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Bei Sachlebinins

Die Familie Sachlebinin war tatsächlich eine »sehr anständige Familie«, wie sich Weltschaninow kurz vorher ausgedrückt hatte, und Herr Sachlebinin selbst war ein sehr tüchtiger, allgemein geachteter Beamter. Wahr war auch alles das, was Pawel Pawlowitsch über dessen Einnahmen gesagt hatte: daß sie auf anständigem Fuße lebten, daß aber, falls der Hausvater jetzt stürbe, keine Hinterlassenschaft da sein würde.

Der alte Sachlebinin empfing Weltschaninow in der liebenswürdigsten Weise und hatte sich aus dem früheren Gegner vollständig in einen Freund verwandelt.

»Ich gratuliere Ihnen; so ist es doch am besten«, sagte er gleich zum Beginn mit freundlicher, würdevoller Miene. »Ich habe selbst auf einen Vergleich hingewirkt, und Pjotr Karlowitsch« (Weltschaninows Anwalt) »hat sich dabei ganz prächtig benommen. Na, nicht wahr: Sie bekommen sechzigtausend Rubel ohne Schererei, ohne Verzögerung, ohne Streit! Sonst hätte sich der Prozeß noch drei Jahre lang hinziehen können.«

Weltschaninow wurde sogleich auch der Hausfrau vorgestellt, einer schon ältlichen, stark in die Breite gegangenen Dame mit einfältigem, müdem Gesichtsausdruck. Auch die jungen Mädchen fingen an zu erscheinen, teils einzeln, teils paarweise. Aber es waren ihrer überraschend viele; allmählich mochte die Anzahl sich auf zehn oder zwölf belaufen — Weltschaninow konnte sie nicht recht zählen, da die einen hereinkamen und andere wieder hinausgingen. Aber es waren viele Freundinnen aus den benachbarten Landhäusern darunter. Das Sachlebininsche Landhaus (ein großes Holzhaus in einem unbekannten, wunderlichen Stile, mit Anbauten, die aus verschiedenen Zeiten herrührten) hatte den Vorzug, daß ein großer Garten dazugehörte; aber an diesen Garten stießen auf verschiedenen Seiten noch drei oder vier andere Landhäuser, so daß derselbe gemeinsam benutzt wurde, was natürlich die Annäherung der Sachlebininschen Töchter an die Nachbarinnen sehr beförderte. Weltschaninow merkte gleich bei den, ersten Worten des Gespräches, daß er hier schon erwartet wurde, und daß seine Ankunft bereits mit der Begründung, er sei ein Freund Pawel Pawlowitschs und wünsche die Bekanntschaft der Familie zu machen, feierlich angekündigt worden war. Sein scharfer und in solchen Dingen geübter Blick erkannte auch noch etwas Besonderes: Die überaus liebenswürdige Aufnahme von seiten der Eltern, die etwas eigentümlichen Mienen der jungen Damen und ihre gewählten Toiletten (wiewohl allerdings gerade ein Festtag war) ließen bei ihm den Verdacht aufblitzen, daß Pawel Pawlowitsch ein schlaues Manöver ins Werk gesetzt und sehr wahrscheinlich hier (selbstverständlich ohne in deutlichen Worten zu sprechen) etwas von einem Jungesellen aus guter Familie und mit Vermögen habe fallen lassen, der sich langweile und sehr möglicherweise sich endlich entschließen werde, »unter sein bisheriges Leben einen Strich zu machen und sich eine Häuslichkeit zu gründen«, um so mehr, da er jetzt eine Erbschaft erhalten habe. Es schien, daß das älteste Fräulein Sachlebinina, Katerina Fedossejewna, eben die, welche vierundzwanzig Jahre alt war, und von der Pawel Pawlowitsch als von einem ganz reizenden Wesen gesprochen hatte, einigermaßen auf diesen Ton gestimmt war. Sie zeichnete sich vor ihren Schwestern durch ihr Kostüm und durch die originelle Frisur ihres üppigen Haares besonders aus. Die Schwestern aber und alle andern jungen Mädchen machten solche Gesichter, als wüßten sie schon ganz genau, daß Weltschaninow sich um Katerinas willen habe einführen lassen, und gekommen sei, um sie sich anzusehen. Ihre Blicke und sogar einige kleine Äußerungen, die ihnen im Laufe des Tages unversehens entschlüpften, bestärkten ihn dann in dieser Vermutung. Katerina Fedossejewna war eine hochgewachsene, üppige Blondine mit einem außerordentlich angenehmen Gesichte und offenbar von stillem, nicht sehr lebhaftem, ja sogar etwas schläfrigem Wesen. »Merkwürdig, daß ein. solches Mädchen sitzengeblieben ist«, dachte Weltschaninow unwillkürlich, indem er sie wohlgefällig betrachtete; »wenn sie auch keine Mitgift hat und bald stark in die Breite gehen wird, so gibt es doch für Mädchen von der Art, wie sie vorläufig noch ist, viele Liebhaber.« Auch die übrigen Schwestern waren sämtlich keineswegs häßlich, und unter den Freundinnen machten sich ein paar interessante und sogar recht hübsche Gesichtchen bemerkbar. Diese Mädchenschar amüsierte ihn; indes war er mit besonderen Absichten hingekommen.

Nadeschda Fedossejewna, die sechste Tochter, die Gymnasiastin, Pawel Pawlowitschs Auserkorene, ließ auf sich warten. Weltschaninow wartete auf sie mit einer Ungeduld, über die er sich selbst wunderte, und mußte über sich lächeln. Endlich erschien sie, und zwar nicht ohne einen gewissen Effekt zu machen, in Begleitung einer munteren, mutwilligen Freundin, namens Marja Nikititschna, einer Brünetten mit komischem Gesichte, vor der, wie sich sogleich herausstellte, Pawel Pawlowitsch eine gewaltige Angst hatte. Diese Marja Nikititschna, ein schon dreiundzwanzigjähriges, spottlustiges, recht kluges Mädchen, war Gouvernante bei den kleinen Kindern einer benachbarten, befreundeten Familie, wurde bei Sachlebinins schon seit langer Zeit wie ein Glied der Familie behandelt und von den jungen Mädchen außerordentlich hochgeschätzt. Augenscheinlich war sie jetzt besonders Nadeschdas unentbehrliche Freundin. Auf den ersten Blick hatte Weltschaninow erkannt, daß die jungen Mädchen sämtlich gegen Pawel Pawlowitsch feindlich gestimmt waren, sogar die Freundinnen, und sehr bald nach Nadeschdas Eintritt sagte er sich, daß auch sie ihn »hasse«. Er bemerkte auch, daß Pawel Pawlowitsch dies nicht wahrnahm oder nicht wahrnehmen wollte. Unstreitig war Nadeschda die schönste von allen Schwestern: eine kleine Brünette mit der Miene einer Wilden und der Keckheit einer Nihilistin, ein spitzbübisches Teufelchen mit blitzenden Augen und einem reizenden, Wiewohl oft boshaften Lächeln, mit wunderhübschen Lippen und Zähnchen, schlank und wohlgebaut, mit dem Ausdruck beginnender eigener Denktätigkeit auf dem temperamentvollen, aber gleichzeitig fast noch ganz kindlichen Gesichte. Ihre fünfzehn Jahre konnte man ihr bei jedem Schritte, den sie tat, ansehen und bei jedem Worte, das sie sprach, anhören. Es stellte sich später heraus, daß Pawel Pawlowitsch sie tatsächlich das erstemal mit einer Mappe von Wachstuch in der Hand gesehen hatte; aber jetzt trug sie sie nicht mehr.

