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7. Der Frühere und Unbestreitbare

Mitja trat mit seinen raschen, langen Schritten an den Tisch. »Meine Herren«, begann er laut, fast schreiend, aber stockend. »Ich … ich will nichts! Keine Angst!« rief er. »Ich will ja nichts, nichts.« Er wandte sich plötzlich an Gruschenka, die sich aus ihrem Lehnstuhl zu Kalganow hinübergebeugt hatte und sich fest an dessen Hand klammerte. »Ich … Ich bin auch hergekommen. Ich bleibe bis morgen früh. Meine Herren, darf ein Durchreisender … mit Ihnen bis zum Morgen zusammen sein? Nur bis zum Morgen, zum letztenmal, in diesem Zimmer hier?«

Bei den letzten Worten wandte er sich an den korpulenten Herrn auf dem Sofa, der Pfeife rauchte. Dieser nahm würdevoll die Pfeife aus dem Mund und sagte streng: »Panie, wir sind hier eine Privatgesellschaft. Es sind noch andere Zimmer da.«

»Ach, Sie sind es, Dmitri Fjodorowitsch! Wozu fragen Sie erst?« rief auf einmal Kalganow. »Setzen Sie sich zu uns! Guten Abend!«

»Guten Abend, mein Teuerster … Mein Wertester! Ich habe Sie immer geschätzt …«, rief Mitja erfreut und eifrig und streckte ihm sofort über den Tisch die Hand hin.

»Au, wie fest Sie zugedrückt haben! Sie haben mir ja fast die Finger zerbrochen!« rief Kalganow lachend.

»So drückt er einem immer die Hand, das macht er immer so!« sagte Gruschenka mit einem allerdings noch schüchternen Lächeln, sie schien Mitjas Miene entnommen zu haben, daß er keinen Streit wollte, und betrachtete ihn nun mit starker Neugier und immer noch mit einer gewissen Unruhe. Er hatte etwas an sich, was sie überraschte, und überhaupt hatte sie nicht erwartet, daß er jetzt hereinkommen und so reden würde.

»Guten Abend!« sagte von links auch der Gutsbesitzer Maximow in süßlichem Ton.

Mitja stürzte auch zu ihm hin. »Guten Abend! Sind Sie auch hier? Wie freue ich mich, daß auch Sie hier sind! Meine Herren, meine Herren, ich …« Er wandte sich von neuem an den Herrn mit der Pfeife, den er hier offenbar für die Hauptperson hielt. »Ich bin hergeeilt … Ich wollte meinen letzten Tag und meine letzte Stunde in diesem Zimmer verleben. In diesem Zimmer, in dem ich früher einmal meine Königin angebetet habe! Verzeihen Sie, Panie« rief er außer sich. »Ich bin hierher geeilt und habe mir geschworen … Oh, seien Sie unbesorgt, das ist meine letzte Nacht! Lassen Sie uns zur Feier des Friedensschlusses trinken, Panie! Man wird gleich Wein bringen … Ich habe das hier mitgebracht.« Er zog sein Päckchen Banknoten aus der Tasche. »Erlauben Sie, Panie! Ich möchte Musik haben, Fröhlichkeit und Lärm … Alles wie voriges Mal … Aber der Wurm, der unnütze Wurm wird über die Erde kriechen und nicht mehr sein! In meiner letzten Nacht will ich mich an den Tag meiner Freude erinnern!«

Er konnte kaum noch atmen; er wollte vieles, vieles sagen, doch nur seltsame Ausrufe kamen aus seinem Mund. Der Pan sah regungslos ihn und das Päckchen Banknoten und dann Gruschenka an und war offenbar ratlos vor Verwunderung.

»Wenn meine Krolowa erlaubt …«, begann er.

»Ach was, Krolowa! Das soll wohl Königin heißen, nicht wahr?« unterbrach ihn Gruschenka. »Ihr kommt mir komisch vor, wie ihr alle sprecht. Setz dich hin, Mitja, was redest du da? Bitte, erschreck uns nicht! Du wirst uns doch nicht erschrecken, wie? Wenn du das nicht vorhast, freue ich mich über dein Kommen …«

»Ich, ich euch erschrecken?« rief Mitja und warf beide Arme in die Höhe. »Oh, geht vorbei, geht vorüber, ich werde euch nicht stören!« Und unerwartet für alle — und sicherlich auch für sich selbst — warf er sich auf einen Stuhl und brach in Tränen aus, wobei er den Kopf zur gegenüberliegenden Wand drehte und die Rückenlehne des Stuhls mit seinen Armen fest umschlang, als wollte er ihn herzlich umarmen.

»Na, so etwas, so was! Was bist du für ein Mensch!« rief Gruschenka vorwurfsvoll. »Genauso ist er einmal zu mir gekommen. Er fing an zu reden, und ich verstand kein Wort davon. Und einmal hat er genauso losgeweint, jetzt ist es das zweitemal. Schämen solltest du dich! Warum weinst du denn? Und wenn es noch einen Grund dafür gäbe!« fügte sie plötzlich rätselhaft hinzu und legte in diese Worte einen besonderen, gereizten Nachdruck.

»Ich … Ich will nicht weinen … Na, laßt es euch wohl ergehen!« Bei diesen Worten drehte er sich jäh auf dem Stuhl herum und lachte plötzlich los, aber nicht wie sonst hölzern und abgehackt, es war ein unhörbares, langes, nervöses Lachen, das seinen ganzen Körper erschütterte.

»Jetzt wieder das! So sei doch vergnügt, sei doch vergnügt!« redete Gruschenka ihm zu. »Ich freue mich sehr, daß du gekommen bist, sehr freue ich mich, Mitja, hörst du das? Ich will, daß er bei uns sitzt«, wandte sie sich gebieterisch an alle, obgleich ihre Worte offenbar nur dem Mann auf dem Sofa galten. »Ich will es, ich will es! Und wenn er weggeht, gehe ich auch weg! So steht die Sache!« fügte sie hinzu, und ihre Augen funkelten.

»Was meine Königin befiehlt, ist Gesetz!« sagte der Pan und küßte ihr galant die Hand. »Ich bitte den Herrn, sich unserer Gesellschaft anzuschließen!« wandte er sich liebenswürdig an Mitja.

Mitja sprang wieder auf, und es hatte durchaus den Anschein, als wollte er noch eine exaltierte Rede halten; doch es kam anders.

»Trinken wir, Panie!« rief er kurz statt einer Rede. Alle lachten.

