Ich sage „hat es gegeben“, aber natürlich gibt es sie auch jetzt …

Eine der handelnden Personen unserer Erzählung, Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, gehörte zu der anderen Gruppe, zur Gruppe der „weit klügeren“ Leute, obgleich er ganz und gar, vom Kopf bis zu den Füßen, von dem Verlangen, originell zu sein, erfüllt war. Aber diese Gruppe ist, wie wir das bereits oben bemerkt haben, viel unglücklicher als die erstere. Die Sache ist eben die, daß ein kluger Alltagsmensch, selbst wenn er sich zeitweilig (oder meinetwegen auch sein ganzes Leben) einbildet, ein genialer, origineller Mensch zu sein, doch in seinem Herzen den Wurm des Zweifels bewahrt, wodurch dieser kluge Mensch manchmal schließlich restlos in Verzweiflung gerät; wenn er sich aber auch in sein Schicksal fügt, so hat ihn doch die nach innen gedrängte Eitelkeit schon vollständig vergiftet. Übrigens haben wir in jedem Fall die Extreme angeführt: bei den allermeisten Mitgliedern dieser klugen Menschengruppe verläuft die Sache keineswegs so tragisch; gegen Ende des Lebens hat sich vielleicht ein mehr oder minder starkes Leberleiden entwickelt, das ist alles. Aber doch vollführen diese Leute, bevor sie sich beruhigen und in ihr Los fügen, manchmal sehr lange, von der Jugend bis zu dem Lebensalter der Fügsamkeit, recht tolle Streiche, und immer in der Sucht nach Originalität. Es kommen sogar seltsame Fälle vor: mancher ehrliche Mensch ist aus Originalitätssucht bereit, sich zu einer gemeinen Handlung herbeizulassen. Auch folgendes kommt vor: mancher dieser unglücklichen, nicht nur ehrlichen, sondern auch herzensguten Menschen ist der Beschützer und Versorger seiner Familie und unterhält und ernährt durch seine Arbeit nicht nur die Seinigen, sondern sogar Fremde, aber was ist das Resultat? Er kann trotzdem sein ganzes Leben lang nicht zur Ruhe gelangen! Für ihn ist es keineswegs ein beruhigender, tröstlicher Gedanke, daß er seine menschlichen Pflichten so gut erfüllt hat; dieser Gedanke hat sogar im Gegenteil für ihn etwas Aufreizendes: ‚Also das ist es‘, sagt er sich, ‚worauf ich mein ganzes Leben verwandt habe, das ist es, was mich an Händen und Füßen gebunden hat, das ist es; was mich gehindert hat, das Pulver zu erfinden! Wäre dieses Hindernis nicht gewesen, dann hätte ich vielleicht sicher entweder das Pulver erfunden oder Amerika entdeckt; ich weiß noch nicht genau, was, aber erfunden oder entdeckt hätte ich sicherlich etwas!‘ Das Charakteristische bei diesen Herren ist, daß sie tatsächlich ihr ganzes Leben lang sich nicht recht darüber klarwerden können, was sie eigentlich so eifrig zu erfinden und zu entdecken wünschen und was für eine Großtat sie eigentlich das ganze Leben hindurch auszuführen bereit waren, ob die Erfindung des Pulvers oder die Entdeckung Amerikas. Aber ihre schmerzliche Sehnsucht nach einer solchen Großtat hätte wirklich für einen Kolumbus oder Galilei ausgereicht.