Die Überreichung des Armbandes mißlang vollkommen und machte sogar einen unangenehmen Eindruck. Sowie Pawel Pawlowitsch seine »Braut« hereinkommen sah, trat er sogleich schmunzelnd auf sie zu. Als Grund für das Geschenk gab er das große Vergnügen an, das ihm das vorige Mal ein von Nadeschda Fedossejewna zum Klavier gesungenes schönes Lied bereitet habe. Aber hier stockte er, sprach nicht zu Ende und stand wie fassungslos da, indem er das Etui mit dem Armbande dem jungen Mädchen hinhielt und in die Hand zu stecken suchte; diese aber wollte es nicht nehmen und zog, vor Scham und Zorn errötend, ihre Hände zurück. Sie wandte sich dreist an ihre Mutter, auf deren Gesicht sich eine starke Verlegenheit ausprägte, und sagte laut: »Ich mag es nicht annehmen, Mama!«

»Nimm es an und bedanke dich«, sagte der Vater mit ruhigem Ernste; aber er war ebenfalls unzufrieden. »Das war doch nicht nötig, das war doch nicht nötig!« sagte er leise in mißbilligendem Tone zu Pawel Pawlowitsch.

Nadeschda nahm, da ihr nichts anderes übrigblieb, das Etui hin und machte mit niedergeschlagenen Augen einen Knicks, so wie kleine Mädchen knicksen, das heißt, sie tauchte plötzlich hinunter und sprang dann sogleich wieder, wie von einer Feder emporgeschnellt, in die Höhe. Eine der Schwestern trat zu ihr, um das Geschenk zu besehen, und Nadeschda reichte ihr das Etui hin, ohne es geöffnet zu haben, wodurch sie zeigte, daß sie selbst das Geschenk nicht einmal ansehen möge. Das Armband wurde herausgenommen und ging bei allen von Hand zu Hand; aber alle besahen es schweigend und manche sogar mit spöttischer Miene. Nur die Mama murmelte so etwas, daß das Armband allerliebst sei. Pawel Pawlowitsch wäre am liebsten in die Erde gesunken.

Da rettete Weltschaninow die Situation.

Er begann auf einmal laut in munterem Tone zu reden, indem er den ersten besten Gegenstand aufgriff, und es waren noch nicht fünf Minuten vergangen, als er auch schon die Aufmerksamkeit aller, die im Salon anwesend waren, gefesselt hatte. Er verstand vorzüglich die Kunst, in Gesellschaft zu plaudern, das heißt die Kunst, ganz harmlos zu erscheinen und gleichzeitig so zu tun, als halte er auch seine Zuhörer für ebenso harmlose Menschen, wie er selbst einer sei. Er brachte es, wo es nötig war, mit größter Naturtreue fertig, sich als den heitersten, glücklichsten Menschen zu geben. Er verstand es sehr geschickt, in das, was er sagte, eine geistreiche Stichelei, eine lustige Bemerkung, ein komisches Wortspiel einzuflechten, aber ganz wie zufällig, als ob er es selbst gar nicht bemerkte, während er doch in Wirklichkeit die Witze und die Wortspiele und das ganze Gespräch vielleicht schon seit langer Zeit vorbereitet und auswendig gelernt und schon zu wiederholten Malen vorgebracht hatte. Aber im vorliegenden Falle gesellte sich zu seiner Kunst auch die Natur selbst: Er fühlte sich in der richtigen Stimmung, von einer inneren Kraft getrieben; er fühlte in sich die volle, siegreiche Überzeugung, daß in wenigen Minuten alle diese Augen auf ihn gerichtet sein, alle diese Menschen nur ihn allein hören, nur mit ihm allein sprechen, nur über das, was er sagte, lachen würden. Und in der Tat ließ sich bald Lachen vernehmen; allmählich beteiligten sich auch die übrigen an dem Gespräche (denn er besaß im höchsten Grade die Kunst, auch andere Leute ins Gespräch hereinzuziehen); ja, es erschollen manchmal schon drei und vier Stimmen gleichzeitig. Frau Sachlebininas langweiliges, müdes Gesicht wurde beinah von einem Freudenschimmer erhellt; dasselbe war auch bei Katerina Fedossejewna der Fall, die wie bezaubert zuhörte. Nadeschda blickte unter der gesenkten Stirn hervor scharf nach ihm hin; es war zu merken, daß sie gegen ihn voreingenommen war. Dadurch fühlte sich Weltschaninow noch mehr angestachelt. Die »boshafte« Marja Nikititschna wußte eine ziemlich empfindliche Stichelei auf seine Kosten ins Gespräch zu werfen; sie behauptete, obwohl das nur ihre eigene Erfindung war, Pawel Pawlowitsch habe ihn in der Familie am vorhergehenden Tage als seinen Freund aus der Kinderzeit bezeichnet, und legte ihm auf diese Weise mit deutlicher Anspielung sieben Jahre zu. Aber auch der boshaften Marja Nikititschna gefiel er. Pawel Pawlowitsch war entschieden ganz verblüfft. Er hatte allerdings eine Vorstellung von den Fähigkeiten gehabt, über die sein Freund verfügte, und hatte sich anfänglich sogar darüber gefreut, daß dieser so reussierte, hatte selbst gekichert und sich am Gespräche beteiligt; aber aus irgendwelchem Grunde war er allmählich in Nachdenken, ja zuletzt in Niedergeschlagenheit versunken, was auf seinem beunruhigten Gesichte deutlich zum Ausdruck kam.

»Na, Sie sind doch mal ein Gast, mit dessen Unterhaltung man sich keine Mühe zu geben braucht«, sagte endlich der alte Sachlebinin vergnügt und erhob sich von seinem Stuhle, um sich nach oben in sein Arbeitszimmer zu begeben, wo trotz des Festtages eine Menge Akten, die er durchsehen mußte, auf ihn warteten. »Und denken Sie sich: Ich hatte Sie für den trübseligsten Hypochonder gehalten, den es unter all unsern jungen Leuten gäbe. Da sieht man, wie man sich irren kann!«

Im Salon stand ein Flügel; Weltschaninow fragte, wer Musik triebe, und wandte sich auf einmal an Nadeschda:

»Sie aber, glaube ich, singen?«

»Wer hat Ihnen das gesagt?« erwiderte Nadeschda scharf.

