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4. Shutschka

Kolja lehnte sich mit würdevoller Miene an einen Zaun und wartete auf Aljoscha. Er hatte schon seit längerer Zeit gewünscht, mit ihm zusammenzukommen. Von den anderen hatte er viel über ihn gehört, sich jedoch bisher immer geringschätzig und gleichgültig gegeben, wenn die Rede auf Aljoscha kam; ja, er hatte ihn sogar oft »kritisiert«, sobald von ihm berichtet wurde. Aber im stillen trug er ein großes Verlangen, seine Bekanntschaft zu machen: In allen Erzählungen über Aljoscha war etwas gewesen, was ihn sympathisch berührt und angezogen hatte. So war denn der jetzige Augenblick für ihn von großer Bedeutung. Vor allem durfte er sich nicht blamieren, sondern mußte seine geistige Selbständigkeit an den Tag legen. ‚Sonst sagt er sich, daß ich erst dreizehn Jahre alt bin, und behandelt mich als kleinen Jungen wie die anderen. Was hat er an diesen kleinen Jungen? Danach will ich ihn fragen, wenn ich mit ihm in Kontakt treten sollte. Unangenehm ist nur, daß ich so klein gewachsen bin. Tusikow ist jünger als ich, aber einen halben Kopf größer. Dafür habe ich ein kluges Gesicht. Ich bin nicht hübsch, ich weiß, daß ich ein häßliches Gesicht habe, aber das Gesicht ist klug. Ich darf mich bloß nicht zu sehr aufknöpfen, sonst kommen gleich Umarmungen, und er könnte denken … Pfui Teufel, das wäre ja schrecklich, wenn er so etwas denkt …‘

So regte sich Kolja auf, während er sich nach Kräften bemühte, eine recht selbstbewußte Miene zu machen. Am meisten ärgerte ihn seine kleine Statur, weniger sein »häßliches« Gesicht als vielmehr seine Größe. Zu Hause hatte er schon im vorigen Jahr in einer Ecke an der Wand einen Bleistiftstrich gemacht, der seine Größe angab, und seitdem war er alle zwei Monate in großer Erregung herangetreten, um wieder zu messen, wieviel er gewachsen war. Doch leider wuchs er nur sehr wenig, und das brachte ihn manchmal geradezu zur Verzweiflung. Und sein Gesicht war überhaupt nicht »häßlich«, sondern ziemlich hübsch, weiß, etwas blaß, sommersprossig. Die kleinen, aber lebhaften grauen Augen blickten keck in die Welt und spiegelten oft klar und leuchtend seine innersten Gefühle. Seine Backenknochen waren etwas breit, die Lippen klein, nicht dick, aber sehr rot, die Nase klein und erheblich nach oben gebogen. »Die reinste Stupsnase, die reinste Stupsnase!« murmelte Kolja vor sich hin, wenn er in den Spiegel sah, und ging immer mit einem Gefühl der Entrüstung vom Spiegel weg. ‚Ist denn mein Gesicht auch wirklich klug?‘ dachte er manchmal sogar zweifelnd. Man braucht jedoch nicht zu glauben, daß die Sorge um sein Gesicht und um seine Größe ihn ganz ausgefüllt hätte. Nein, so peinlich auch die Augenblicke vor dem Spiegel waren, er vergaß sie schnell wieder, und dann sogar für lange Zeit, da er sich ganz »den Ideen und dem wirklichen Leben« hingab, wie er selbst seine Tätigkeit charakterisierte.

Aljoscha erschien bald und ging rasch auf Kolja zu, der schon aus einiger Entfernung sah, daß Aljoscha ein freudiges Gesicht machte. ‚Freut er sich wirklich so über mein Kommen?‘ dachte Kolja froh. Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, daß sich Aljoscha seit der Zeit, da wir ihn verließen, sehr verändert hatte. Er hatte die Kutte abgelegt und trug jetzt einen gutgearbeiteten Rock, einen weichen, runden Hut und kurzgeschnittenes Haar. Alles dies stand ihm sehr gut, und er sah jetzt geradezu hübsch aus. Sein freundliches Gesicht hatte immer einen heiteren Ausdruck; es war eine stille, ruhige Heiterkeit. Zu Koljas Erstaunen kam Aljoscha zu ihm heraus, wie er im Zimmer gesessen hatte, ohne Überzieher; er hatte sich offensichtlich beeilt. Er reichte Kolja ohne Umstände die Hand.