Gawrila Ardalionowitsch begann sich gerade in dieser Weise zu entwickeln; aber, wie gesagt, er stand erst am Anfang. Er hatte noch die lange Periode der tollen Streiche vor sich. Das tiefe, stetige Bewußtsein seiner Talentlosigkeit und gleichzeitig das unüberwindliche Verlangen, sich davon zu überzeugen, daß er ein durchaus selbständiger Mensch sei, hatten sein Herz tief verwundet, fast schon von seiner Knabenzeit an. Er war ein junger Mensch mit neidischen und heftigen Wünschen und hatte anscheinend schon bei der Geburt ein reizbares Nervensystem mitbekommen. Die Heftigkeit seiner Wünsche hielt er für Stärke. Bei seinem leidenschaftlichen Wunsch, sich hervorzutun, war er manchmal zu den sinnlosesten Sprüngen bereit; aber sowie die Ausführung eines solchen sinnlosen Sprunges heranrückte, war unser Held doch immer zu klug, als daß er sich dazu hätte entschließen mögen. Das drückte ihn nieder. Vielleicht hätte er sich bei Gelegenheit sogar zu einer recht gemeinen Handlung bereit gefunden, falls er dadurch etwas von seinen erträumten Zielen hätte erreichen können, aber gerade, wenn es an den entscheidenden Punkt kam, war er jedesmal für die recht gemeine Handlung doch zu ehrlich. (Zu einer gemeinen Handlung kleineren Kalibers war er übrigens jederzeit bereit.) Mit Widerwillen und Haß blickte er auf die Armut und den Niedergang seiner Familie. Selbst seine Mutter behandelte er von oben herab und geringschätzig, obgleich er selbst sehr wohl wußte, daß der gute Ruf seiner Mutter vorläufig die Hauptstütze auch für seine eigene Karriere bildete. Als er mit Jepantschin in Verbindung trat, sagte er sich sofort: ‚Entschließt man sich einmal, ein Schuft zu sein, dann muß man es auch bis zu Ende bleiben, wenn man nur dadurch sein Spiel gewinnt‘, — aber er führte die Rolle des Schuftes fast nie bis zu Ende durch. Warum hatte er überhaupt gemeint, er müsse unbedingt schuftig handeln? Vor Aglaja hatte er damals einfach Angst bekommen, hatte aber trotzdem die Beziehungen zu ihr nicht abgebrochen, sondern die Sache für alle Fälle in die Länge gezogen, obgleich er nie ernsthaft geglaubt hatte, daß sie sich zu ihm herablassen würde. Als dann seine Affäre mit Nastasja Filippowna war, hatte er sich auf einmal die Vorstellung zurechtgemacht, mit Geld lasse sich alles erreichen. ‚Wenn man ein Schuft ist, dann muß man es auch ordentlich sein!‘ wiederholte er sich damals täglich mit Selbstzufriedenheit, aber auch mit einiger Furcht; ‚läßt man sich auf Schuftigkeiten ein, dann muß man damit auch bis zum höchsten Gipfel gehen‘, sagte er sich alle Augenblicke zu seiner Ermutigung; ‚gewöhnliche Menschen bekommen es in solchen Fällen mit der Angst, aber wir nicht!‘ Als er Aglaja verloren hatte und durch die Umstände niedergedrückt war, verlor er vollständig den Mut und stellte tatsächlich dem Fürsten das Geld zu, das ihm damals die wahnsinnige Frau hingeworfen hatte, der es von einem ebenso wahnsinnigen Mann gebracht worden war. Daß er das Geld so wieder weggegeben hatte, bereute er nachher tausendmal, obwohl er sich fortwährend damit brüstete. Während der drei Tage, die der Fürst damals in Petersburg zubrachte, weinte er wirklich, aber in diesen drei Tagen warf er auch schon einen Haß auf den Fürsten, weil dieser ihn gar zu mitleidsvoll behandelte, obwohl doch eine solche Handlung, wie es die Rückgabe einer so großen Geldsumme war, ‚nicht jeder fertiggebracht hätte‘. Aber die achtenswerte Selbsterkenntnis, daß sein ganzer Kummer nur von ununterbrochener Verletzung seiner Eitelkeit herkam, quälte ihn schrecklich. Erst lange nachher gelangte er zu einem klareren Urteil und zu der Erkenntnis, was für eine ernste Wendung sein Verhältnis zu einem so unschuldigen, eigenartigen Wesen wie Aglaja hätte nehmen können. Die Reue nagte an seinem Herzen; er gab seine Stelle auf und vergrub sich in seinen Gram und seine Trübsal. Er lebte mit seinem Vater und seiner Mutter bei Ptizyn auf dessen Kosten, zeigte diesem aber unverhohlen seine Geringschätzung, obwohl er gleichzeitig auf seine Ratschläge hörte und verständig genug war, ihn fast immer um solche zu bitten. Gawrila Ardalionowitsch ärgerte sich zum Beispiel auch darüber, daß Ptizyn nicht darauf ausging, ein Rothschild zu werden, und sich dies nicht zum Ziel gesetzt hatte. „Wenn man schon einmal ein Wucherer ist, dann muß man es auch gründlich sein, Charakter zeigen, die Leute schinden, aus ihnen Geld prägen, ein König der Juden werden!“ Ptizyn war ein bescheidener, stiller Mensch, er lächelte nur über solche Reden, aber einmal hielt er es doch für nötig, sich Ganja gegenüber ernsthaft auszusprechen, und führte das sogar mit einer gewissen Würde aus. Er wies ihn darauf hin, daß er nichts Unehrliches tue und daß Ganja ihn ohne Berechtigung einen Juden nenne; er könne nichts dafür, daß es so schwer sei, zu Geld zu kommen; er handle rechtlich und ehrenhaft und sei eigentlich bei „diesen Geschäften“ nur Agent; aber infolge seiner geschäftlichen Zuverlässigkeit sei er schon hervorragenden Persönlichkeiten vorteilhaft bekannt geworden, und seine Geschäfte gewönnen immer mehr an Ausdehnung. „Ein Rothschild werde ich nicht werden, und das ist auch nicht nötig“, fügte er lachend hinzu, „aber zu einem Haus in der Litejnaja-Straße werde ich es wohl bringen, vielleicht auch zu zweien, und damit werde ich abschließen.“ Im stillen aber dachte er: ‚Wer weiß, vielleicht auch zu dreien!‘, sprach das aber nie laut aus, sondern verbarg diese Zukunftsphantasie. Das Schicksal liebt solche Menschen und verfährt mit ihnen freundlich: es wird Herrn Ptizyn nicht mit drei, sondern gewiß mit vier Häusern belohnen, und zwar gerade deswegen, weil er von seiner Kindheit an gewußt hat, daß er nie ein Rothschild werden würde. Aber andererseits wird das Schicksal unter keinen Umständen über vier Häuser hinausgehen, und damit wird die Sache für Ptizyn ihren Abschluß finden.