»Pawel Pawlowitsch hat es vorhin gesagt.«

»Es ist nicht wahr; ich singe nur so zum Scherz; ich habe gar keine Stimme.«

»Auch ich habe keine Stimme, singe aber doch.«

»Dann werden Sie uns also etwas vorsingen? Nun, dann will ich es auch tun«, sagte Nadeschda mit blitzenden Augen, »aber nicht jetzt, sondern erst nach dem Mittagessen. Ich kann die Musik nicht leiden«, fugte sie hinzu, »und dieses ewige Klavierspielen ist mir ganz zuwider geworden; bei uns spielen und singen sie ja alle, vom Morgen bis in die Nacht hinein; Katerinaist die einzige, die wirklich etwas leistet.«

Weltschaninow knüpfte an diese Bemerkung sofort an, und es stellte sich heraus, daß Katerina Fedossejewna die einzige von allen war, die sich ernstlich mit dem Klavierspiel beschäftigte. Er richtete sofort die Bitte an sie, doch etwas vorzuspielen. Offenbar fühlten sich alle angenehm dadurch berührt, daß er sich an Katerina gewandt hatte, und die Mama wurde sogar ordentlich rot vor Freude. Katerina Fedossejewna erhob sich lächelnd und ging zum Flügel, und auf einmal errötete sie selbst zu ihrer eigenen Überraschung über das ganze Gesicht und schämte sich gewaltig, daß sie schon so groß und schon vierundzwanzig Jahre alt war und eine so üppige Gestalt hatte und doch noch rot wurde wie ein kleines Mädchen — und das alles stand auf ihrem Gesichte geschrieben, als sie sich hinsetzte, um zu spielen. Sie spielte etwas von Haydn, und zwar recht akkurat, wiewohl nicht ausdrucksvoll; aber sie war eben ängstlich. Als sie zu Ende war, wandte sich Weltschaninow wieder an sie und lobte gewaltig nicht sowohl sie als vielmehr Haydn und besonders die kleine Piece, die sie vorgetragen hatte — und das war ihr augenscheinlich so angenehm, und sie hörte mit solcher Dankbarkeit und Glückseligkeit das nicht ihr, sondern dem Komponisten gespendete Lob an, daß Weltschaninow sie unwillkürlich freundlicher und aufmerksamer ansah: »Ei, du bist ja ein prächtiges Mädchen!« sagte sein leuchtender Blick, und alle schienen diesen Blick gleichzeitig zu verstehen, ganz besonders aber Katerina Fedossejewna selbst.

»Sie haben ja da einen herrlichen Garten«, wandte er sich, mit einem Blick auf die Glastür der Veranda, an alle. »Wissen Sie was? Wir wollen alle in den Garten gehen!«

»Ja, ja, das wollen wir tun!« riefen mehrere fröhliche Stimmen, als ob er den allgemeinen, lebhaften Wunsch erraten hätte.

Sie promenierten im Garten bis zum Mittagessen. Frau Sachlebinina, die schon längst hatte ein Schläfchen machen wollen, schloß sich ebenfalls nicht aus und verließ mit allen zusammen den Salon, um zu promenieren, blieb aber dann verständigerweise auf der Veranda zurück, um da ein bißchen zu sitzen und sich zu erholen, wo sie denn auch sofort einschlief. Im Garten gestalteten sich die wechselseitigen Beziehungen Weltschaninows und aller jungen Mädchen noch freundschaftlicher. Er bemerkte, daß sich zwei, drei noch sehr junge Leute aus den Nachbarvillen der Gesellschaft angeschlossen hatten; der eine war Student, der zweite gar noch Gymnasiast. Diese machten sich sogleich ein jeder an »seine« Dame heran, und es war klar, daß sie um derentwillen gekommen waren; der dritte aber, ein sehr finsterblickender, strubbliger Jüngling von zwanzig Jahren, mit einer gewaltigen blauen Brille, begann eilig und verdrießlich mit Marja Nikititschna und Nadeschda zu flüstern. Er musterte Weltschaninow mit strenger Miene und schien es für seine Pflicht zu halten, sich gegen ihn mit besonderer Geringschätzung zu benehmen. Einige der jungen Mädchen schlugen vor, man solle alsbald zu spielen anfangen. Auf Weltschaninows Frage, was sie denn für Spiele spielten, antworteten sie: alle möglichen, auch »Greifen«; aber am Abend würden sie »Sprichwörter« spielen; das sei so: Alle setzten sich hin, und einer ginge für eine Weile weg; alle, die dasäßen, wählten dann ein Sprichwort aus, zum Beispiel: »Wer langsam fahrt, kommt am weitesten«, und wenn der nun wieder herbeigerufen sei, müsse jeder oder jeder der Reihe nach einen Satz bilden und zu ihm sagen. Der erste müsse einen Satz sagen, in dem das Wort »wer« vorkomme, der zweite einen mit dem Worte »langsam« und so weiter. Und der müsse nun die betreffenden Wörter herausfinden und so das Sprichwort erraten.

»Das muß sehr amüsant sein«, meinte Weltschaninow.

»Ach nein, es ist sehr langweilig«, antworteten zwei oder drei Stimmen zugleich.

»Sonst spielen wir auch Theater«, sagte auf einmal Nadeschda, sich zu ihm wendend. »Sehen Sie da den dicken Baum mit der Bank drum herum: da hinter dem Baum, das sind gewissermaßen die Kulissen, und da sitzen die Schauspieler, na, also ein König, eine Königin, eine Prinzessin, ein junger Mann — was ein jeder sein will; jeder tritt auf, sobald er Lust hat, und redet, was ihm in den Sinn kommt; na, da kommt dann irgend etwas dabei heraus.«

»Das ist ja wunderschön!« lobte Weltschaninow wieder.

»Ach nein, es ist sehr langweilig! Zuerst läßt es sich jedesmal ganz lustig an; aber gegen das Ende hin wird es jedesmal albern, weil keiner versteht, einen richtigen Abschluß zu machen; wenn Sie mitspielen, wird es gewiß interessanter sein. Wir hatten übrigens von Ihnen gedacht, Sie wären ein Freund von Pawel Pawlowitsch; aber nun kommt es heraus, daß er nur geprahlt hat. Ich freue mich sehr, daß Sie hergekommen sind ... aus einem bestimmten Grunde ...«

Sie blickte Weltschaninow sehr ernst und eindringlich an und ging sogleich von ihm weg zu Marja Nikititschna.

»Heute abend werden wir ,Sprichwörter’ spielen«, flüsterte ihm auf einmal vertraulich eine Freundin zu, die er bis dahin kaum beachtet und mit der er noch kein Wort geredet hatte. »Am Abend werden wir uns alle über Pawel Pawlowitsch lustig machen, und Sie müssen uns dabei helfen.«

»Ach, wie gut, daß Sie gekommen sind; sonst ist es immer bei uns so langweilig«, sagte freundschaftlich ein anderes junges Mädchen aus der Nachbarschaft zu ihm, das er bis dahin überhaupt noch nicht bemerkt hatte, und das Gott weiß woher auf einmal aufgetaucht war, eine Rothaarige mit Sommersprossen und einem in ganz komischer Weise von der Hitze und vom raschen Gehen glühenden Gesichte.