»O Gott, und ich dachte, er will wieder reden!« rief Gruschenka nervös. »Hörst du, Mitja«, fügte sie nachdrücklich hinzu, »spring nicht mehr hoch! Aber daß du Champagner mitgebracht hast, ist prächtig. Ich selbst will welchen trinken! Likör kann ich nicht leiden. Das Allerbeste aber ist, daß du selber gekommen bist, sonst ist es hier zu langweilig … Du bist wohl gekommen, um wieder flott zu leben? Aber steck doch das Geld in die Tasche! Wo hast du denn so viel her?«

Mitja, der noch immer die zusammengeknüllten Banknoten in der Hand hielt, was bereits alle, besonders die beiden Polen aufmerksam gemacht hatte, schob sie, verlegen errötend, schnell in die Tasche. In diesem Augenblick brachte der Wirt auf einem Präsentierteller eine Flasche Champagner und Gläser. Mitja ergriff die Flasche, war aber so fassungslos, daß er nicht wußte, was er damit tun sollte. Kalganow nahm sie ihm aus der Hand und goß an seiner Statt ein.

»Noch eine Flasche« bring noch eine Flasche!« rief Mitja dem Wirt zu. Obwohl er den Polen vorher so feierlich eingeladen hatte, mit ihm zur Feier des Friedensschlusses zu trinken, vergaß er nun, mit ihm anzustoßen, und trank sein ganzes Glas allein aus, ohne auf jemand zu warten. Sein ganzes Gesicht hatte sich plötzlich verändert. An Stelle des feierlichen, tragischen Ausdrucks zeigte sich jetzt eine kindliche Weichheit. Er schien auf einmal ganz sanft und demütig geworden zu sein. Er blickte alle schüchtern und froh an, oft nervös kichernd, mit der dankbaren Miene eines Hündchens, das etwas begangen hat und nun wieder hereingelassen worden ist und gestreichelt wird. Er schien alles vergessen zu haben und schaute mit einem entzückten kindlichen Lächeln um sich; immer wenn er Gruschenka anblickte, lachte er. Er rückte seinen Stuhl ganz dicht an ihren Lehnsessel. Allmählich sah er auch die beiden Polen genauer an, obgleich er sich noch nicht viele Gedanken über sie machte. Der Herr auf dem Sofa fiel ihm auf durch seine würdevolle Haltung, durch seine polnische Aussprache und besonders durch seine Pfeife. ‚Na, was ist schon dabei? Es ist gar nicht schlecht, daß er Pfeife raucht‘, überlegte Mitja. Auch das etwas aufgedunsene Gesicht dieses etwa vierzigjährigen Herrn mit dem kleinen Näschen, unter dem ein sehr dünner, an den Enden gezwirbelter, frech aussehender gefärbter Schnurrbart saß, erweckte bei Mitja einstweilen keinerlei Bedenken. Selbst die minderwertige, offensichtlich in Sibirien hergestellte Perücke des Polen mit dem an den Schläfen dumm nach vorn gekämmten Haar machte auf Mitja weiter keinen unangenehmen Eindruck. ‚Wenn man eine Perücke trägt, muß es wohl so sein?‘ meditierte er in seiner glückseligen Stimmung. Der andere, der jüngere Pole, der an der Wand saß, und dem allgemeinen Gespräch mit herausfordernden Blicken und schweigender Geringschätzung zuhörte, überraschte Mitja nur durch seinen sehr hohen Wuchs, der in starkem Mißverhältnis zu dem Herrn auf dem Sofa stand. ‚Wenn der aufsteht, muß er baumlang sein!‘ dachte Mitja flüchtig. Auch ging ihm der Gedanke durch den Kopf, daß dieser hochgewachsene Herr wahrscheinlich ein Freund oder Helfershelfer oder eine Art Leibwächter des Herrn auf dem Sofa sein müßte und daß der kleine Herr mit der Pfeife dem hochgewachsenen Herrn gewiß zu befehlen hätte. Aber auch das erschien Mitja in seiner Zufriedenheit gut und tadellos. Im Herzen des kleinen Hündchens war jede Rivalität erstorben. Gruschenka und den rätselhaften Ton mancher ihrer Bemerkungen begriff er noch nicht; er merkte nur — und bei dieser Wahrnehmung erbebte sein Herz —, daß sie zu ihm freundlich war, daß sie ihm »verziehen« hatte und ihn neben sich sitzen ließ. Er war außer sich vor Freude, als er sie aus ihrem Glas Champagner nippen sah. Das Schweigen der Gesellschaft schien ihn jedoch plötzlich zu überraschen, und er ließ seine Augen herumgehen, als ob er etwas erwartete. ‚Warum sitzen wir denn so still? Warum fangen Sie nichts an, meine Herrschaften?‘ schien sein lächelnder Blick zu fragen.

»Der da schwatzt immerzu Unsinn, und wir haben immerzu darüber gelacht«, sagte auf einmal Kalganow und zeigte dabei auf Maximow, als hätte er Mitjas Blick verstanden.

Mitja sah eifrig Kalganow und dann gleich Maximow an. »Er schwatzt Unsinn?« fragte er mit seinem kurzen, hölzernen Lachen, denn er freute sich sofort über irgend etwas. »Haha!«

»Ja, stellen Sie sich vor, er behauptet, unsere gesamte Kavallerie hätte in den zwanziger Jahren Polinnen geheiratet! Das ist doch ein schrecklicher Unsinn, nicht wahr?«

»Polinnen?« fiel Mitja wieder ein, jetzt schon völlig hingerissen.

»Denken Sie sich, ich schleppe ihn schon vier Tage lang mit mir«, fuhr er fort, indem er wie aus Faulheit die Worte ein wenig in die Länge zog, doch kam das ganz natürlich heraus, ohne Geckenhaftigkeit. »Seit Ihr Bruder ihn damals vom Wagen zurückstieß und er ein Ende wegflog, erinnern Sie sich? Dadurch erregte er mein lebhaftes Interesse, und ich nahm ihn mit auf mein Gut. Aber er schwatzt jetzt immer Unsinn, so daß man sich seiner schämen muß. Ich werde ihn wieder zurückbringen …«