»Da sind Sie ja endlich, wir haben Sie alle schon sehnsüchtig erwartet.«

»Mein Ausbleiben hatte seine Gründe, die Sie gleich erfahren werden. Jedenfalls freue ich mich, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe schon längst auf eine Gelegenheit gewartet und viel von ihnen gehört«, murmelte Kolja etwas mühsam.

»Wir hätten uns ja ohnedies kennengelernt. Ich habe auch viel von ihnen gehört. Aber hierher hätten Sie viel früher kommen sollen.«

»Sagen Sie, wie steht es hier?«

»Iljuscha geht es sehr schlecht, er wird bestimmt sterben.«

»Was sagen Sie! Da müssen Sie doch zugeben, Karamasow, daß dir ärztliche Wissenschaft ein Humbug ist!« rief Kolja erregt.

»Iljuscha hat Sie oft, sehr oft erwähnt, wissen Sie, sogar im Schlaf, beim Phantasieren. Offenbar hat er Sie früher sehr, sehr gemocht … Vor dieser Geschichte mit dem Messer. Aber da ist auch noch ein anderer Grund … Sagen Sie, ist das ihr Hund?«

»Ja, er heißt Pereswon.«

»Nicht Shutschka?« Aljoscha sah Kolja bedauernd an. »Der ist wohl ganz und gar verschwunden?«

»Ich weiß, daß Sie alle gern Shutschka wiederhaben möchten, ich habe alles gehört«, erwiderte Kolja mit rätselhaftem Lächeln.