Pawel Pawlowitschs Unruhe wuchs immer mehr. Im Garten waren Weltschaninow und Nadeschda schließlich schon ganz vertraut miteinander geworden; sie blickte ihn nicht mehr wie vorher unter der Stirn hervor an und schien die Absicht, ihn einer genaueren Musterung zu unterziehen, ganz aufgegeben zu haben; sie lachte, sprang, kreischte vor Vergnügen auf und faßte ihn sogar ein paarmal bei der Hand; sie war ganz glückselig; dem armen Pawel Pawlowitsch aber wandte sie fortdauernd nicht die geringste Beachtung zu, wie wenn sie ihn gar nicht bemerkte. Weltschaninow gelangte zu der Überzeugung, daß eine wirkliche Verschwörung gegen Pawel Pawlowitsch bestand; Nadeschda und ein Schwarm von jungen Mädchen entführten Weltschaninow nach der einen Seite hin, und andere Freundinnen lockten Pawel Pawlowitsch unter allerlei Vorwänden nach einer anderen; aber dieser riß sich von ihnen los und lief sogleich Hals über Kopf zu ihnen hin, das heißt zu Weltschaninow und Nadeschda, und schob auf einmal seinen kahlen Kopf, unruhig horchend, zwischen sie. Schließlich legte er sich gar keinen Zwang mehr auf; die Naivität seiner Gebärden und Bewegungen war manchmal erstaunlich. Weltschaninow konnte sich nicht enthalten, der guten Katerina Fedossejewna noch einmal seine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden; es war ihr natürlich schon jetzt klar geworden, daß er ganz und gar nicht ihretwegen gekommen war, sondern sich bereits außerordentlich für Nadeschda interessierte; aber ihr Gesicht war ebenso freundlich und gutmütig geblieben, wie es vorher gewesen war. Sie schien schon allein darüber glücklich zu sein, daß sie sich in der Nähe der beiden befand und mit anhörte, was der neue Gast sprach; sie selbst, die Ärmste, verstand leider nicht, sich geschickt am Gespräche zu beteiligen. »Was für ein prächtiges Mädchen doch Ihre Schwester Katerina Fedossejewna ist!« sagte Weltschaninow leise zu Nadeschda.

»Ja, Katerina! Es kann gar keine bessere Seele geben als die ihrige. Sie ist unser gemeinsamer Schutzengel; ich bin ordentlich verliebt in sie!« antwortete sie entzückt.

Endlich kam auch das Mittagessen heran, um fünf Uhr, und es war ebenfalls sehr zu spüren, daß dieses nicht seinen gewöhnlichen Zuschnitt trug, sondern mit besonderer Rücksicht auf den Gast eingerichtet war. Es erschienen zwei oder drei Gerichte, die augenscheinlich Zugaben zu dem gewöhnlichen Menü bildeten, recht eigentümliche Gerichte; eines derselben war sogar so sonderbar, daß niemand auch nur seinen Namen angeben konnte. Außer den gewöhnlichen Tischweinen erschien, offenbar ebenfalls dem Gaste zu Ehren, eine Flasche Tokaier; und zum Schlusse der Mahlzeit wurde sogar Champagner gereicht. Der alte Sachlebinin, der ein Gläschen zuviel getrunken hatte, befand sich in der gutmütigsten Stimmung und lachte bereitwilligst über alles, was Weltschaninow sagte. Die Sache endete damit, daß Pawel Pawlowitsch schließlich sich nicht mehr zurückzuhalten vermochte: Er ließ sich vom Wetteifer hinreißen und versuchte auf einmal selbst einen Witz zu machen; an jenem Ende des Tisches, wo er neben Frau Sachlebinina saß, erscholl auf einmal ein lautes Gelächter der erfreuten jungen Mädchen.

»Papachen, Papachen, Pawel Pawlowitsch hat auch einen Witz gemacht!« riefen die beiden mittelsten Sachlebininschen Töchter wie aus einem Munde. »Er sagt, wir seien Fräulein, über die man sich freuen müsse ...«

»Ah, er macht auch Witze! Na, was hat er denn für einen Witz vorgebracht?« fragte der Alte ehrbar, indem er sich gönnerhaft zu Pawel Pawlowitsch hinwendete und schon im voraus über den erwarteten Witz lächelte.

»Aber das ist es ja eben; er sagt, wir seien Fräulein, über die man sich freuen müsse.«

»N-ja; na und nun?«

Der Alte hatte immer noch nicht verstanden und lächelte erwartungsvoll noch gutmütiger als vorher.

»Ach, Papachen, wie Sie aber auch sind! Sie verstehen doch aber auch gar nicht! Na, ,Fräulein’ und dann ,sich freuen’, ,Fräulein’ klingt doch ähnlich wie ,sich freuen’, ,Fräulein, über die mach sich freuen muß’ ...«

»Ach so-o-o!« sagte der Alte verblüfft in gedehntem Tone. »Hm! Na, ein andermal wird es ihm besser gelingen!«

Und der Alte brach in ein lustiges Gelächter aus.

»Man kann nicht alle Vorzüge zugleich besitzen, Pawel Pawlowitsch!« spottete Marja Nikititschna laut. »Ach, mein Gott, er hat eine Gräte in den Hals bekommen; er wird daran ersticken!« rief sie und sprang vom Stuhle auf.

Es entstand ein allgemeiner Aufruhr; aber das hatte Marja Nikititschna gerade gewollt. Pawel Pawlowitsch hatte sich nur an Wein verschluckt, als er an seinem Glase genippt hatte, um seine Verlegenheit zu verbergen; aber Marja Nikititschna beteuerte hoch und heilig nach allen Seiten hin, es sei eine Fischgräte; sie habe es selbst gesehen, und daran könne man sterben.

»Man muß ihm auf den Rücken klopfen!« rief jemand.

»Wirklich, das dürfte das beste sein!« stimmte Herr Sachlebinin bei.

Und sofort fanden sich auch freiwillige Helferinnen: Marja Nikititschna und die rothaarige Freundin, die ebenfalls zum Mittagessen eingeladen worden war, und endlich die Hausfrau selbst, die einen argen Schreck bekommen hatte; alle wollten sie Pawel Pawlowitsch auf den Rücken klopfen. Dieser sprang vom Tische auf, machte sich von den Samariterinnen los und mußte eine ganze Minute lang versichern, daß ihm nur etwas Wein in die Luftröhre gekommen sei und der Husten sogleich vorübergehen werde, bis endlich alle dahinterkamen, daß das Ganze nur ein Schelmenstreich von Marja Nikititschna sei.

»Na, aber warte, du Range!« sagte Frau Sachlebinina zu ihr in strengem Tone, konnte sich aber unmittelbar darauf nicht mehr beherrschen und lachte so herzlich, wie es bei ihr nur selten vorkam, was denn ebenfalls einen eigenartigen Effekt machte.

Nach dem Mittagessen gingen alle auf die Veranda, um Kaffee zu trinken.