Eine ganz andersartige Persönlichkeit war Gawrila Ardalionowitschs Schwester. Auch sie war von einem kräftigen Streben erfüllt, das aber mehr den Charakter der Beharrlichkeit als den der Heftigkeit trug. Sie bewies viel Verstand, wenn eine Sache zum entscheidenden Punkt gelangt war, aber daran mangelte es ihr auch schon vorher nicht. Freilich gehörte auch sie zu der Kategorie der „gewöhnlichen“ Leute, die von Originalität träumen, aber sie erkannte doch sehr bald, daß sie keine Spur von besonderer Originalität besaß, und grämte sich darüber nicht allzusehr — wer weiß, vielleicht aus einer eigenen Art von Stolz. Ihren ersten Schritt ins praktische Leben führte sie mit großer Entschlossenheit aus, als sie Herrn Ptizyn heiratete, aber indem sie das tat, sagte sie ganz und gar nicht zu sich selbst: ‚Will man gemein handeln, dann gründlich, wenn man nur sein Ziel erreicht‘, wie Gawrila Ardalionowitsch sich in solchem Falle unbedingt ausgedrückt hätte (er war nahe daran, sich vor ihren Ohren so auszudrücken, als er als älterer Bruder seine Billigung ihres Entschlusses aussprach). Vielmehr heiratete Warwara Ardalionowna ganz im Gegenteil erst, nachdem sie zu der wohlbegründeten Überzeugung gelangt war, daß ihr künftiger Gatte ein bescheidener, angenehmer, beinah gebildeter Mann sei und größere Gemeinheiten nie und um keinen Preis begehen würde. Nach kleineren Gemeinheiten fragte Warwara Ardalionowna nicht; das waren eben Kleinigkeiten, und solche Kleinigkeiten kamen ja in der Welt überall vor. Wozu ein Ideal suchen! Zudem wußte sie, daß sie durch diese Heirat ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren Brüdern zu einem Unterkommen verhalf. Da sie ihren Bruder Ganja im Unglück sah, wünschte sie, trotz aller früheren Zwistigkeiten in der Familie, ihm zu helfen. Ptizyn drängte seinen Schwager Ganja manchmal, natürlich freundschaftlich, wieder eine Stelle anzunehmen. „Da verachtest du nun die Generale und den Generalsrang“, sagte er mitunter scherzend zu ihm, „aber paß einmal auf, ‚sie‘ werden alle schließlich, wenn die Reihe an sie kommt, Generale werden; wenn du lange genug lebst, wirst du es schon sehen.“

