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Neapel

Walter Benjamin und Asja Lacis

Vor einigen Jahren wurde ein Priester, unsittlicher Vergehungen halber, auf einem Karren durch die Straßen Neapels gefahren. Unter Verwünschungen zog man ihm nach. An einer Ecke zeigte sich ein Hochzeitszug. Der Priester erhebt sich, macht das Zeichen des Segens, und was hinter dem Karren her war, fällt in die Knie. So unbedingt strebt in dieser Stadt der Katholizismus aus jeder Situation sich wiederherzustellen. Verschwände er vom Erdboden, dann zuletzt vielleicht nicht aus Rom, sondern aus Neapel.

Nirgends kann dieses Volk seiner reichen, aus dem Herzen der Großstadt selbst erwachsenen Barbarei gesicherter nachleben als im Schoße der Kirche. Es braucht den Katholizismus, denn mit ihm steht eine Legende, das Kalenderdatum eines Märtyrers, legalisierend noch über seinen Exzessen. Hier wurde Alfons von Liguori geboren, der Heilige, der die Praxis der katholischen Kirche geschmeidig gemacht hat, sachverständig dem Handwerk der Gauner und Huren zu folgen, um in der Beichte, deren dreibändiges Kompendium er schrieb, es mit gespannteren oder läßlicheren Kirchenstrafen zu kontrollieren. Sie allein, nicht die Polizei, ist der Selbstverwaltung des Verbrechertums, der Kamorra, gewachsen.

So denkt denn, wer geschädigt ist, nicht daran, die Polizei zu rufen, wenn ihm daran gelegen ist, wieder zu dem Seinen zu kommen. Durch bürgerliche oder priesterliche Mittelsleute, wo nicht selbst, geht er einen Kamorristen an. Durch ihn vereinbart er ein Lösegeld. Von Neapel bis Castellamare, längs der proletarischen Vorstädte, zieht sich das Hauptquartier der festländischen Kamorra. Denn dieses Verbrechertum meidet Quartiere, in denen es sich der Polizei zur Verfügung stellen würde. Es ist verteilt über Stadt und Vorstadt. Das macht sie gefährlich. Dem reisenden Bürger, der bis Rom sich von Kunstwerk zu Kunstwerk wie an einem Staket weitertastet, wird in Neapel nicht wohl.

Man konnte die Probe darauf grotesker nicht machen als durch Einberufung eines internationalen Philosophenkongresses. Spurlos fiel er im Feuerdunst dieser Stadt auseinander, während die Siebenhundertjahrfeier der Hochschule, zu deren blecherner Gloriole er verschrieben worden war, unter dem Getöse eines Volksfestes sich entfaltete. Klagend erschienen auf dem Sekretariat die Geladenen, denen Geld und Ausweispapiere im Handumdrehen entwendet waren. Aber besser findet auch der banale Reisende sich nicht zurecht. Baedeker selbst vermag ihn nicht zu begütigen. Hier sind die Kirchen nicht zu finden, die besternte Plastik steht im jeweils abgesperrten Museumsflügel, und vor den Werken der einheimischen Malerei warnt das Wort »Manierismus«.

Nichts ist genießbar als das berühmte Trinkwasser. Armut und Elend wirken so ansteckend, wie man sie Kindern vorstellt, und die närrische Angst, übervorteilt zu werden, ist nur die dürftige Rationalisierung dieses Gefühls. Wenn wirklich, wie Péladan sagte, das neunzehnte Jahrhundert die mittelalterliche, die natürliche Ordnung für die Lebensbedürfnisse des Armen verkehrte, Wohnung und Kleidung verbindlich gemacht wurden auf Kosten der Nahrung, so hat man hier diesen Konventionen gekündigt. Ein Bettler liegt gegen den Bürgersteig gelehnt auf dem Fahrdamm und schwenkt wie Abschiednehmende am Bahnhof den leeren Hut. Hier führt das Elend hinab, wie es vor zweitausend Jahren in die Krypten führte: noch heute geht der Weg zu den Katakomben durch einen »Garten der Qualen«, noch heute sind die Enterbten darinnen Führer. Beim Hospital San Gennaro dei poveri ist der Eingang ein weißer Gebäudekomplex, den man in zwei Höfen passiert. Zu beiden Seiten der Straße stehen die Bänke der Siechen. Den Heraustretenden folgen sie mit Blicken, die nicht verraten, ob sie ihnen ans Kleid sich klammern, um befreit zu werden oder unvorstellbare Gelüste an ihnen zu büßen. Im zweiten Hof sind die Kammerausgänge vergittert; dahinter stellen die Krüppel ihre Schäden zur Schau, und der Schrecken verträumter Passanten ist ihre Freude.

Einer der Alten führt und hält die Laterne dicht vor ein Bruchstück frühchristlicher Fresken. Nun läßt er das hundertjährige Zauberwort ertönen »Pompeji«. Alles, was der Fremde begehrt, bewundert und bezahlt, ist »Pompeji«. »Pompeji« macht die Gipsimitation der Tempelreste, die Kette aus Lavamasse und die lausige Person des Fremdenführers unwiderstehlich. Dieser Fetisch ist um so wundertätiger, als ihn die wenigsten von denen je gesehen haben, die er ernährt. Begreiflich, daß die wundertätige Madonna, die dort thront, eine nagelneue kostbare Wallfahrtskirche bekommt. In diesem Bau und nicht in dem der Vettier lebt Pompeji für die Neapolitaner. Und immer wieder kommen Gaunerei und Elend schließlich dort nach Hause.