Kalganow durchschaute Mitjas Beziehungen zu Gruschenka und erriet auch, wie sie zu dem Polen stand; doch das interessierte ihn nicht sonderlich. Ihn interessierte am meisten Maximow. Er war mit ihm nur zufällig hierhergeraten und war den beiden Polen hier im Gasthaus zum erstenmal in seinem Leben begegnet. Gruschenka kannte er schon von früher und war sogar einmal mit jemand bei ihr gewesen; damals hatte er ihr nicht gefallen. Hier nun sah sie ihn sehr freundlich an, vor Mitjas Ankunft hatte sie ihn sogar geliebkost, aber er war dagegen eigentümlich unempfindlich geblieben. Er war ein junger Mann um die zwanzig, elegant gekleidet, mit einem sehr netten, bleichen Gesichtchen und sehr schönem, dunkelblondem Haar; in dem bleichen Gesichtchen waren ein Paar prachtvolle, hellblaue Augen mit einem klugen, bisweilen sogar tiefen, über sein Alter reifen Ausdruck, obwohl der junge Mann dann wieder wie ein Kind redete und schaute und sich dessen gar nicht schämte, sondern es sogar selbst eingestand. Überhaupt war er sehr eigenartig, ja launenhaft, allerdings stets freundlich. Mitunter hatte sein Gesicht einen Anflug von Starrheit und Eigensinn; er sah einen an und hörte wohl auch zu, doch schien er sich stur mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen. Mal benahm er sich lässig, mal regte er sich auf, und das oft aus nichtigem Anlaß.

»Der Pan hat noch keine polnische Dame gesehen und redet Dinge, die unmöglich sind«, bemerkte der Herr mit der Pfeife über Maximow.

Er konnte ganz gut russisch sprechen, verunstaltete aber die russischen Worte, deren er sich bediente, durch polnische Aussprache.

»Aber ich bin ja mit einer Polin verheiratet gewesen«, gab Maximow kichernd zur Antwort.

»Na, haben Sie etwa bei der Kavallerie gedient? Sie erzählten das doch von der Kavallerie. Waren Sie etwa Kavallerist?« mischte sich sofort Kalganow ein.

»Ja, freilich, ist er denn Kavallerist gewesen? Haha!« rief Mitja, der eifrig zugehört hatte und seinen fragenden Blick zu jedem, der sprach, hatte wandern lassen, als erwartete er von jedem Gott weiß was zu hören.

»Nein, sehen Sie«, wandte sich Maximow an ihn. »Ich rede davon, daß diese polnischen Fräulein … Hübsch sind sie ja, wenn sie mit unseren Ulanen eine Mazurka zu Ende getanzt haben … Wenn so eine mit einem unserer Ulanen eine Mazurka zu Ende getanzt hat, hüpft sie ihm auch gleich auf den Schoß wie ein Kätzchen, wie ein weißes Kätzchen … Und der Herr Vater und die Frau Mutter sehen es und erlauben es … Und der Ulan geht dann am nächsten Tag hin und macht ihr einen Heiratsantrag … Jawohl, und macht ihr einen Heiratsantrag, hihi!« kicherte Maximow.

»Der Herr ist ein Strolch!« brummte auf einmal der lange Herr auf dem Stuhl und schlug die Beine übereinander. Mitja sah ihn an; seine Aufmerksamkeit erregten jedoch nur ein Paar gewaltige Schmierstiefel mit dicken, schmutzigen Sohlen. Überhaupt waren die Anzüge der beiden Polen ziemlich unsauber.

»Was heißt hier Strolch? Was hat er hier zu schimpfen?« rief Gruschenka ärgerlich.

»Pani Agrippina, der Herr hat in Polen Bauernmädchen gesehen, aber keine vornehmen Damen«, bemerkte der Herr mit der Pfeife, zu Gruschenka gewandt.

»Wie kannst du dich um so was überhaupt kümmern?« warf der lange Herr auf dem Stuhl kurz und verächtlich ein.

»Auch das noch! So lassen Sie ihn doch reden! Wenn Leute reden wollen, wozu soll man sie stören? Mit solchen Leuten zusammen sein macht Spaß!« bemerkte Gruschenka in scharfem Ton.

»Ich störe niemand, Pani«, sagte der Herr mit der Perücke mit einem langen Blick auf Gruschenka bedeutsam; dann schwieg er würdevoll und begann wieder an seiner Pfeife zu ziehen.

»Aber nein, nein, was der polnische Herr da eben gesagt hat, ist ganz richtig«, ereiferte sich nun wieder Kalganow, als ob es sich um wer weiß wie wichtige Dinge gehandelt hätte. »Er ist ja gar nicht in Polen gewesen, wie kann er da über Polen reden? Sie haben doch gar nicht in Polen geheiratet, wie?«

»Nein, im Gouvernement Smolensk. Nur hatte sie ein Ulan schon vorher aus Polen, aus dem eigentlichen Polen, mitgebracht, das heißt meine künftige Gattin und ihre Frau Mutter und ihre Tante und noch eine Verwandte mit einem erwachsenen Sohn … Und der trat sie mir ab. Es war ein Leutnant, ein sehr hübscher junger Mann. Anfangs hatte er sie selbst heiraten wollen, aber er tat es dann doch nicht, weil es sich herausstellte, daß sie lahm war …«

»Da haben Sie also eine Lahme geheiratet?« rief Kalganow.

»Allerdings. Die beiden hatten mich damals ein bißchen hinters Licht geführt. Ich dachte, sie hätte so einen hüpfenden Gang … Sie hüpfte immer, und ich dachte, aus Munterkeit …«

»Aus Freude darüber, daß sie Ihre Frau werden sollte?« rief Kalganow mit kindlich heller Stimme.

»Jawohl, aus Freude. Aber es ergab sich, daß das eine ganz andere Ursache hatte. Später, gleich am Abend nach der Trauung, gestand sie es mir und bat mich sehr gefühlvoll um Verzeihung. Sie sagte, sie sei als Kind einmal über eine Pfütze gesprungen und habe sich dabei den Fuß beschädigt, hihi!«

Kalganow brach in ein lautes echtes Kinderlachen aus und fiel fast auf das Sofa. Auch Gruschenka lachte. Mitja befand sich auf dem Gipfel der Glückseligkeit.

»Wissen Sie, wissen Sie, jetzt sagt er aber die Wahrheit, jetzt lügt er nicht«, rief Kalganow, zu Mitja gewandt. »Wissen Sie, er ist zweimal verheiratet gewesen; was er da erzählt hat, bezieht sich auf seine erste Frau. Seine zweite Frau ist ihm nämlich davongelaufen und lebt heute noch, wissen Sie das?«

»Na, so etwas!« rief Mitja und sah mit größtem Erstaunen zu Maximow.