‚Wie kommen manche Leute nur zu dem Glauben, ich sei ein Verächter der Generale und des Generalsranges?‘ dachte Ganja im stillen bitter und spöttisch. Um ihrem Bruder behilflich zu sein, entschloß sich Warwara Ardalionowna, den Bereich ihrer Tätigkeit zu erweitern: sie verschaffte sich Zutritt bei der Familie Jepantschin, wobei ihr Erinnerungen an die Kinderzeit halfen, denn sowohl sie selbst als auch ihr Bruder hatten als Kinder mit den Jepantschinschen Töchtern gespielt. Wir bemerken hier, daß Warwara Ardalionowna, wenn sie mit ihren Besuchen bei den Jepantschinschen Damen irgendein phantastisches Ziel vor Augen gehabt hätte, vielleicht eben dadurch sofort aus jener Menschenklasse ausgeschieden wäre, zu der sie sich selbst rechnete; aber sie hatte kein phantastisches Ziel vor Augen, sondern es lag ihrerseits sogar eine sehr wohlbegründete Spekulation vor, wobei sie den Charakter dieser Familie als Ausgangspunkt benutzte. Aglajas Charakter studierte sie unermüdlich. Sie hatte sich die Aufgabe gestellt, die beiden jungen Leute, ihren Bruder und Aglaja, wieder zusammenzubringen. Vielleicht hatte sie tatsächlich einiges erreicht; vielleicht hatte sie auch Fehler begangen, indem sie zum Beispiel zu sehr auf ihren Bruder rechnete und von ihm etwas erwartete, was er nie und auf keine Weise hätte leisten können. Jedenfalls operierte sie bei Jepantschins sehr geschickt: sie erwähnte wochenlang ihren Bruder mit keinem Wort, war immer sehr wahrheitsliebend und aufrichtig und benahm sich schlicht, aber würdig. Was aber ihr innerstes Gewissen anlangt, so fürchtete sie sich nicht, in dasselbe hineinzublicken, und machte sich nicht den geringsten Vorwurf. Und dadurch wuchs ihre Kraft noch mehr. Nur eins, was ihr mißfiel, bemerkte sie manchmal an sich: daß auch sie sehr viel Ehrgeiz besaß, sich gelegentlich ärgerte und in ihrer Eitelkeit verletzt fühlte; besonders bemerkte sie das zu bestimmten Zeiten, und zwar fast jedesmal, wenn sie von Jepantschins fortging.

So kehrte sie auch jetzt von ihnen heim und, wie wir schon gesagt haben, in nachdenklicher, trüber Stimmung. In dieser trüben Stimmung lag auch eine gewisse spöttische Bitterkeit. Ptizyn bewohnte in Pawlowsk ein unansehnliches, aber geräumiges Holzhaus, das an einer staubigen Straße gelegen war und demnächst in seinen vollen Besitz übergehen sollte, so daß er seinerseits es schon wieder einem Dritten zum Kauf angeboten hatte. Als Warwara Ardalionowna die Freitreppe hinaufstieg, hörte sie oben im Haus einen ungewöhnlichen Lärm und unterschied die schreienden Stimmen ihres Bruders und ihres Vaters. In den Salon eintretend, sah sie Ganja, der, ganz blaß vor Wut, im Zimmer auf und ab lief und sich beinah die Haare ausriß; sie runzelte bei diesem Anblick die Stirn und ließ sich mit müder Miene auf das Sofa sinken, ohne den Hut abzunehmen. Sie wußte ganz genau, daß, wenn sie noch ungefähr eine Minute lang schwieg und ihren Bruder nicht fragte, warum er so umherlaufe, dieser mit Sicherheit darüber in Zorn geraten würde; daher beeilte sie sich schließlich, in Form einer Frage zu sagen:

„Immer noch die alte Geschichte?“

„Ach was, die alte Geschichte!“ rief Ganja. „Die alte Geschichte! Nein, weiß der Teufel, was jetzt hier vorgeht! Etwas Neues! Der Alte ist ganz rasend geworden … die Mutter heult. Wahrhaftig, Warja, rede, was du willst, aber ich werde ihn aus dem Hause jagen oder … oder selbst von euch wegziehen“, fügte er hinzu, wahrscheinlich weil ihm einfiel, daß man aus einem fremden Haus niemand wegjagen kann.

„Man muß doch Nachsicht haben“, murmelte Warja.

„Nachsicht womit? Mit wem?“ fuhr Ganja auf. „Mit seinen Gemeinheiten? Nein, da kannst du reden, was du willst, aber das geht so nicht länger! Unmöglich, unmöglich, unmöglich! Und was ist das für eine Manier: er ist schuld und trumpft dabei noch auf. Wie ein störrisches Tier: ‚Ich will nicht ins Tor, reiß den Zaun nieder!‘ Warum sitzt du so da? Was machst du denn für ein Gesicht?“

„Mein Gesicht ist wie immer“, erwiderte Warja mißvergnügt.

Ganja sah sie genauer an.

„Bist du dort gewesen?“ fragte er plötzlich.

„Ja.“

„Warte, da schreit er wieder! Es ist eine Schande, und noch dazu um diese Zeit!“

„Was meinst du damit: ‚um diese Zeit‘? Es ist doch keine besondere Zeit.“

Ganja betrachtete seine Schwester noch aufmerksamer.

„Hast du etwas erfahren?“ fragte er.