»Was für prächtige Tage wir jetzt haben!« lobte der Alte herablassend die Natur und blickte mit Vergnügen in den Garten hinein. »Nur regnen sollte es einmal! ... Na, ich aber werde jetzt weggehen, um mich ein bißchen auszuruhen. Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen, seid recht vergnügt! Und sei auch du recht vergnügt!« fügte er beim Hinausgehen hinzu, indem er Pawel Pawlowitsch auf die Schulter klopfte.

Als alle wieder in den Garten gegangen waren, kam auf einmal Pawel Pawlowitsch zu Weltschaninow herangelaufen und zupfte ihn am Ärmel.

»Auf ein Augenblickchen!« flüsterte er ihm erregt zu.

Sie bogen in einen stillen Seitensteig ein.

»Nein, nehmen Sie es nicht übel, hier kann ich das doch nicht zugeben ...« flüsterte er wütend; die Zunge gehorchte ihm kaum; er faßte Weltschaninow an den Rockärmel.

»Was ist denn? Was gibt es denn?« fragte Weltschaninow, ihn groß ansehend.

Pawel Pawlowitsch blickte ihn schweigend an, bewegte die Lippen und lächelte grimmig.

»Wo sind Sie denn geblieben? Wo stecken Sie denn? Es ist schon alles fertig!« hörte man die jungen Mädchen ungeduldig rufen.

Weltschaninow zuckte die Achseln, drehte sich um und ging zur Gesellschaft zurück. Pawel Pawlowitsch lief hinter ihm her.

»Ich möchte darauf wetten, daß er Sie um ein Taschentuch gebeten hat,« sagte Marja Nikititschna. »Das vorige Mal hatte er seins auch vergessen.«

»Er vergißt es immer!« fiel eine der mittleren Sachlebininschen Töchter ein.

»Er hat sein Taschentuch vergessen! Pawel Pawlowitsch hat sein Taschentuch vergessen! Mama, Pawel Pawlowitsch hat wieder sein Taschentuch vergessen — Mama, Pawel Pawlowitsch hat wieder den Schnupfen!« erschollen mehrere Stimmen.

»Aber warum sagt er denn nichts davon? Wie können Sie sich nur so genieren, Pawel Pawlowitsch!« sagte Frau Sachlebinina in gedehntem singendem Tone. »Mit einem Schnupfen ist nicht zu spaßen; ich werde Ihnen sogleich ein Taschentuch schicken. Wie kommt das nur, daß er immer den Schnupfen hat?« fügte sie im Weggehen hinzu, erfreut über die Möglichkeit, ins Haus zurückzukehren.

»Ich habe zwei Taschentücher bei mir und habe gar keinen Schnupfen!« rief ihr Pawel Pawlowitsch nach; die aber hatte es offenbar nicht mehr verstanden; denn einen Augenblick darauf, als Pawel Pawlowitsch hinter allen herlief und besonders in Nadeschdas und Weltschaninows Nähe zu kommen suchte, holte ihn das Stubenmädchen, das ganz atemlos war, ein und brachte ihm ein Taschentuch.

»Spielen, spielen, wir wollen ,Sprichwörter’ spielen!« wurde von allen Seiten gerufen, als ob sie Gott weiß was für ein Amüsement von diesen »Sprichwörtern« erwarteten.

Sie wählten sich einen Platz aus und setzten sich dort auf Bänke; zuerst mußte Marja Nikititschna raten; es wurde verlangt, sie solle recht weit weggehen und nicht horchen; in ihrer Abwesenheit wählten die andern ein Sprichwort aus und verteilten die Worte. Marja Nikititschna kehrte zurück und erriet es sofort. Das Sprichwort war: »Wenn die Not am größten, ist Gott am nächsten.«

Auf Marja Nikititschna folgte der strubblige junge Mann mit der blauen Brille. Man forderte von ihm, daß er sich noch größere Vorsichtsmaßregeln gefallen lasse: Er mußte sich bei der Laube hinstellen und sich mit dem Gesichte ganz nach dem Zaune hinwenden. Der finstere junge Mann erfüllte seine Pflicht mit geringschätziger Miene und schien sogar eine Art von moralischer Erniedrigung darin zu finden. Als er zurückgerufen war, konnte er nichts raten; er ging bei allen herum, hörte, was sie ihm zweimal sagten, und dachte lange und düster nach; aber er bekam es nicht heraus. Man lachte ihn aus. Das Sprichwort war gewesen: »Gott und der Zar belohnen die Treue.«

»Ein ganz dummes Sprichwort!« sagte empört der Jüngling, der sich tief verletzt fühlte, und zog sich auf seinen Platz zurück.

»Ach, wie langweilig!« riefen mehrere junge Damen.

Nun kam Weltschaninow an die Reihe; man schickte ihn noch weiter weg; er konnte es ebenfalls nicht raten.

»Ach, wie langweilig!« ließen sich noch mehr Stimmen als vorher vernehmen.

»Na, jetzt werde ich gehen«, sagte Nadeschda.

»Nein, nein, jetzt soll Pawel Pawlowitsch gehen; jetzt ist Pawel Pawlowitsch an der Reihe!« riefen alle und wurden dabei etwas lebendiger.

Pawel Pawlowitsch wurde bis ganz an den Zaun in die Ecke geführt und mußte sich dort mit dem Gesicht nach der Ecke zu hinstellen; und damit er sich nicht umsähe, wurde die Rothaarige aufgestellt, um auf ihn aufzupassen. Pawel Pawlowitsch, der schon wieder etwas Mut gefaßt hatte und beinah wieder heiter geworden war, beabsichtigte, seine Pflicht gewissenhaft zu erfüllen, und stand wie ein Pfahl da, blickte nach dem Zaune hin und wagte nicht, sich umzudrehen. Die Rothaarige stand als seine Wächterin zwanzig Schritte von ihm entfernt, näher nach der Gesellschaft zu, bei der Laube, und wechselte in Aufregung mit den anderen jungen Mädchen bedeutsame Blicke; es war klar, daß sie alle mit einer gewissen Unruhe etwas erwarteten; sie hatten irgend etwas vor. Auf einmal gab die Rothaarige hinter der Laube hervor mit den Armen ein Zeichen. Sofort sprangen alle auf und liefen Hals über Kopf irgendwohin weg.

»Laufen Sie doch auch, laufen Sie doch auch!« flüsterten Weltschaninow etwa zehn junge Mädchen zu; sie waren ordentlich erschrocken darüber, daß er nicht mitlief.

»Was gibt es denn? Was ist geschehen?« fragte er, ihnen nacheilend.

»Still! Schreien Sie nicht so! Mag er dastehen und den Zaun ansehen; wir wollen alle weglaufen. Sehen Sie, Nadeschda läuft auch weg.«

Die Rothaarige (sie hieß Nastja) kam, so schnell sie nur konnte, als ob Gott weiß was passiert wäre, unter lebhaften Armbewegungen ihnen nachgelaufen. Sie liefen endlich alle bis hinter den Teich, ganz am andern Ende des Gartens. Als auch Weltschaninow dorthin kam, sah er, daß Katerina Fedossejewna in heftigem Streite mit allen jungen Mädchen und namentlich mit Nadeschda und Marja Nikititschna begriffen war.