»Hören Sie, Karamasow, ich werde ihnen die ganze Sache auseinandersetzen. Ich bin hauptsächlich zu diesem Zweck gekommen und habe Sie deswegen herausrufen lassen, um ihnen die ganze Geschichte zu erklären, bevor wir hineingehen«, begann er lebhaft. »Sehen Sie, Karamasow, im Frühjahr trat Iljuscha in die Vorbereitungsklasse ein. Na, man weiß ja, wie unsere Vorbereitungsklasse beschaffen ist — da sitzen kleine Jungen drin, Kindervolk. Sie fingen sofort an, Iljuscha zu necken. Ich sitze zwei Klassen höher und erlebte das alles nur so aus der Ferne mit, wie etwas, das mich nichts anging. Ich sah, er war ein kleiner, schwächlicher Junge; aber er ließ sich nichts gefallen und prügelte sich sogar mit ihnen, er hatte seinen Stolz, die Augen funkelten ihm nur so. Ich liebe solche Charaktere. Sie trieben es immer schlimmer. Der Hauptgrund war, er trug damals so schlechte Sachen, seine Hosen waren zu klein und die Stiefel zerrissen. Deswegen hänselten sie ihn, es war geradezu entwürdigend. Nein, so etwas kann ich nicht leiden! Ich griff also ein und verabreichte ihnen das Nötige. Ich verprügele sie, und sie vergöttern mich trotzdem, wissen Sie das, Karamasow?« prahlte Kolja mitteilsam. »Und ich mag Kindervolk eigentlich gern leiden. Bei mir zu Hause habe ich jetzt auch zwei solche Knirpse auf dem Hals, die haben mich sogar heute aufgehalten … Sie hörten also endlich auf, Iljuscha zu schlagen, und ich nahm ihn unter meinen Schutz. Ich sah, daß er stolz war, ich kann ihnen sagen: wie stolz! Schließlich aber unterwarf er sich mir sklavisch, erfüllte alle meine Befehle, gehorchte mir, als ob ich sein Gott wäre, und bemühte sich, mir alles nachzutun. In den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden kam er immer sofort zu mir, und wir gingen dann zusammen. Ebenso sonntags. Bei uns auf dem Gymnasium spotten sie, wenn ein älterer Schüler so mit einem jüngeren verkehrt, aber das sind veraltete Anschauungen. Ich will es eben so — und damit basta, nicht wahr? Ich belehrte und bildete ihn — sagen Sie selbst, warum soll ich ihn nicht bilden, wenn es mir gefällt? Sie selber, Karamasow, sind ja auch mit diesen Knirpsen in Kontakt getreten, offenbar weil auch Sie auf die junge Generation einwirken, sie bilden und ihr nutzen möchten. Und ich muß gestehen, gerade dieser Zug ihres Charakters, von dem ich erfahren habe, interessiert mich am allermeisten. Zur Sache: ich bemerkte, daß der Junge empfindsam und sentimental wurde — doch ich bin ein Feind aller kalbrigen Zärtlichkeiten, wissen Sie, schon von meiner Geburt an. Und dann diese Widersprüche! Er war stolz und mir trotzdem sklavisch ergeben. Er war mir sklavisch ergeben, und trotzdem funkelten manchmal plötzlich seine Augen, und er wollte mir nicht zustimmen und stritt hartnäckig. Wenn ich ihm manchmal irgendwelche Ideen auseinandersetzte, so sah ich, daß er nicht eigentlich die Ideen bekämpfte, sondern sich geradezu gegen mich persönlich auflehnte, weil ich auf seine Zärtlichkeiten nur kühl antwortete. Um ihn nun zu erziehen, benahm ich mich um so kühler, je zärtlicher er wurde. Ich tat das absichtlich, nach meiner Überzeugung war das richtig. Ich wollte seinen Charakter bilden und festigen, einen Menschen aus ihm machen … Na, Sie verstehen mich ja auch in Andeutungen. Da bemerkte ich, daß er an einem Tag und auch am folgenden und am dritten ganz verstört war und sich grämte, aber nicht wegen der Zärtlichkeiten, sondern aus irgendeinem anderen, stärkeren Grund. Ich dachte: ‚Na, was für eine Tragödie steckt da wohl dahinter?‘ Ich drang in ihn und erfuhr dann auch die Geschichte. Er war irgendwie mit Smerdjakow, dem Diener ihres verstorbenen Vaters, zusammengekommen, und der hatte dem dummen kleinen Kerl einen dummen Streich beigebracht, das heißt einen bestialischen Streich, einen gemeinen Streich: ein Stück Brot zu nehmen, eine Stecknadel hineinzustecken und diesen Bissen einem Hofhund hinzuwerfen, einem jener Hunde, die vor Hunger alles verschlingen, was ihnen hingeworfen wird, und dann aufzupassen, was daraus wird. Sie fabrizierten also einen solchen Bissen und warfen ihn dem struppigen Shutschka hin, um den jetzt so viel Wesens gemacht wird, einem Hofhund, der auf seinem Hof nicht das geringste zu fressen bekam und den ganzen Tag bellte … Mögen Sie dieses