„Nein, wenigstens nichts Überraschendes. Ich habe erfahren, daß das alles seine Richtigkeit hat. Mein Mann hat gegen uns beide recht behalten; es ist so gekommen, wie er es gleich von Anfang an vorhergesagt hat. Wo ist er eigentlich?“

„Er ist nicht zu Hause. Was ist geschehen?“

„Der Fürst ist regulärer Bräutigam, die Sache ist entschieden. Die beiden älteren Schwestern haben mir gesagt, Aglaja habe eingewilligt; sie verheimlichen es nicht einmal mehr. (Vorher haben sie immer sehr geheimnisvoll getan.) Adelaidas Hochzeit wird von neuem verschoben, damit beide Hochzeiten gleichzeitig gefeiert werden können, an demselben Tag, — sehr romantisch! Es mutet einen ganz poetisch an. Du solltest lieber ein Hochzeitsgedicht verfassen, statt so unnütz im Zimmer umherzulaufen. Heute abend wird die alte Bjelokonskaja bei ihnen sein, sie ist gerade zur rechten Zeit angekommen; es werden auch noch mehr Gäste da sein. Sie werden ihn der alten Bjelokonskaja vorstellen, obwohl er schon mit ihr bekannt ist; es scheint, daß die Verlobung bekanntgemacht werden soll. Sie fürchten nur, daß er irgend etwas hinfallen läßt oder zerschlägt, wenn er zu den Gästen ins Zimmer kommt, oder auch, daß er selbst hinplumpst, denn auf so etwas kann man sich gefaßt machen.“

Ganja hörte sehr aufmerksam zu, aber zur Verwunderung seiner Schwester übte diese ihrer Meinung nach für ihn überraschende Nachricht anscheinend auf ihn gar keine besonders überraschende Wirkung aus.

„Nun gut, das war ja schon lange klar“, sagte er nach kurzem Nachdenken. „Also nun ist das zu Ende!“ fügte er mit einem eigentümlichen Lächeln hinzu, indem er seiner Schwester verschmitzt ins Gesicht sah und immer noch fortfuhr, im Zimmer auf und ab zu gehen, allerdings viel langsamer.

„Es ist nur gut, daß du es mit philosophischer Ruhe aufnimmst, ich freue mich darüber wirklich“, sagte Warja.

„Nun sind wir eine Last von den Schultern los, wenigstens du.“

„Ich glaube, dir aufrichtig gedient zu haben, ohne mich mit meinem eigenen Urteil einzumischen und ohne dich mit Fragen zu belästigen; ich habe dich nicht gefragt, welches Glück du an Aglajas Seite zu finden hofftest.“

„Aber habe ich denn überhaupt … ein Glück an Aglajas Seite zu finden gehofft?“

„Na, laß dich bitte nicht auf philosophische Betrachtungen ein! Jedenfalls ist es jetzt so. Wir haben verspielt und ziehen mit langer Nase ab. Ich muß dir gestehen, ich habe diese Sache nie als etwas Ernstes betrachten können, ich habe sie nur so ‚für alle Fälle‘ betrieben und dabei auf den komischen Charakter des Mädchens gebaut, vor allen Dingen aber wollte ich dir eine Freude machen; die Wahrscheinlichkeit, daß es mißlingen würde, betrug neunzig Prozent. Ich für meine Person weiß sogar jetzt nicht einmal, was du eigentlich angestrebt hast.“

„Jetzt werdet ihr, du und dein Mann, mich dazu drängen, wieder in den Dienst zu treten, und werdet mir Predigten über Beharrlichkeit und Willenskraft halten, und daß man das Kleine nicht geringschätzen dürfe und so weiter. Ich weiß es schon auswendig!“ sagte Ganja lachend.

‚Er hat irgend etwas Neues im Sinn!‘ dachte Warja.

„Nun, wie steht es jetzt dort? Die Eltern freuen sich wohl?“ fragte Ganja plötzlich.

„Es scheint nicht. Übrigens kannst du dir das ja selbst zurechtlegen. Iwan Fjodorowitsch ist zufrieden; die Mutter ist ängstlich; sie hat bekanntlich von jeher einen Widerwillen gegen die Vorstellung gehabt, daß er der Bräutigam ihrer Tochter werden könnte.“

„Danach frage ich nicht; er ist ein unmöglicher, undenkbarer Bräutigam, das ist klar. Ich frage nach der jetzigen Situation, wie es jetzt dort steht. Hat sie ihr formelles Jawort gegeben?“