»Katerina, Liebe, Gute, sei nicht böse!« bat Nadeschda und küßte sie.

»Nun gut, ich will es nicht Mama sagen; aber ich selbst gehe fort; denn das ist ein sehr häßliches Benehmen. Wie muß dem Ärmsten da am Zaune zumute sein!«

Sie ging weg, aus Mitleid; die übrigen aber blieben unerbittlich und grausam wie vorher. Von Weltschaninow verlangten sie streng, auch er solle, wenn Pawel Pawlowitsch zurückkomme, ihn in keiner Weise beachten und tun, als ob nichts geschehen sei.

»Und wir alle wollen nun ,Greifen’ spielen!« rief die Rothaarige ganz entzückt.

Pawel Pawlowitsch fand sich erst nach einer Viertelstunde wieder bei der Gesellschaft ein. Zwei Drittel dieser Zeit hatte er gewiß am Zaune gestanden. Das »Greifen« war im vollen Gange und ging vortrefflich vonstatten: Alle schrien und waren vergnügt. Sinnlos vor Wut eilte Pawel Pawlowitsch geradewegs auf Weltschaninow zu und faßte ihn wieder am Ärmel. »Auf ein Augenblickchen!«

»Ach Gott, was er nur immer mit seinen Augenblickchen hat!«

»Er will sich wieder ein Taschentuch geben lassen!« wurde ihnen nachgerufen.

»Aber diesmal sind Sie es gewesen; diesmal stecken Sie dahinter; Sie sind der Urheber! ...«

Während er das sagte, schlugen ihm ordentlich die Zähne zusammen vor Wut.

Weltschaninow unterbrach ihn und riet ihm in aller Ruhe, er solle doch vergnügt sein, sonst würden ihn die andern noch mehr zum besten haben: »Eben darum werden Sie gehänselt, weil Sie sich ärgern, während alle vergnügt sind.« Zu seiner Verwunderung machten diese Worte und dieser Rat einen starken Eindruck auf Pawel Pawlowitsch; er beruhigte sich sogleich, sogar in dem Grade, daß er, wie schuldbewußt, zur Gesellschaft zurückkehrte und sich gehorsam an allen Spielen beteilige; darauf ließen sie ihn eine Zeitlang in Ruhe und spielten mit ihm wie mit allen — und es war noch keine halbe Stunde vergangen, als er schon beinahe wieder heiter geworden war. Bei allen Spielen, wo er eine Dame zu engagieren hatte, erwählte er sich vorzugsweise die rothaarige Verräterin oder eine der Sachlebininschen Schwestern. Aber zu seiner noch größeren Verwunderung bemerkte Weltschaninow, daß Pawel Pawlowitsch es kein einziges Mal wagte, Nadeschda zuerst anzureden, obgleich er sich beständig in ihrer Nähe zu schaffen machte; er schien seine Situation als ein von ihr nicht Bemerkter und Verachteter, als eine ordnungsmäßige, natürliche aufzufassen. Aber zuletzt spielten sie ihm doch wieder einen Streich.

Es wurde »Verstecken« gespielt. Derjenige, der sich versteckt hatte, durfte übrigens innerhalb der ganzen Örtlichkeit, wo es gestattet war, sich zu verstecken, sein Versteck wechseln. Pawel Pawlowitsch, der in ein dichtes Gebüsch gekrochen war und sich dort gut verborgen hatte, kam plötzlich auf den Einfall, sich ein anderes Versteck zu suchen und zu diesem Zwecke ins Haus zu laufen. Es erhob sich ein Geschrei; denn man hatte ihn gesehen; er aber lief eilig die Treppe hinauf nach dem Entresol, da er dort einen Ort hinter einer Kommode wußte, wo er sich verstecken wollte. Aber die Rothaarige flog hinter ihm her, schlich auf den Fußspitzen zur Tür und schloß sie zu. Alle brachen, genauso wie eine Weile vorher, sofort ihr Spiel ab und liefen wieder hinter den Teich an das andere Ende des Gartens. Nach zehn Minuten blickte Pawel Pawlowitsch, welcher merkte, daß ihn niemand suchte, aus dem Fenster. Es war kein Mensch zu sehen. Zu rufen wagte er nicht, um die Eltern nicht zu wecken, und dem Stubenmädchen und der Magd war die strenge Weisung gegeben worden, sich nicht blicken zu lassen und, wenn Pawel Pawlowitsch rufen sollte, nicht zu antworten. Katerina Fedossejewna hätte ihm allerdings öffnen können; aber diese war, nachdem sie in ihr Stübchen zurückgekehrt war und sich hingesetzt hatte, um ihren Gedanken nachzuhängen, unvermutet ebenfalls eingeschlafen. Er saß auf diese Weise dort wohl eine Stunde lang. Endlich erschienen die jungen Mädchen wieder: Sie promenierten wie von ungefähr zu zweien oder dreien vorbei.

»Pawel Pawlowitsch, warum kommen Sie denn nicht zu uns? Ach, wie lustig es bei uns zugeht! Wir spielen Theater. Alexej Iwanowitsch hat den ,jungen Mann’ gespielt.«

»Pawel Pawlowitsch, warum kommen Sie denn nicht? Über Sie muß man sich ja freuen!« bemerkten andere Mädchen im Vorbeigehen.

»Worüber muß man sich wieder freuen?« ließ sich auf einmal Frau Sachlebininas Stimme vernehmen. Sie war soeben aufgewacht und hatte sich endlich dazu entschlossen, ein bißchen im Garten zu promenieren und den »kindlichen« Spielen zuzusehen, bis der Tee fertig sein würde.

»Sehen Sie nur, da ist Pawel Pawlowitsch!« riefen einige und zeigten nach dem Fenster, durch welches das zu einem Lächeln verzerrte, vor Wut blasse Gesicht Pawel Pawlowitschs hindurchblickte.

»Eine wunderliche Passion, da allein zu sitzen, während alle so lustig sind!« sagte die Mutter der Familie kopfschüttelnd.

Unterdessen war Weltschaninow endlich für wert erachtet worden, von Nadeschda Aufklärung über das zu erhalten, was sie eine Weile vorher zu ihm gesagt hatte: Sie freue sich aus einem bestimmten Grunde sehr darüber, daß er gekommen sei. Die Aufklärung erfolgte in einer einsamen Allee. Marja Nikititschna hatte Weltschaninow, der sich an irgendwelchen Spielen beteiligte und schon anfing, sich stark zu langweilen, ausdrücklich zu diesem Zwecke abgerufen und in diese Allee geführt, wo sie ihn dann mit Nadeschda allein ließ.