»Ja, sie ist mir davongelaufen, diese Unannehmlichkeit ist mir passiert«, bestätigte Maximow bescheiden. »Mit so einem Monsieur. Aber die Hauptsache war, sie hatte gleich von vornherein mein ganzes Gut auf ihren Namen umschreiben lassen. ‚Du bist ein gebildeter Mann‘, hatte sie zu mir gesagt, ‚du wirst auch so dein Brot finden können.‘ Dadurch brachte sie mich in die Tinte. Ein verehrter Bischof hat einmal zu mir gesagt: ‚Deine erste Frau war lahm und die zweite gar zu leichtfüßig.‘ Hihi!«

»Hören Sie nur, hören Sie nur!« rief Kalganow richtiggehend begeistert. »Wenn er auch schwindelt, und er schwindelt oft, so tut er es doch einzig und allein, um allen ein Vergnügen zu bereiten, das ist nicht gemein, das ist nicht gemein! Wissen Sie, manchmal mag ich ihn recht gern. Er ist gemein; aber er ist es von Natur, nicht? Wie denken Sie darüber? Ein anderer handelt gemein zu irgendwelchem Zweck, um dadurch einen Vorteil zu erlangen, aber er tut es ganz einfach, weil das seine Natur ist … Stellen Sie sich zum Beispiel vor, gestern hat er sich mit mir auf dem ganzen Weg gestritten und behauptet, Gogol habe in den ‚Toten Seelen‘ etwas über ihn geschrieben. Sie erinnern sich wohl, da kommt ein Gutsbesitzer Maximow vor, den Nosdrjow auspeitschen ließ, wofür er auch gerichtlich belangt wurde, ‚weil er in betrunkenem Zustand dem Gutsbesitzer Maximow eine tätliche Beleidigung durch Auspeitschen mit Ruten zugefügt hatte‘ — na. Sie werden sich wohl an die Stelle erinnern! Und stellen Sie sich vor, nun behauptet er, das sei er gewesen, er sei ausgepeitscht worden! Na, ist das überhaupt möglich? Tschitschikow hat seine Reise spätestens in den zwanziger Jahren gemacht, so daß die Zeitrechnung absolut nicht stimmt. Unser Maximow konnte damals nicht ausgepeitscht werden. Das war doch nicht möglich, nicht wahr?«

Es war schwer zu sagen, warum Kalganow sich so ereiferte, aber das war bei ihm echt. Auch Mitja, interessierte sich sehr für diese Frage.

»Und wenn er nun doch einmal ausgepeitscht worden ist!« rief er lachend.

»Nicht eigentlich ausgepeitscht, bloß so«, warf Maximow ein.

»Was heißt das, ‚bloß so?‘ Sind Sie ausgepeitscht worden oder nicht?«

»Wie spät?« wandte sich der Herr mit der Pfeife mit gelangweilter Miene auf polnisch an den hochgewachsenen Herrn auf dem Stuhl.

Dieser zuckte mit den Schultern, sie hatten beide keine Uhren.

»Warum soll man sich denn nicht unterhalten? Laßt doch auch andere Leute reden! Wenn ihr euch langweilt, brauchen doch andere Leute noch nicht den Mund zu halten!« empörte sich Gruschenka wieder; sie suchte offenbar absichtlich Streit.

Mitja ging eine derartige Vermutung jetzt zum erstenmal durch den Kopf.

Der Pole antwortete schon mit deutlicher Gereiztheit. »Pani, ich habe keinen Einspruch erhoben, ich habe überhaupt nichts gesagt.«

»Na, dann also gut. Erzähle weiter!« rief Gruschenka Maximow zu. »Warum seid ihr alle so still geworden?«

»Da ist eigentlich nichts weiter zu erzählen, es sind ja alles nur Dummheiten«, nahm Maximow, sich ein wenig zierend, aber mit sichtlichem Vergnügen das Wort. »Aber auch bei Gogol ist das alles nur allegorisch gemeint, wie er denn auch alle Familiennamen geändert hat. Nosdrjow zum Beispiel hieß eigentlich nicht Nosdrjow, sondern Nossow, und Kuwschinnikow — da ist nun schon gar keine Ähnlichkeit mehr, er hieß Schkwornew. Aber Fenardi hieß wirklich Fenardi, nur war er kein Italiener, sondern ein Russe namens Petrow, und Mamsell Fenardi war ein allerliebstes Wesen, und ihre Beinchen im Trikot sahen allerliebst aus, und dazu das kurze, mit Flitter besetzte Röckchen, und da drehte sie sich nun herum, nur nicht vier Stunden lang, sondern bloß vier Minuten … Und bezauberte alle …«

»Und warum bist du ausgepeitscht worden? Warum eigentlich?« rief Kalganow.

»Wegen Piron«, antwortete Maximow.

»Was ist das für ein Piron?« rief Mitja.

»Der bekannte französische Schriftsteller Piron. Wir tranken damals alle Wein in großer Gesellschaft, in einem Restaurant, eben auf dem bewußten Jahrmarkt. Sie forderten mich auf, etwas zu sagen, und da begann ich zuerst Epigramme zu zitieren: ‚Bist du das, Boileau? Was trägst du für einen komischen chapeau?‘ Boileau antwortet, er wolle auf einen Maskenball gehen, das heißt zum Baden, hihi, und das bezogen sie auf sich. Da trug ich so schnell wie möglich ein anderes Epigramm vor, ein bissiges, das jedem Gebildeten bekannt ist:

‚Wenn du als Sappho dich, als Phaon mich verkündest,
bedaur' ich, daß du nicht den Weg zum Meere findest.‘

Sie fühlten sich noch mehr beleidigt und beschimpften mich in unanständiger Weise, und da erzählte ich nun, um meine Situation zu verbessern, zu meinem Unglück eine sehr gebildete Anekdote über Piron. wie er nicht in die Academie Francaise aufgenommen wurde und, um sich zu rächen, für seinen Grabstein folgende Inschrift verfaßte:

Ci-git Piron qui ne fut rien,
pas meme academicien.

Und da haben sie mich ausgepeitscht.« »Aber weswegen denn, weswegen?«

»Wegen meiner Bildung. Gründe, aus denen man jemand auspeitschen kann, gibt es wie Sand am Meer«, schloß Maximow in sanftem, lehrhaftem Ton.

»Genug, das ist alles widerwärtig, ich will das nicht mehr hören! Ich hatte gedacht, es würde etwas Lustiges kommen«, sagte Gruschenka auf einmal heftig.

Mitja fuhr zusammen und hörte sofort auf zu lachen. Der lange Pole erhob sich von seinem Platz, und mit der hochmütigen Miene eines Menschen, der sich in einer niedrigerstehenden Gesellschaft langweilt, fing er an, mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Seht mal an, nun fängt der auch noch an herumzulaufen!« bemerkte Gruschenka verächtlich.