dumme Gebell leiden, Karamasow? Ich kann es nicht ausstehen. Der Hund stürzte sich gierig auf den Bissen, verschlang ihn, winselte, drehte sich ein paarmal um sich selbst und rannte dann davon, er lief und lief und verschwand — so hat es mir Iljuscha selbst geschildert. Er gestand mir die Sache, weinte, umarmte mich und war tief erschüttert. ‚Er lief und winselte, er lief und winselte‘, wiederholte er immer wieder. Dieses Bild hatte einen sehr starken Eindruck auf ihn gemacht! Na, ich sah, daß er Gewissensbisse hatte. Ich nahm die Sache ernst. Hauptsächlich wollte ich ihn auch für das Frühere bestrafen, und daher verstellte ich mich, wie ich gestehen muß, und heuchelte so eine starke Entrüstung, wie ich sie vielleicht gar nicht empfand. ‚Du hast eine unwürdige Handlung begangen!‘ sagte ich. ‚Du bist ein Schuft, ich werde es natürlich nicht weitersagen, aber bis auf weiteres breche ich den Verkehr mit dir ab. Ich werde über die Sache nachdenken und dich durch Smurow wissen lassen, ob ich in Zukunft die Beziehungen zu dir beibehalte oder dich als Schuft für immer links liegenlasse!‘ Das machte einen furchtbaren Eindruck auf ihn. Ich fühlt es gleich damals, daß ich vielleicht zu streng war; zugegeben — doch was sollte ich machen? Mein damaliger Plan verlangte das eben. Am nächsten Tag schickte ich Smurow zu ihm und ließ ihm sagen, daß es zwischen uns ‚gespannt‘ sei — so drücken wir uns nämlich aus, wenn zwei Kameraden den Verkehr miteinander abbrechen. Meine geheime Absicht war, ihn nur ein paar Tage lang in dieser peinlichen Lage zu lassen und ihm wieder die Hand zu reichen, wenn ich seine Reue sah. Das war mein fester Vorsatz. Aber was meinen Sie: Als er diese Botschaft vernommen hatte, begannen seine Augen auf einmal zu funkeln: ‚Bestell Krassotkin von mir‘, rief er, ‚daß ich jetzt allen Hunden Bissen mit Stecknadeln hinwerfen werde, allen!‘ Aha, dachte ich, er ist eigensinnig geworden, den Eigensinn müssen wir ihm austreiben! Und ich fing an, ihm meine vollständige Verachtung zu zeigen; bei jeder Begegnung wandte ich mich von ihm ab oder lächelte ironisch. Und da passierte auf einmal die Sache mit seinem Vater, Sie erinnern sich, die Geschichte mit dem Bastwisch. Sie können sich denken, daß er schon vorher furchtbar nervös geworden war. Als die Kameraden sahen, daß ich mich von ihm abgewandt hatte, fielen sie über ihn her und verhöhnten ihn: ‚Bastwisch! Bastwisch!‘ Und dann begannen zwischen ihnen die Kämpfe, die ich schrecklich bedaure, weil sie ihn wohl sehr schmerzhaft verprügelt haben. Einmal stürzte er sich auf dem Hof auf sie, als sie aus den Klassen kamen; ich stand zufällig zehn Schritte entfernt und beobachtete ihn. Und ich schwöre, ich kann mich nicht erinnern, daß ich damals gelacht hätte! Im Gegenteil, er tat mir damals sehr, sehr leid; noch eine Sekunde, und ich wäre hingestürzt, um ihn zu schützen. Doch plötzlich trafen sich unsere Blicke. Was er in meinem zu sehen glaubte, weiß ich nicht — jedenfalls nahm er sein Federmesser heraus, warf sich auf mich und stieß es mir in die Hüfte, hier am rechten Bein. Ich rührte mich nicht; ich bin nämlich manchmal tapfer, Karamasow. Ich sah ihn nur verächtlich an, als wollte ich sagen: Wenn du das zum Dank für meine Freundschaft noch einmal tun willst, stehe ich zu deinen Diensten! Aber er stach nicht zum zweitenmal zu, er konnte es wohl nicht. Er hatte selbst einen Schreck bekommen, warf das Messer hin, fing laut an zu heulen und lief weg. Ich habe selbstverständlich nicht gepetzt und befahl auch allen anderen, darüber zu schweigen, damit es den Lehrern nicht zu Ohren kam; sogar meiner Mutter habe ich es erst gesagt, als alles wieder geheilt war. Außerdem war die Wunde unbedeutend, eine Schramme. Noch am selben Tag hat er dann, wie ich hörte, mit anderen Schülern ein Steinbombardement gehabt und Sie in den Finger gebissen — aber Sie können sich ja selber denken, in welchem Gemütszustand er sich befand! Na, was ist da zu machen? Ich habe mich dumm benommen! Als er krank wurde, ging ich nicht zu ihm, um ihm zu verzeihen, ich wollte sagen, um mich mit ihm zu versöhnen — jetzt bereue ich das. Und inzwischen hatte ich auch schon ganz bestimmte Absichten. So, das ist also die ganze Geschichte … Ich glaube, ich habe mich wirklich dumm benommen!«