»Ich bin vollkommen davon überzeugt«, begann sie in keckem Tone und in sehr schnellem Tempo, »daß Sie mit Pawel Pawlowitsch überhaupt nicht so befreundet sind, wie er es prahlerisch verkündet hat. Ich habe mir gesagt, daß Sie der einzige sind, der mir einen außerordentlich wichtigen Dienst erweisen kann; da ist das garstige Armband von vorhin« (sie nahm das Etui aus der Tasche); »ich bitte Sie inständig, es ihm unverzüglich wieder zuzustellen; denn ich selbst werde jetzt mein ganzes Leben lang unter keinen Umständen mit ihm zu reden anfangen. Übrigens können Sie ihm sagen, daß Sie es in meinem Auftrage tun; fügen Sie auch hinzu, er solle sich nicht noch einmal erdreisten, mir Geschenke aufzudrängen. Das übrige werde ich ihm dann schon durch andere sagen lassen. Wollen Sie so freundlich sein, mir diesen Gefallen zu tun, meinen Wunsch zu erfüllen?«

»Ach, um Gottes willen, ersparen Sie mir das!« rief Weltschaninow mit einer abwehrenden Geste.

»Wie? Sie sagen, ich solle Ihnen das ersparen?« erwiderte Nadeschda höchst erstaunt über seine Weigerung und sah ihn mit großen Augen an. Mit ihrem ganzen wohlvorbereiteten Tone war es augenblicklich vorbei, und sie fing beinah an zu weinen. Weltschaninow lachte.

»So habe ich es nicht gemeint ... ich würde mich sehr freuen ... aber ich habe da noch eine eigene Rechnung mit ihm zu erledigen ...«

»Ich wußte es doch, daß Sie nicht sein Freund sind und er nur gelogen hatte!« unterbrach ihn Nadeschda schnell und hitzig. »Ich werde ihn niemals heiraten; das mögen Sie wissen! Niemals! Ich begreife nicht einmal, wie er es hat wagen können ... Aber Sie müssen ihm doch das widerwärtige Armband übergeben; was soll ich denn sonst machen? Ich will unbedingt, unbedingt, daß er es noch heute, noch diesen Tag zurückbekommt und sieht, daß es ihm damit mißglückt ist. Und wenn er es meinem Papa petzt, dann soll er einmal sehen, was ihm passiert! ...« Aus dem Gebüsch sprang auf einmal ganz unerwartet der strubblige junge Mann mit der blauen Brille heraus. »Sie müssen das Armband übergeben!« stürzte er wütend auf Weltschaninow los; »schon allein im Hinblick auf die Frauenrechte, wenn anders Sie selbst in dieser Frage auf der Höhe der Zeit stehen.«

Aber er kam nicht dazu, zu Ende zu sprechen; Nadeschda faßte ihn am Ärmel und zog ihn aus aller Kraft von Weltschaninow fort.

»Mein Gott, wie dumm Sie sind, Predpossylow!« rief sie. »Machen Sie, daß Sie wegkommen; machen Sie, daß Sie wegkommen! Wie können Sie es wagen, zu horchen? Ich hatte Ihnen doch befohlen, da weit von hier stehen zu bleiben!« Sie stampfte sogar mit den Füßchen, und als der junge Mann schon wieder in sein Gebüsch geschlüpft war, ging sie doch immer noch, wie außer sich, quer über den Weg hin und her; ihre Augen funkelten; beide Hände hielt sie, mit den Innenflächen zusammengelegt, vor der Brust.

»Sie glauben gar nicht, wie dumm diese Menschen sind!« sagte sie, plötzlich vor Weltschaninow stehenbleibend. »Ihnen ist das lächerlich; aber wie ist mir dabei zumute!«

»Das ist doch nicht etwa Er? Wie?« fragte Weltschaninow lachend.

»Selbstverständlich ist das nicht Er; wie können Sie nur so etwas denken«, erwiderte Nadeschda lächelnd und errötend. »Das ist nur sein Freund. Aber was er sich für Freunde aussucht, das begreife ich nicht; sie sagen dort alle, dieser hier sei ein künftiger Weiterschütterer; aber ich begreife das nicht ... Alexej Iwanowitsch, ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte; also zum letztenmal: Wollen Sie es ihm übergeben oder nicht?«

»Nun gut, ich werde es ihm übergeben; geben Sie es her!«

»Ach, Sie sind ein allerliebster Mensch, ein herzensguter Mensch!« rief sie erfreut und übergab ihm das Etui. »Dafür werde ich Ihnen auch den ganzen Abend über etwas vorsingen; denn Sie mögen wissen, daß ich ganz gut singe; ich habe vorhin gelogen, als ich sagte, ich könnte die Musik nicht leiden. Ach, wenn Sie doch noch wenigstens ein einziges Mal zu uns kämen, wie würde ich mich dann freuen! Dann würde ich Ihnen alles, alles, alles erzählen und noch vieles außerdem; denn Sie sind ein so guter, ein so guter Mensch — ganz wie Katerina!«

Und als sie zum Tee in das Haus zurückgekehrt waren, sang sie ihm tatsächlich zwei Lieder mit einer noch ganz unausgebildeten und sich eben erst entwickelnden Stimme, die aber doch recht angenehm und kräftig klang. Pawel Pawlowitsch saß, als alle aus dem Garten zurückkehrten, mit den Eltern ehrbar am Teetisch, auf dem schon der große Familiensamowar brodelte und Teetassen aus Sèvresporzellan standen. Wahrscheinlich hatte er mit den beiden Alten sehr wichtige Dinge besprochen, da er am zweitnächsten Tage auf ganze neun Monate wegfahren wollte. Die aus dem Garten Hereinkommenden und besonders Weltschaninow blickte er nicht einmal an; auch war klar, daß er nicht »gepetzt« hatte, und daß einstweilen alles noch ruhig war.

Aber als Nadeschda zu singen anfing, stellte auch er sich dabei ein. Nadeschda antwortete ihm absichtlich nicht auf eine direkt an sie gerichtete Frage; aber Pawel Pawlowitsch ließ sich dadurch nicht beirren und in seinem Entschlusse wankend machen; er trat hinter ihren Stuhl, und sein ganzes Benehmen zeigte, daß er diesen Platz als den seinigen beanspruchte und ihn niemanden abtreten werde. »Alexej Iwanowitsch wird singen; Alexej Iwanowitsch will singen!« riefen die jungen Mädchen fast sämtlich und drängten sich um den Flügel, an welchem Weltschaninow, der sich selbst zu begleiten beabsichtigte, voll Selbstvertrauen Platz genommen hatte. Auch die Eltern kamen herbei, sowie Katerina Fedossejewna, die bei ihnen gesessen und den Tee eingegossen hatte.