Mitja wurde unruhig; er hatte außerdem wahrgenommen, daß der Herr auf dem Sofa ihn gereizt musterte.

»Panie!« rief Mitja. »Lassen Sie uns trinken, Panie! Auch mit dem anderen Pan möchte ich trinken. Trinken wir, Panowie!« Im Nu hatte er drei Gläser geholt und Champagner eingegossen … »Auf Polen, Panowie! Ich trinke auf Ihr Polen, auf das Polenland!« rief Mitja.

»Das ist mir sehr angenehm, Panie. Trinken wir!« sagte der Herr auf dem Sofa würdevoll und wohlwollend auf polnisch und nahm sein Glas.

»Auch der andere Pan, ich weiß seinen Namen nicht … Hören Sie, Hochedler, nehmen Sie Ihr Glas!« rief Mitja geschäftig.

»Pan Wroblewski«, half der Herr auf dem Sofa ein.

Pan Wroblewski trat mit schaukelndem Gang an den Tisch und ergriff stehend sein Glas.

»Auf Polen, Panowie! Hurra!« rief Mitja und erhob sein Glas.

Alle drei tranken aus. Mitja ergriff die Flasche und goß die drei Gläser wieder voll.

»Jetzt auf Rußland, Panowie! Und wir wollen Brüderschaft trinken!«

»Gieß uns auch ein!« sagte Gruschenka. »Auf Rußland will ich auch trinken.«

»Ich auch«, sagte Kalganow.

»Und ich ebenfalls … Auf das liebe Rußland, auf das alte Großmütterchen!« schloß sich Maximow kichernd an.

»Alle, alle!« schrie Mitja. »Wirt, bring noch mehr Flaschen!«

Es wurden drei Flaschen geholt, die von den von Mitja mitgebrachten noch übrig waren.

»Auf Rußland, hurra!« rief er wieder.

Alle außer den beiden Polen tranken aus, auch Gruschenka trank ihr ganzes Glas auf einen Zug aus. Die Polen aber rührten ihre Gläser nicht an.

»Aber was machen, Sie Panowie?« rief Mitja. »Also so sind Sie?«

Pan Wroblewski nahm sein Glas, erhob es und sagte mit schalIender Stimme: »Auf Rußland in den Grenzen vor siebzehnhundertzweiundsiebzig!«

»Richtig so!« rief der andere Pan auf polnisch, und beide leerten ihre Gläser in einem Zug.

»Dummköpfe sind Sie, Panowie!« entfuhr es Mitja unwillkürlich.

»Pa-nie?!« riefen die beiden Polen drohend und nahmen wie Kampfhähne Mitja gegenüber eine herausfordernde Haltung ein. Besonders aufgeregt war Pan Wroblewski.

»Darf man denn sein Land nicht lieben?« schrie er auf polnisch.

»Still! Ich will keinen Streit haben!« rief Gruschenka gebieterisch und stampfte mit dem Fuß auf.

Ihr Gesicht brannte, ihre Augen funkelten; das soeben ausgetrunkene Glas wirkte. Mitja bekam einen furchtbaren Schreck.

»Panowie, verzeihen Sie! Ich bin daran schuld, ich werde es nicht wieder tun. Wroblewski, Pan Wroblewski, ich werde es nicht wieder tun!«

»So sei doch still und setz dich hin, du Dummkopf!« fuhr ihn Gruschenka ärgerlich an.

Alle setzten sich, verstummten, sahen einander an.

»Meine Herren, ich bin an allem schuld!« begann Mitja wieder, der Gruschenkas Ausruf nicht begriffen hatte.

»Nun, warum sitzen wir denn so still da? Womit wollen wir uns unterhalten, damit es wieder lustig wird?«

»Ach ja, es ist in der Tat entsetzlich langweilig« murmelte Kalganow lässig.

»Wir sollten ein bißchen Karten spielen wie vorhin …«, schlug Maximow kichernd vor.

»Spielen? Herrlich!« rief Mitja ein. »Wenn nur die Panowie …«

»Es ist schon spät, Panie!« erwiderte der Herr auf dem Sofa unlustig.

»Das ist richtig!« stimmte ihm Pan Wroblewski zu.

»Immer ist es ihnen zu spät, immer können sie irgendwas nicht!« rief Gruschenka. Sie kreischte fast, so ärgerlich war sie. »Sie selbst sitzen gelangweilt da, also sollen sich die anderen auch langweilen. Bevor du kamst, Mitja, haben sie nur immer geschwiegen und schiefe Gesichter gezogen …«

»Meine Göttin!« rief der Herr auf dem Sofa. »Was du sagst, soll geschehen. Ich sehe, daß du verstimmt bist, und das macht mich traurig. Ich bin bereit, Panie!« schloß er, zu Mitja gewandt.

»Fangen Sie an, Panie!« versetzte Mitja, zog seine Banknoten aus der Tasche und legte zwei Hundertrubelscheine auf den Tisch. »Ich will viel an Sie verlieren. Nehmen Sie die Karten, und halten Sie die Bank!«

»Die Karten soll der Wirt geben, Panie!« sagte der kleine Herr ernst und nachdrücklich.

»Das ist das korrekteste Verfahren«, stimmte Pan WrobIewski zu.

»Der Wirt? Nun gut, ich verstehe, soll der Wirt sie geben, da haben Sie recht, Panowie … Karten!« befahl Mitja dem Wirt.

Der Wirt brachte ein noch nicht entsiegeltes Spiel Karten und teilte Mitja mit, die Mädchen kämen schon zusammen, und die Juden mit den Zymbals würden wahrscheinlich auch bald zur Stelle sein, nur die Troika mit den Waren sei noch nicht gekommen.

Mitja sprang vom Tisch auf und lief ins Nachbarzimmer, um sogleich das Nötige anzuordnen. Von den Mädchen waren bisher jedoch nur drei gekommen, und Marja war auch noch nicht da. Mitja wußte selbst nicht recht, wozu er hinausgelaufen war; er befahl nur, das Konfekt auszupacken und Kandiszucker und Sahnebonbons an die Mädchen auszuteilen.

»Und für Andrej Schnaps!« befahl er hastig. »Ich habe Andrej gekränkt!«

In diesem Augenblick berührte ihn Maximow, der ihm nachgelaufen war, plötzlich an der Schulter.

»Geben Sie mir fünf Rubel«, flüsterte er. »Ich möchte auch mein Glück versuchen, hihi!«

»Herrlich, wunderschön! Nehmen Sie zehn, da!«

»Er zog wieder alle Banknoten aus der Tasche und suchte einen Zehnrubelschein heraus.