„Sie hat bis jetzt nicht nein gesagt, das ist alles, aber etwas anderes war ja von ihr auch nicht zu erwarten. Du weißt, daß sie von jeher bis zur Verdrehtheit blöde und schüchtern war: als Kind stieg sie in einen Schrank und saß da zwei, drei Stunden lang, um nur nicht zu den Gästen hineingehen zu müssen; nun ist sie eine große Göre geworden, aber es ist mit ihr immer noch dieselbe Geschichte. Weißt du, ich denke, daß es sich da wirklich auch von ihrer Seite um ein ernsthaftes Gefühl handelt. Allerdings macht sie sich, wie mir gesagt wird, über den Fürsten vom Morgen bis zum Abend aus Leibeskräften lustig, um sich nichts anmerken zu lassen; aber gewiß weiß sie ihm täglich im stillen etwas Angenehmes zu sagen, denn er geht umher wie im Himmel und strahlt ordentlich … Er soll furchtbar komisch aussehen. Das habe ich von den beiden älteren Schwestern gehört. Es schien mir auch, als ob diese sich direkt über mich lustig machten.“

Ganja machte endlich ein finsteres Gesicht; vielleicht vertiefte sich Warja absichtlich in dieses Thema, um in seine wahren Gedanken einzudringen. Aber jetzt erscholl oben wieder Geschrei.

„Ich werde ihn aus dem Hause jagen!“ brüllte Ganja, als freute er sich, seinem Ärger Luft machen zu können.

„Dann wird er wieder hingehen und uns überall blamieren wie gestern.“

„Was meinst du mit ‚wie gestern‘? Was soll das heißen: ‚wie gestern‘? Ist er etwa …“, fragte Ganja, der plötzlich einen gewaltigen Schreck bekam.

„Ach, mein Gott, weißt du es denn nicht?“ fragte Warja erschrocken.

„Wie … also ist es wirklich wahr, daß er dort gewesen ist?“ rief Ganja, der vor Scham und Wut ganz rot wurde. „O Gott, du kommst ja von dort! Hast du etwas erfahren? Ist der Alte dagewesen? War er da oder nicht?“

Ganja stürzte nach der Tür; Warja lief zu ihm hin und ergriff ihn mit beiden Händen.

„Was hast du? Wo willst du hin?“ sagte sie. „Wenn du ihn jetzt hinausläßt, wird er bei allen Menschen herumlaufen und noch schlimmere Dinge anrichten!“

„Was hat er denn dort angerichtet? Was hat er gesagt?“

„Sie haben es selbst nicht recht begriffen und konnten es mir nicht ordentlich wiedererzählen; nur hat er alle in Angst versetzt. Er wollte zu Iwan Fjodorowitsch, aber der war nicht zu Hause; dann verlangte er Lisaweta Prokofjewna zu sprechen. Zuerst bat er sie um eine Stelle, er wolle wieder in den Dienst treten, und dann fing er an, sich über uns zu beklagen, über mich, über meinen Mann, namentlich aber über dich … er hat alles mögliche zusammengeredet.“

„Du hast es nicht erfahren können?“ fragte Ganja, krampfhaft zitternd.

„Wie wäre das möglich! Er hat selbst kaum verstanden, was er redete; und vielleicht haben sie mir auch nicht alles wiedererzählt.“

Ganja griff sich an den Kopf und lief zum Fenster; Warja setzte sich an das andere Fenster.

„Wie komisch Aglaja ist“, bemerkte sie plötzlich. „Als ich weggehen wollte, hielt sie mich noch zurück und sagte zu mir: ‚Übermitteln Sie Ihren Eltern den Ausdruck meiner besonderen persönlichen Hochachtung; ich werde in diesen Tagen gewiß Gelegenheit finden, mit Ihrem Papa zu sprechen.‘ Und das sagte sie ganz ernst. Es war sehr merkwürdig …“

„Nicht spöttisch? Nicht spöttisch?“

„Das ist es eben, daß sie es nicht spöttisch sagte; darum war es so merkwürdig.“

„Weiß sie, was der Alte gemacht hat, oder nicht? Was meinst du?“

„Daß es bei ihnen nicht die ganze Familie weiß, scheint mir sicher, aber du bringst mich da auf einen Gedanken: vielleicht weiß es Aglaja. Und sie wird die einzige sein, die es weiß, denn auch die Schwestern waren verwundert, als sie mir mit solchem Ernst eine Empfehlung an den Vater auftrug. Und warum gerade an ihn? Wenn sie es weiß, dann muß es ihr der Fürst gesagt haben!“

„Es wird kein Kunststück sein, herauszubringen, wer es ihr gesagt hat! Ein Dieb! Das fehlte noch! Ein Dieb in unserer Familie, das ‚Oberhaupt der Familie‘!“

„Ach, dummes Zeug!“ rief Warja ganz ärgerlich. „Gerede Betrunkener, weiter nichts! Und wer hat es aufgebracht? Lebedew und der Fürst … selbst eine nette Sorte; gerade die rechten Kirchenlichter. Ich mache mir auch nicht so viel daraus.“