Weltschaninow wählte ein jetzt fast niemandem mehr bekanntes Lied von Glinka:

»Wenn taubengleich in einer frohen Stunde

ein zartes Girren dringt aus deinem Munde ...« Beim Vortrage dieses Liedes wendete er sich ausschließlich an Nadeschda, die näher als alle andern dicht an seinem Ellbogen stand. Er hatte schon längst keine Stimme mehr; aber aus den Resten derselben war ersichtlich, daß sie früher nicht übel gewesen war. Weltschaninow hatte das Glück gehabt, dieses Lied zum ersten Male zwanzig Jahre Vorher, als er noch Student war, von Glinka selbst zu hören, im Hause eines Freundes des inzwischen verstorbenen Komponisten, an einem literarisch-künstlerischen Junggesellenabend. Ganz aus sich herausgehend, hatte Glinka alle seine Lieblingskomponisten gespielt, darunter auch dieses Lied. Auch er hatte damals keine Stimme mehr gehabt; aber Weltschaninow erinnerte sich noch des außerordentlichen Eindrucks, den damals gerade dieses Lied hervorgebracht hatte. Der geschickteste Konzertsänger hätte nie eine solche Wirkung erzielen können. In diesem Liede steigert und vergrößert sich der Drang der Leidenschaft mit jedem Verse, mit jedem Worte; gerade infolge der Kraft dieses ungewöhnlichen Dranges hätte der geringste Fehler, die geringste Übertreibung und Unwahrheit (wie sie so leicht in der Oper vorkommen) den ganzen geistigen Gehalt verdorben und entstellt. Um dieses kleine, aber eigenartige Stück zu singen, war unbedingt Wahrhaftigkeit nötig, eine wirkliche, volle Begeisterung oder doch die volle, poetische Aneignung derselben. Sonst wäre das Lied nicht nur vollständig mißklungen, sondern es hätte sogar häßlich und beinah schamlos erscheinen können: Es wäre unmöglich gewesen, eine solche Energie des leidenschaftlichen Dranges zum Ausdruck zu bringen, ohne Widerwillen zu erwecken; aber die Wahrhaftigkeit und Schlichtheit retteten alles. Weltschaninow erinnerte sich, daß ihm selbst der Vortrag dieses Liedes früher manchmal gelungen war. Er hatte sich Glinkas Art, es zu singen, beinah zu eigen gemacht; jetzt aber flammte gleich vom ersten Tone, vom ersten Verse an in seiner Seele eine wirkliche Begeisterung auf und gab sich durch das Zittern seiner Stimme kund. Mit jedem Worte des Liedes brach das Gefühl immer stärker hervor und enthüllte sich immer kühner; in den letzten Versen hörte man den Aufschrei der Leidenschaft, und als er am Ende, sich mit blitzenden Augen zu Nadeschda hinwendend, die letzten Worte des Liedes sang:

»Und kühner schau ich jetzt dir in die Augen,

An deinen süßen Lippen möcht ich saugen,

Ich will dich küssen, küssen, küssen, küssen,

Ich will dich küssen, küssen, küssen, küssen! « da zuckte Nadeschda fast vor Schreck zusammen und trat sogar ein klein wenig zurück; eine dunkle Röte übergoß ihre Wangen, und gleichzeitig schien auf ihrem verschämten und beinah ängstlichen Gesichtchen etwas wie ein Entgegenkommen, eine Sympathie für den Sänger aufzuleuchten.

Entzücken, aber zugleich auch Verwunderung malten sich auch auf den Gesichtern der anderen Zuhörerinnen: Alle hatten sie die Empfindung, so zu singen, das verstoße gegen die Gesetze der Schamhaftigkeit; gleichzeitig aber glühten alle diese Gesichtchen, funkelten alle diese Äuglein und schienen noch etwas weiteres zu erwarten. Besonders fiel Weltschaninow bei einem flüchtigen Blicke Katerina Fedossejewnas Gesicht auf, das beinah schön geworden war.

»Na, ist das mal ein Lied!« murmelte etwas verdutzt der alte Sachlebinin; »aber ... ist es auch nicht zu stark? Es ist ja sehr hübsch, aber doch etwas stark ...«

»Ja, es ist etwas stark ...« stimmte ihm auch Frau Sachlebinina bei; aber Pawel Pawlowitsch ließ sie nicht zu Ende sprechen: Er sprang auf einmal vorwärts und vergaß sich so weit, daß er wie ein Irrsinniger Nadeschda bei der Hand ergriff und sie von Weltschaninow wegführte. Dann stürzte er auf ihn los und sah ihn wie außer sich an, wobei seine Lippen zuckten und bebten.

»Auf ein Augenblickchen!« brachte er endlich mühsam hervor.

Weltschaninow sah klar, daß, falls er zögere, dieser Herr imstande sei, etwas noch zehnmal Absurderes anzustellen; er nahm ihn schleunigst bei der Hand, führte ihn, ohne sich um die allgemeine Verwunderung zu kümmern, auf die Veranda und ging mit ihm sogar ein paar Schritte in den Garten hinaus, in dem es schon ganz dunkel geworden war.

»Begreifen Sie auch wohl, daß Sie sogleich, augenblicklich mit mir wegfahren müssen?« begann Pawel Pawlowitsch.

»Nein, das begreife ich nicht ...«

»Erinnern Sie sich wohl«, fuhr Pawel Pawlowitsch in seinem ingrimmigen Flüstertone fort, »erinnern Sie sich wohl, wie Sie damals von mir verlangten, ich solle Ihnen alles sagen, aber auch alles, ganz offenherzig, das ,letzte noch fehlende Wort’ ... erinnern Sie sich wohl noch? Na, jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen, um dieses Wort zu sagen ... fahren Sie also mit mir weg!«

Weltschaninow überlegte einen Augenblick, sah Pawel Pawlowitsch noch einmal an und erklärte sich dann bereit mitzufahren.

Die Mitteilung von ihrer plötzlichen Abfahrt versetzte die Eltern in Aufregung und rief bei allen jungen Mädchen geradezu eine Empörung hervor.

»Sie sollten doch wenigstens noch ein Tässchen Tee trinken ...« stöhnte Frau Sachlebinina kläglich.

»Na, worüber hast du dich denn so aufgeregt?« mit dieser Frage wandte sich der Alte in strengem, unzufriedenem Tone an Pawel Pawlowitsch, der aber nur lächelte und schwieg.

»Pawel Pawlowitsch, warum entführen Sie denn Alexej Iwanowitsch?« girrten die jungen Mädchen kläglich und sahen ihn gleichzeitig grollend an.

Nadeschda aber warf ihm einen so bösen Blick zu, daß er sich ganz zusammenkrümmte; aber er gab dennoch nicht nach.

»Aber ich bin ja Pawel Pawlowitsch wirklich Dank dafür schuldig, daß er mich an eine sehr wichtige Sache erinnert hat, die ich sonst vielleicht versäumt hätte«, sagte Weltschaninow lachend, drückte dem Hausherrn zum Abschiede die Hand und verbeugte sich vor der Hausfrau und den jungen Mädchen, und ganz besonders vor Katerina Fedossejewna, was wieder von allen bemerkt wurde.

»Wir sind Ihnen sehr dankbar für Ihren Besuch und werden uns stets freuen, Sie wiederzusehen, wir alle!« sagte Herr Sachlebinin nachdrücklich.

»Ach ja, wir werden uns so freuen ...« fiel die Hausfrau gefühlvoll ein.

»Kommen Sie wieder, Alexej Iwanowitsch, kommen Sie wieder!« ertönten zahlreiche Stimmen von der Veranda, als er bereits mit Pawel Pawlowitsch in den Wagen stieg, und ein Stimmchen rief etwas leiser als die andern hinterdrein:

»Kommen Sie wieder, lieber Alexej Iwanowitsch!«

»Das war die Rothaarige!« dachte Weltschaninow.