»Wenn Sie verlieren, kommen Sie ruhig wieder, kommen Sie ruhig wieder!«

»Schön!« flüsterte Maximow erfreut und lief in das andere Zimmer zurück.

Auch Mitja kehrte sogleich zurück und entschuldigte sich, daß er auf sich hatte warten lassen. Die Polen hatten sich bereits gesetzt und das Spiel Karten entsiegelt. Sie machten jetzt weit höflichere, beinahe freundliche Gesichter. Der Herr auf dem Sofa steckte sich eine neue Pfeife an und machte sich bereit, die Bank zu halten; auf seinem Gesicht prägte sich sogar eine gewisse Feierlichkeit aus.

»Auf Ihre Plätze, Panowie!« rief Pan Wroblewski.

»Nein, ich werde nicht mehr spielen«, versetzte Kalganow. »Ich habe vorhin schon fünfzig Rubel an Sie verloren.«

»Der Herr hat Unglück gehabt, der Herr kann wieder Glück haben«, bemerkte der Herr auf dem Sofa.

»Wieviel ist in der Bank? Kann man va banque spielen?« fragte Mitja eifrig.

»Zu dienen, Panie. Vielleicht hundert Rubel, vielleicht zweihundert, soviel wie Sie setzen wollen.«

»Eine Million!« rief Mitja lachend.

»Vielleicht hat der Pan Hauptmann die Geschichte von Pan Podwysocki gehört?«

»Was ist das für ein Podwysocki?«

»In Warschau kann jeder va banque spielen. Podwysocki kommt herein, sieht in der Bank tausend Gulden liegen und sagt: ‚Va banque!‘ Der Bankhalter erwidert: ‚Panie Podwysocki, setzen Sie bar oder na honor?‘ — ‚Na honor, Panie‘, antwortete Podwysocki. ‚Um so besser, Panie.‘ Der Bankhalter zieht die Taille ab, Podwysocki gewinnt und will sich die tausend Gulden nehmen. ‚Warten Sie, Panie‘, sagt der Bankhalter, zieht einen Schubkasten auf und gibt ihm eine Million. ‚Nehmen Sie, Panie, das ist Ihr Gewinn.‘ Die Bank hatte eine Million betragen. ‚Das habe ich nicht gewußt‘, sagt der Bankhalter, ‚Sie haben na honor gespielt, und wir ebenfalls na honor.‘ Podwysocki nahm die Million.«

»Die Geschichte ist nicht wahr«, sagte Kalganow.

»Panie Kalganow« in besserer Gesellschaft spricht man nicht so.«

»Na, so ein polnischer Spieler wird einem ausgerechnet eine Million aushändigen!« rief Mitja, besann sich aber sofort: »Verzeihen Sie, Panie, ich habe mich erneut vergangen! Er wird die Million aushändigen, — na honor, auf polnisches Ehrenwort! Sehen Sie, wie ich polnisch sprechen kann, hahaha! Hier, ich setze zehn Rubel, auf den Buben.«

»Und ich ein Rubelchen auf das Dämchen, auf das hübsche Coeurdämchen, auf das Fräuleinchen, hihi!« kicherte Maximow, schob seine Dame heraus, rückte ganz dicht an den Tisch, als wollte er heimlich spielen, und schlug hastig ein Kreuz unter dem Tisch.

Mitja gewann. Auch das Rubelchen gewann.

»Ecke!« rief Mitja.

»Und ich setze wieder ein Rubelchen. Ich bin ein Simplespieler, ein kleiner, ganz kleiner Simplespieler«, murmelte Maximow glückselig; er freute sich schrecklich darüber, daß sein Rubelchen gewonnen hatte.

»Geschlagen!« rief Mitja. »Die Sieben auf paix!«

Er wurde auch auf paix geschlagen.

»Hören Sie auf!« sagte Kalganow.

»Auf paix, auf paix!« rief Mitja, seine Einsätze verdoppelnd; doch alles, was er auf paix setzte, wurde geschlagen. Und die Rubelchen gewannen.

»Auf paix!« brüllte Mitja wütend.

»Sie haben zweihundert Rubel verloren, Panie. Wollen Sie noch zweihundert setzen?« erkundigte sich der Herr auf dem Sofa.

»Wie? Zweihundert habe ich schon verloren? Also noch zweihundert! Die ganzen zweihundert auf paix!« Er holte Geld aus der Tasche und wollte die ganzen zweihundert Rubel auf die Dame werfen, als Kalganow plötzlich die Karte mit der Hand zudeckte.

»Genug!« rief er mit seiner hellen Stimme.

»Was soll das heißen?« rief Mitja und sah ihn starr an.

»Genug! Ich will nicht, daß Sie weiterspielen. Sie sollen nicht mehr spielen.«

»Warum?«

»Darum. Spucken Sie auf die ganze Geschichte und gehen Sie weg! Ich lasse Sie nicht weiterspielen!«

Mitja blickte ihn erstaunt an.

»Hör auf, Mitja. Er hat vielleicht recht, du hast sowieso schon viel verloren«, sagte Gruschenka; ihre Stimme hatte dabei einen seltsamen Klang.

Die beiden Polen standen plötzlich mit beleidigter Miene auf.

»Machen Sie Scherz, Panie?« sagte der kleine Herr und blickte Kalganow streng an.

»Wie können Sie sich erdreisten, das zu tun?« brüllte auch Pan Wroblewski Kalganow an.

»Untersteht euch nicht, hier herumzuschreien! Untersteht euch nicht!« rief Gruschenka. »Ihr Truthähne!«

Mitja ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern; plötzlich frappierte ihn etwas in Gruschenkas Gesicht, und ein ganz neuer Gedanke tauchte in seinem Kopf auf, ein seltsamer, neuer Gedanke!

»Pani Agrippina«, begann der kleine Pole, ganz rot vor Zorn, als Mitja zu ihm trat und ihm auf die Schulter klopfte.

»Hochedler, auf zwei Worte!«

»Was steht zu Diensten, Panie?«

»Bitte in jenes Zimmer, ich möchte Ihnen nur zwei Wörtchen sagen. Schöne, sehr gute Wörtchen, Sie werden zufrieden sein.«

Der kleine Pole wunderte sich und blickte Mitja mißtrauisch an. Doch erklärte er sich sogleich einverstanden, allerdings nur unter der Bedingung, daß auch Pan Wroblewski mitkommen durfte.