„Der Alte ein Dieb und Trunkenbold“, fuhr Ganja bitter fort, „ich ein Bettler, der Mann meiner Schwester ein Wucherer — das wäre etwas für Aglaja gewesen! Das muß man sagen: eine angenehme Sippschaft!“

„Und doch ist es dieser Mann deiner Schwester, der Wucherer, der dich …“

„Ernährt, nicht wahr? Bitte geniere dich nicht!“

„Warum bist du denn so ärgerlich?“ erwiderte Warja. „Du verstehst auch gar nichts, du bist wie ein Schuljunge. Du meinst, all das hätte dir in Aglajas Augen schaden können? Da kennst du ihren Charakter schlecht; die wäre imstande, sich von dem besten Bewerber abzuwenden und mit Vergnügen zu irgendeinem Studenten auf die Dachkammer zu laufen, um da Hungers zu sterben, — das ist ihr Traum! Du hast nie begreifen können, wie interessant du in ihren Augen geworden wärest, wenn du es verstanden hättest, unsere kümmerliche Lage mit Festigkeit und Stolz zu ertragen. Bei dem Fürsten hat sie angebissen, erstens weil er es nicht darauf angelegt hatte, sie zu fangen, und zweitens weil er in den Augen aller ein Idiot ist. Schon allein, daß sie um seinetwillen ihre Familie in Aufregung versetzt, schon das ist ihr jetzt eine Freude. Ach, ihr versteht aber auch gar nichts!“

„Nun, das wollen wir noch sehen, ob wir etwas verstehen oder nicht“, murmelte Ganja rätselhaft. „Aber ich möchte doch nicht, daß sie das von dem Alten erfährt. Ich hatte gemeint, der Fürst würde sich beherrschen und es nicht weitererzählen. Er hat auch Lebedew veranlaßt, darüber zu schweigen, und wollte auch mir nicht alles sagen, als ich in ihn drang …“

„Also siehst du selbst, daß auch auf anderen Wegen alles schon bekanntgeworden ist. Was willst du jetzt noch weiter? Worauf hoffst du noch? Wenn dir überhaupt noch eine Hoffnung bliebe, so würde gerade dieser Vorfall dir nützen, indem er dir in ihren Augen das Ansehen eines Märtyrers verleihen würde.“

„Na, vor einem Skandal würde wohl auch sie zurückschrecken, trotz all ihrer Romantik. Es hat alles seine Grenzen, und alle Menschen gehen nur bis zu einem bestimmten Punkt, so seid ihr alle.“

„Aglaja würde zurückschrecken?“ versetzte Warja heftig und blickte ihren Bruder geringschätzig an. „Hast du eine niedrige Denkungsart! Ihr seid allesamt nichts wert. Mag sie auch eine komische, wunderliche Person sein, aber dafür hat sie eine tausendmal anständigere Gesinnung als wir alle zusammen!“

„Na, schon gut, schon gut, ärgere dich nur nicht!“ murmelte Ganja wieder selbstzufrieden.

„Mir tut nur die Mutter leid“, fuhr Warja fort. „Ich fürchte, daß diese Geschichte mit dem Vater ihr zu Ohren kommt. Ach ja, das fürchte ich!“

„Das ist gewiß schon geschehen“, bemerkte Ganja.

Warja stand auf, um zu Nina Alexandrowna nach oben zu gehen, blieb aber dann noch stehen und blickte ihren Bruder aufmerksam an.

„Wer kann es aber gewesen sein, der es ihr gesagt hat?“

„Wahrscheinlich Ippolit. Ich denke mir, er hat sich sofort, nachdem er zu uns übergesiedelt ist, eine Freude daraus gemacht, es der Mutter zu berichten.“

„Aber woher weiß er es denn? Das sag mir bitte! Der Fürst und Lebedew haben sich vorgenommen, es niemandem zu sagen, sogar Kolja weiß nichts davon.“

„Ippolit? Der hat es von selbst erfahren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für eine listige Kreatur ist, was für ein Klatschweib, und was er für eine feine Nase hat, um alles Schlechte und Skandalöse zu wittern. Na, du magst es glauben oder nicht, ich bin überzeugt, daß er Aglaja schon ganz in seinen Händen hat! Und wenn es ihm noch nicht gelungen ist, so wird es ihm bald gelingen! Auch Rogoshin ist zu ihm in Beziehung getreten. Wie ist es nur möglich, daß der Fürst das nicht merkt! Und jetzt hat er die größte Lust, mich hineinzulegen! Er hält mich für seinen persönlichen Feind, das habe ich längst durchschaut. Warum nur? Und was hat er hier noch vor? Er wird ja bald sterben, — ich kann es nicht begreifen! Aber ich werde ihn hinters Licht führen; du wirst sehen, daß nicht er mich hineinlegt, sondern ich ihn.“