»Wie schade«, rief Aljoscha erregt, »daß ich von ihren Beziehungen zu ihm nicht schon früher gewußt habe! Sonst wäre ich schon längst von selbst zu ihnen gekommen und hätte Sie gebeten, mit mir zusammen zu ihm zu gehen. Ob Sie es glauben oder nicht: in seiner Krankheit, im Fieber, hat er von ihnen phantasiert! Ich wußte nicht, wieviel Sie ihm bedeuten! Und Sie haben diesen Shutschka wirklich nicht gefunden? Sein Vater und alle Kameraden haben in der ganzen Stadt nach ihm gesucht. Wissen Sie, daß er auf seinem Krankenbett in meiner Gegenwart schon dreimal unter Tränen gesagt hat: ‚Meine Krankheit kommt daher, Papa, daß ich damals Shutschka getötet habe! Dafür hat Gott mich gestraft.‘ Von diesem Gedanken läßt er sich einfach nicht abbringen! Wenn man jetzt nur diesen Shutschka auftreiben und ihm zeigen könnte, daß er nicht tot ist — so würde er, ich glaube, er würde vor Freude wie neubelebt sein! Wir haben alle auf Sie gehofft!«

»Sagen Sie, warum haben Sie eigentlich gehofft, daß ich Shutschka finden würde? Ich meine, daß gerade ich ihn finden würde?« fragte Kolja neugierig. »Warum haben Sie gerade auf mich gerechnet und nicht auf einen anderen?«

»Es gab ein Gerücht, daß Sie ihn suchen und, sollten Sie ihn finden, zu ihm bringen. Smurow hat so etwas gesagt. Wir geben uns alle Mühe, den Kranken zu überzeugen, daß Shutschka lebt und irgendwo gesehen worden ist. Die Jungen hatten schon ein lebendiges Häschen beschafft; er aber lächelte nur matt und bat, sie möchten es wieder aufs Feld bringen. Das haben wir denn auch getan. Eben ist sein Vater nach Hause gekommen und hat ihm einen jungen Bullenbeißer mitgebracht, den er ebenfalls irgendwo beschafft hat. Er dachte, ihn damit zu trösten, aber sein seelischer Zustand scheint dadurch nur noch schlimmer geworden zu sein.«

»Noch eins, Karamasow. Was für ein Mensch ist sein Vater? Ich kenne ihn, aber was ist er nach ihrem Urteil: ein Possenreißer, ein Hanswurst?«

»O nein. Es gibt tiefempfindende Menschen, die jedoch vom Schicksal niedergedrückt worden sind. Ihre Possenreißerei ist eine Art boshafter Ironie denen gegenüber, denen sie aus einer langjährigen, erniedrigenden Furcht die Wahrheit nicht ins Gesicht zu sagen wagen. Glauben Sie, Krassotkin, so eine Possenreißerei ist manchmal höchst tragisch. Für ihn konzentrieren sich jetzt alle Interessen, die er auf der Welt hat, in der Person Iljuschas, und wenn Iljuscha stirbt, wird er entweder den Verstand verlieren oder sich das Leben nehmen. Davon bin ich beinahe überzeugt, wenn ich ihn mir jetzt ansehe!«

»Ich verstehe Sie, Karamasow. Ich sehe, Sie sind ein Menschenkenner«, sagte Kolja nicht ohne Ergriffenheit.

»Als ich Sie eben mit dem Hund sah, dachte ich, Sie bringen diesen Shutschka.

»Warten Sie nur, Karamasow, vielleicht werden wir ihn noch finden. Das hier ist Pereswon. Ich werde ihn jetzt ins Zimmer lassen und Iljuscha durch ihn vielleicht mehr erfreuen als durch den kleinen Bullenbeißer. Warten Sie, Karamasow, Sie sollen gleich noch etwas erfahren … Ach, mein Gott, wie kann ich Sie nur so aufhalten!« rief Kolja plötzlich eifrig. »Sie sind ja nur im Rock bei dieser Kälte, und ich halte Sie auf! Da sehen Sie, was ich für ein Egoist bin! Oh, wir alle sind Egoisten, Karamasow!«

»Beunruhigen Sie sich nicht. Allerdings ist es kalt, doch ich erkälte mich nicht so leicht. Aber wollen wir nicht hineingehen. Übrigens, wie ist ihr Name? Ich weiß, daß Sie Kolja heißen, aber wie weiter?«

»Nikolai lwanowitsch Krassotkin oder wie es offiziell auf dem Gymnasium lautet: Schüler Krassotkin«, erwiderte Kolja lachend, und dann fügte er plötzlich hinzu: »Ich hasse den Namen Nikolai.«

»Warum denn?«

»Er ist so trivial, so allgemein üblich,«

»Sie sind dreizehn Jahre alt?« fragte Aljoscha.