»Ist das Ihr Leibwächter? Nun meinetwegen, auch er wird dabei benötigt! Sogar unbedingt!« rief Mitja. »Vorwärts, Panowie!«

»Wo wollt ihr hin?« fragte Gruschenka beunruhigt. »Wir kommen sofort zurück«, antwortete Mitja.

Eine unerwartete, kühne Unternehmungslust leuchtete in seinem Gesicht; das war jetzt ein ganz anderes Gesicht als vorhin. Er führte die Polen in das rechts gelegene Zimmer, nicht in das große, wo sich der Chor der Mädchen versammelte und der Tisch gedeckt wurde, sondern in eine Schlafstube, in der Truhen und Kästen und zwei Betten standen, jedes mit einem ganzen Berg von Kissen in Baumwollbezügen. In einer Ecke brannte auf einem kleinen Brettertisch ein Licht.

Der kleine Pole und Mitja setzten sich einander gegenüber an dieses Tischchen, und der baumlange Pan Wroblewski stellte sich, die Hände auf dem Rücken, neben sie. Die Polen machten ernste Gesichter, waren aber offenbar sehr neugierig.

»Womit kann ich dem Herrn dienen?« fragte der kleine Pole unsicher.

»Das will ich Ihnen sagen, Panie. Ich werde nicht viele Worte machen. Hier ist Geld für Sie …« Er zog seine Banknoten heraus. »Wenn Sie dreitausend Rubel wollen — bitte — nehmen Sie sie, und reisen Sie damit, wohin Sie wollen!«

Der Pole schaute Mitja mit weitgeöffneten Augen prüfend an.

»Dreitausend Rubel, Panie?«

Er wechselte einen Blick mit Wroblewski.

»Dreitausend, Panowie, dreitausend! Hören Sie, Panie. Ich sehe, daß Sie ein verständiger Mensch sind. Nehmen Sie die dreitausend Rubel, und scheren Sie sich zu allen Teufeln! Und nehmen Sie auch Ihren Wroblewski mit! Hören Sie? Aber sofort, augenblicklich, verstehen Sie, Panie? Für immer, ja? Hier durch diese Tür werden Sie hinausgehen. Was haben Sie mitgebracht, einen Überzieher, einen Pelz? Ich werde Ihnen die Sachen bringen. Und gleich wird eine Troika für Sie angespannt, und dann leben Sie wohl, Panie! Na?«

Mitja erwartete zuversichtlich eine bejahende Antwort. Er zweifelte nicht daran.

Ein Ausdruck fester Entschlossenheit schimmerte auf dem Gesicht des kleinen Polen auf.

»Und wie steht es mit dem Geld, Panie?«

»Mit dem Geld? Hören Sie zu, Panie. Fünfhundert Rubel gebe ich Ihnen sofort, für den Wagen und als Anzahlung. Und zweitausendfünfhundert bekommen Sie morgen in der Stadt. Mein Ehrenwort darauf! Sie werden da sein — und wenn ich sie aus der Erde holen müßte!« rief Mitja.

Die Polen sahen einander wieder an. Das Gesicht des Kleinen veränderte sich zum schlechteren.

»Siebenhundert, siebenhundert, nicht fünfhundert! Gleich, in die Hand!« sagte Mitja zulegend; er fühlte, daß die Sache schiefging. »Was ist, Panie? Trauen Sie mir nicht? Ich kann Ihnen doch nicht die ganzen dreitausend mit einemmal geben. Wenn ich das täte, würden Sie gleich morgen wieder zu ihr zurückkehren … Und ich habe auch jetzt nicht die ganzen dreitausend bei mir. Sie liegen bei mir zu Hause«, stammelte Mitja, mit jedem Wort ängstlicher und mutloser. »Bei Gott, sie liegen da gut verwahrt …«

Augenblicklich drückte sich ein Gefühl außerordentlicher eigener Würde auf dem Gesicht des kleinen Polen aus. »Wünschen Sie sonst noch etwas?« fragte er ironisch. »Pfui! O pfui!« Er spuckte aus.

Auch Pan Wroblewski spuckte aus.

»Sie verschmähen mein Angebot doch nur deshalb, Panie«, sagte Mitja in heller Verzweiflung, da er einsah, daß alles aus war, »weil Sie von Gruschenka noch mehr herauspressen wollen. Gauner sind Sie alle beide, daß Sie es wissen!«

»Ich bin aufs tiefste beleidigt!« rief der kleine Pole auf polnisch.

Vor Zorn krebsrot im Gesicht, verließ er mit schnellen Schritten das Zimmer, als ob er nichts weiter hören wollte.

Ihm folgte mit seinem schaukelnden Gang auch Wroblewski. Hinter ihnen ging Mitja, verwirrt und bestürzt. Er fürchtete sich vor Gruschenka; er ahnte, daß der Pole sogleich ein großes Geschrei erheben würde. Das geschah denn auch. Der kleine Pole trat in das blaue Zimmer und stellte sich in theatralischer Haltung vor Gruschenka hin.

»Pani Agrippina, ich bin aufs tiefste beleidigt!« begann er auf polnisch, doch Gruschenka schien plötzlich alle Geduld zu verlieren, als hätte jemand ihre wundeste Stelle berührt.

»Sprich russisch, kein Wort polnisch will ich mehr hören!« schrie sie ihn an. »Du hast doch früher russisch gesprochen, hast du es in den fünf Jahren etwa vergessen?«

Sie war vor Zorn ganz rot geworden.

»Pani Agrippina …«

»Ich heiße Agrafena, ich heiße Gruschenka! Sprich russisch, oder ich will dich gar nicht hören!«

Der Pole, in seinem Ehrgefühl tief verletzt, atmete nur mühsam und sagte, das Russische radebrechend, schnell und stolz: »Pani Agrafena, ich bin hergekommen, um das Alte zu vergessen und zu verzeihen, um zu vergessen, was vor dem heutigen Tag gewesen ist …«

»Was redest du von Verzeihen? Du bist hergekommen, um mir zu verzeihen?« unterbrach ihn Gruschenka und sprang auf.