„Warum hast du ihn denn zu uns herübergelockt, wenn du ihn so haßt? Und ist er das überhaupt wert, daß du ihn hineinlegst?“

„Du bist es ja gewesen, die mir geraten hat, ihn zu uns herüberzulocken.“

„Ich glaubte, er würde uns nützlich sein; aber weißt du, daß er sich jetzt selbst in Aglaja verliebt und an sie geschrieben hat? Sie haben mich danach gefragt … fast hätte er auch noch an Lisaweta Prokofjewna geschrieben.“

„In dieser Hinsicht ist er nicht gefährlich!“ sagte Ganja, boshaft lachend. „Übrigens ist da sicherlich etwas nicht in Ordnung. Daß er verliebt ist, ist sehr wohl möglich, denn er ist ein unreifes Bürschchen! Aber … anonyme Briefe wird er der Alten nicht schreiben. Eine boshafte, wertlose, selbstzufriedene Mittelmäßigkeit, das ist seine Charakteristik … Ich bin überzeugt, ja ich weiß sicher, daß er mich ihr als Intriganten geschildert hat; das ist das erste gewesen, was er getan hat. Ich muß bekennen, ich bin zuerst dumm genug gewesen, ihm zuviel von mir zu erzählen; ich meinte, er werde, schon um sich an dem Fürsten zu rächen, für meine Interessen eintreten; er ist eine so listige Kreatur! Oh, ich habe ihn jetzt völlig durchschaut. Von diesem Diebstahl aber hat er durch seine Mutter, die Hauptmannsfrau, gehört. Wenn der Alte sich zu einer solchen Tat hat entschließen können, so hat er es wegen der Hauptmannsfrau getan. Der Junge hat mir auf einmal ohne äußeren Anlaß mitgeteilt, der General habe seiner Mutter vierhundert Rubel versprochen; das hat er mir ohne äußeren Anlaß gesagt und ohne alle Umschweife. Da ist mir alles klargeworden. Und dabei hat er mir mit einem ganz besonderen Genuß in die Augen gesehen, und unserer Mama hat er es sicherlich ebenfalls gesagt, nur weil es ihm Vergnügen macht, ihr das Herz zu zerreißen. Und sage mir um alles in der Welt, warum stirbt er nicht? Er hat sich doch verpflichtet, in drei Wochen zu sterben, und nun hat er hier noch angefangen, dick zu werden! Er hört auf zu husten; gestern abend hat er selbst gesagt, er habe seit zwei Tagen kein Blut mehr gehustet.“

„Jag ihn weg!“

„Ich hasse ihn nicht, ich verachte ihn“, erwiderte Ganja stolz. „Nun ja, ja, ich gebe zu, daß ich ihn auch hasse!“ rief er dann plötzlich in maßloser Wut. „Und das werde ich ihm ins Gesicht sagen, wenn er auf seinem Sterbebett in den letzten Zügen liegen wird! Wenn du seine Beichte gelesen hättest — o Gott, was für eine naive Frechheit! Das ist ja der Leutnant Pirogow, das ist Nosdrjow in einer Tragödie, und vor allen Dingen ein unreifer Bube! Oh, mit welchem Genuß hätte ich ihn damals durchgeprügelt, namentlich um ihn in Erstaunen zu versetzen! Jetzt rächt er sich an allen dafür, daß ihm sein Selbstmord damals nicht gelungen ist … Aber was ist das? Das ist ja schon wieder Spektakel! Ja, was hat denn das zu bedeuten? Ich kann das schließlich doch nicht länger dulden. Ptizyn!“ rief er dem ins Zimmer tretenden Ptizyn zu. „Was ist denn das? Wie weit wird denn dieser Unfug bei uns noch gehen? Das … das …“

Aber der Lärm kam schnell näher; die Tür wurde aufgerissen, und der alte Iwolgin, vor Zorn dunkelrot und zitternd, stürzte ganz außer sich ebenfalls auf Ptizyn los. Dem Alten folgten Nina Alexandrowna, Kolja und hinter allen Ippolit.


  1. Eine Person in Gogols Lustspiel „Die Heirat“. (A.d.Ü.)
  2. Du hast es gewollt, George Dandin! (Geflügeltes Wort aus Molières Komödie „George Dandin“.)
  3. In der „Arabeske“: „Der Newski-Prospekt“. (A.d.Ü.)