»Das heißt vierzehn, in zwei Wochen werde ich vierzehn, also sehr bald. Ich will ihnen gleich von vornherein eine Schwäche gestehen, Karamasow — das soll der Anfang unserer Bekanntschaft sein, damit Sie gleich mit einemmal mein ganzes Wesen kennenlernen. Ich kann es nicht leiden, wenn mich jemand nach meinem Alter fragt; und der Ausdruck ‚nicht leiden können‘ ist dabei eigentlich noch viel zu schwach … Und ferner … Da wird zum Beispiel über mich die Verleumdung verbreitet, ich hätte in der vorigen Woche mit den Vorschülern ‚Räuber‘ gespielt. Daß ich gespielt habe, ist eine Tatsache; doch daß ich um meinetwillen gespielt hätte, um mir selbst dadurch ein Vergnügen zu bereiten, ist eine Verleumdung. Ich habe Grund zu glauben, daß dies auch ihnen zu Ohren gekommen ist. Ich habe aber nicht um meinetwillen gespielt, sondern um der Kinder willen, weil sie ohne meine Hilfe keine Einfälle hatten. Bei uns werden immer solche albernen Gerüchte ausgesprengt. Unsere Stadt ist ein richtiges Klatschnest, glauben Sie mir.«

»Und selbst wenn Sie zu ihrem eigenen Vergnügen gespielt hätten — was wäre denn dabei?«

»Na, zu meinem eigenen Vergnügen … Sie werden doch nicht Pferdchen spielen wollen?«

»Betrachten Sie doch die Sache einmal so«, erwiderte Aljoscha lächelnd. »Die Erwachsenen gehen ins Theater. Im Theater werden ebenfalls die Abenteuer aller möglichen Helden dargestellt, und manchmal kommen dabei auch Räuber und Krieg vor, ist das in seiner Art nicht dasselbe? Und wenn die jungen Leute in den Unterrichtspausen Krieg oder Räuber spielen, dann ist das auch in der Entwicklung begriffene Kunst, ein erwachendes Kunstbedürfnis. Und diese Spiele sind manchmal sogar besser arrangiert als die Vorstellung im Theater. Der Unterschied besteht nur darin, daß man ins Theater geht, um Schauspieler zu sehen, während hier die jungen Leute selbst die Schauspieler sind. Aber das macht die Sache erst recht natürlich.«

»Denken Sie so darüber? Ist das ihre Überzeugung?« sagte Kolja und sah ihn unverwandt an. »Wissen Sie, Sie haben da einen sehr interessanten Gedanken ausgesprochen. Wenn ich jetzt nach Hause komme, werde ich ihn durchdenken. Ich muß gestehen, ich hatte auch erwartet, daß ich von ihnen manches lernen kann … Ich bin gekommen, um von ihnen zu lernen, Karamasow«, schloß Kolja aufrichtig und offenherzig.

»Und ich von ihnen«, erwiderte Aljoscha lächelnd und drückte ihm die Hand.

Kolja war mit Aljoscha höchst zufrieden. Es gefiel ihm sehr, daß dieser mit ihm auf gleichem Fuß verkehrte und mit ihm wie mit einem Erwachsenen sprach.

»Ich werde ihnen gleich ein Kunststück zeigen, Karamasow! Auch eine Theatervorstellung«, sagte er nervös lachend. »Zu diesem Zweck bin ich hergekommen.«

»Wir wollen zuerst zu den Wirtsleuten gehen, dort haben ihre Kameraden ihre Mäntel gelassen, weil es in der anderen Stube eng und heiß ist.«

»Oh, ich bin nur für einen Augenblick gekommen, ich werde den Mantel anbehalten und so dasitzen. Pereswon wird hier auf dem Flur bleiben und sterben. Ici, Pereswon, leg dich und stirb! — Sehen Sie, nun ist er gestorben … Ich will erst einmal hineingehen und mir die Situation ansehen, und dann, wenn der richtige Moment da ist, werde ich pfeifen, und Sie werden sehen, Pereswon wird sofort wie toll hereingestürmt kommen. Nur darf Smurow nicht vergessen, rechtzeitig die Tür aufzumachen. Nun, ich werde schon alles arrangieren, und Sie werden ein famoses Kunststück sehen …«