»Ganz richtig, Pani. Ich bin nicht kleinlich, ich bin großzügig. Aber ich war erstaunt, als ich deine Liebhaber sah. Pan Mitja hat mir soeben dreitausend Rubel angeboten, damit ich abreise. Ich habe ihm ins Gesicht gespuckt.«

»Wie? Er hat dir Geld für mich angeboten?« schrie Gruschenka in grenzenloser Erregung. »Ist das wahr, Mitja? Wie hast du das wagen können? Bin ich denn käuflich?«

»Panie, Panie!« brüllte Mitja. »Sie ist rein, strahlend rein, und ich bin nie ihr Geliebter gewesen! Da haben Sie gelogen …«

»Wie kannst du dich erdreisten, mich ihm gegenüber zu verteidigen?« schrie Gruschenka. »Nicht aus Tugendhaftigkeit bin ich rein gewesen, auch nicht, weil ich mich vor Kusma gefürchtet habe, sondern damit ich ihm gegenüber stolz sein konnte und das Recht hatte, ihn einen Schurken zu nennen, sobald ich ihm wieder begegnen würde. Hat er das Geld von dir wirklich nicht angenommen?«

»Doch! Er hat es angenommen, er hat es angenommen« rief Mitja. »Nur wollte er die ganzen dreitausend auf einmal haben, und ich bot ihm nur eine Anzahlung von siebenhundert.«

»Nun, das ist verständlich. Er hatte ja gehört, daß ich, Geld habe! Und darum ist er gekommen, um mich zu heiraten!«

»Pani Agrippina!« rief der Pole. »Ich bin ein Kavalier, ich bin rin Edelmann, ich bin kein Strolch. Ich bin gekommen, um dich zu meiner Gemahlin zu machen, aber ich sehe eine neue Pani vor mir, nicht die frühere, sondern eine eigensinnige und schamlose Pani.«

»So scher dich doch dahin, wo du hergekommen bist! Ich werde dich gleich wegjagen lassen, und man wird dich wegjagen!« rief Gruschenka außer sich. »Eine Verrückte bin ich gewesen, daß ich mich fünf Jahre lang gequält habe! Aber ich habe mich überhaupt nicht um seinetwillen gequält! Aus Zorn habe ich mich gequält! Und er ist es ja überhaupt nicht! War er damals etwa so ein Mann wie dieser jetzt? Der hier könnte der Vater von dem Früheren sein! Wo hast du dir denn diese Perücke machen lassen? Der andere war ein Falke, der hier ist ein Enterich. Der andere lachte und sang mir Lieder … Und ich, ich habe fünf Jahre lang Tränen vergossen! Ich verdammte Idiotin, ich niedriges, schamloses Geschöpf!«

Sie sank in ihren Lehnstuhl zurück und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

In diesem Augenblick ertönte im Nachbarzimmer links der Chor der Mädchen von Mokroje, die sich nun endlich versammelt hatten; sie sangen ein keckes Tanzlied.

»Das ist ja ein wahres Sodom!« schrie auf einmal Pan Wroblewski. »Wirt, jag das unverschämte Pack hinaus!«

Der Wirt, der schon lange neugierig durch die Tür sah, da er das Geschrei gehört und geahnt hatte, daß die Gäste in Streit geraten waren, erschien sogleich im Zimmer.

»Was schreist du so und reißt das Maul auf?« wandte er sich mit erstaunlicher Unhöflichkeit an Wroblewski.

»Du Rindvieh!« brüllte Pan Wroblewski.

»Ich ein Rindvieh? Und mit was für Karten hast du eben gespielt? Ich hatte dir ein neues Spiel gegeben, das hast du versteckt! Du hast mit falschen Karten gespielt! Ich kann dich für die falschen Karten nach Sibirien bringen, weißt du das? Denn das ist dasselbe wie falsches Geld …«

Und er trat ans Sofa, steckte die Finger zwischen Lehne und Sitzpolster und zog ein unentsiegeltes Spiel Karten heraus.

»Da ist mein Spiel, es ist noch gar nicht aufgemacht!« Er hob es hoch und zeigte es herum. »Ich habe gesehen, wie er mein Spiel in die Ritze steckte und seins dafür unterschob … Ein Betrüger bist du, und kein Pan!«

»Und ich habe gesehen, wie der andere Pan zweimal gemogelt hat!« rief Kalganow.

»Pfui Teufel, welche Schande!« rief Gruschenka und schlug die Hände zusammen. »Mein Gott, was für ein Mensch ist das geworden!«

»Ich hatte mir das schon gedacht!« rief Mitja. Aber er hatte das noch nicht ganz ausgesprochen, da wandte sich Pan Wroblewski verwirrt und wütend an Gruschenka, drohte ihr mit der Faust und schrie sie an:

»Öffentliche Hure!« Sofort stürzte sich Mitja auf ihn, umfaßte ihn mit den Armen, hob ihn in die Luft und trug ihn aus dem Saal in das Zimmer rechts, wo er eben erst mit den beiden gewesen war.

»Ich habe ihn da auf den Fußboden gelegt!« meldete er, als er, vor Aufregung keuchend, sogleich zurückkehrte. »Die Kanaille wollte sich noch wehren, doch keine Sorge, der kommt nicht wieder herein!«

Er machte den einen Türflügel zu, hielt den anderen weit offen und rief dem kleinen Polen zu: »Hochedler, belieben Sie nicht, ebenfalls dorthin zu gehen? Bitte sehr!«

»Väterchen, Dmitri Fjodorowitsch!« rief Trifon Borissowitsch. »Nehmen Sie ihnen doch das Geld ab, das Sie verloren haben! Das ist ja dasselbe, wie wenn sie es Ihnen gestohlen hätten!«

»Ich will meine fünfzig Rubel nicht wieder haben«, erklärte Kalganow.

»Und auch ich meine zweihundert nicht!« rief Mitja. »Unter keinen Umständen — soll er sie zu seinem Trost behalten.«

»Bravo, Mitja! Du bist ein Prachtmensch, Mitja!« rief Gruschenka; aus ihrer Stimme sprach noch die starke Empörung.

Der kleine Pole, der vor Wut dunkelrot geworden war, ohne aber im geringsten von seiner würdevollen Haltung einzubüßen, ging zur Tür, blieb dann jedoch stehen und sagte zu Gruschenka: »Pani, wenn du mit mir kommen willst, so komm! Wenn nicht, dann lebe wohl!«

Und mit großartiger Miene, schnaufend vor Empörung und verletztem Ehrgefühl, ging er hinaus. Er war ein Mann von festem Charakter; selbst nach allem, was vorhergegangen war, hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, die Pani würde mit ihm kommen — so hoch schätzte er sich ein. Mitja schlug die Tür hinter ihm zu.

»Schließen Sie die beiden doch ein!« sagte Kalganow. Aber man hörte, wie der Schlüssel von der anderen Seite gedreht wurde; sie hatten sich selbst eingeschlossen.

»Bravo!« rief Gruschenka wieder boshaft und mitleidlos. »Bravo! Da gehören sie auch hin!«