Phantastische Reiseberichte haben die Stadt betuscht. In Wirklichkeit ist sie grau: ein graues Rot oder Ocker, ein graues Weiß. Und ganz grau gegen Himmel und Meer. Nicht zum wenigsten dies benimmt dem Bürger die Lust. Denn wer Formen nicht auffaßt, bekommt hier wenig zu sehen. Die Stadt ist felsenhaft. Aus der Höhe, wo die Rufe nicht heraufdringen, vom Castell San Martino gesehen, liegt sie in der Abenddämmerung ausgestorben, ins Gestein verwachsen. Nur ein Uferstreifen zieht sich eben, dahinter staffeln die Bauten sich übereinander. Mietskasernen mit sechs und sieben Stockwerken, auf Untergründen, an denen Treppen herauflaufen, erscheinen gegen die Villen als Wolkenkratzer. In den Felsengrund selbst, wo er das Ufer erreicht, hat man Höhlen geschlagen. Wie auf Eremitenbildern des Trecento zeigt sich hier und da in den Felsen eine Türe. Steht sie offen, so blickt man in große Keller, die Schlafstelle und Warenlager zugleich sind. Weiterhin leiten Stufen zum Meer, in Fischerkneipen, die man in natürlichen Grotten eingerichtet hat. Trübes Licht und dünne Musik dringt abends von dort nach oben.

Porös wie dieses Gestein ist die Architektur. Bau und Aktion gehen in Höfen, Arkaden und Treppen ineinander über. In allem wahrt man den Spielraum, der es befähigt, Schauplatz neuer unvorhergesehener Konstellationen zu werden. Man meidet das Definitive, Geprägte. Keine Situation erscheint so, wie sie ist, für immer gedacht, keine Gestalt behauptet ihr »so und nicht anders«. So kommt die Architektur, dieses bündigste Stück der Gemeinschaftsrhythmik, hier zustande. Zivilisiert, privat und rangiert nur in den großen Hotel- und Speicherbauten der Kais – anarchisch, verschlungen, dörflerisch im Zentrum, in das man vor vierzig Jahren große Straßenzüge erst hineingehauen hat. Und nur in diesen ist das Haus im nordischen Sinn die Zelle der Stadtarchitektur. Dagegen ist es im Innern der Häuserblock, wie er, als sei es mit eisernen Klammern, an seinen Ecken zusammengehalten ist durch die Wandbilder der Madonna.

Niemand orientiert sich an Hausnummern. Läden, Brunnen und Kirchen geben die Anhaltspunkte. Und nicht immer einfache. Denn die übliche Neapolitaner Kirche prunkt nicht auf einem Riesenplatze, weithin sichtbar, mit Quergebäuden, Chor und Kuppel. Sie liegt versteckt, eingebaut; hohe Kuppeln sind oft nur von wenigen Orten zu sehen, auch dann ist es nicht leicht, zu ihnen zu finden; unmöglich, die Masse der Kirche aus der der nächsten Profanbauten zu sondern. Der Fremde geht an ihr vorüber. Die unscheinbare Tür, oft nur ein Vorhang, ist die geheime Pforte für den Wissenden. Ihn versetzt aus dem Wirrsal schmutziger Höfe ein Schritt in die lautere Einsamkeit eines hohen geweißten Kirchenraums. Seine Privatexistenz ist die barocke Ausmündung gesteigerter Öffentlichkeit. Denn nicht in den vier Wänden, unter Frau und Kindern geht sie hier auf, sondern in der Andacht oder in der Verzweiflung. Nebenstraßen lassen den Blick über schmutzige Stiegen in Kneipen hinabgleiten, wo drei, vier Männer, in Abständen, hinter Tonnen verborgen wie hinter Kirchenpfeilern, sitzen und trinken.

In solchen Winkeln erkennt man kaum, wo noch fortgebaut wird und wo der Verfall schon eingetreten ist. Denn fertiggemacht und abgeschlossen wird nichts. Porosität begegnet sich nicht allein mit der Indolenz des südlichen Handwerkers, sondern vor allem mit der Leidenschaft für Improvisieren. Dem muß Raum und Gelegenheit auf alle Fälle gewahrt bleiben. Bauten werden als Volksbühne benutzt. Alle teilen sie sich in eine Unzahl simultan belebter Spielflächen. Balkon, Vorplatz, Fenster, Torweg, Treppe, Dach sind Schauplatz und Loge zugleich. Noch die elendste Existenz ist souverän in dem dumpfen Doppelwissen, in aller Verkommenheit mitzuwirken an einem der nie wiederkehrenden Bilder neapolitanischer Straße, in ihrer Armut Muße zu genießen, dem großen Panorama zu folgen. Eine hohe Schule der Regie ist, was auf den Treppen sich abspielt. Diese, niemals ganz freigelegt, noch weniger aber in dem dumpfen nordischen Hauskasten geschlossen, schießen stückweise aus den Häusern heraus, machen eine eckige Wendung und verschwinden, um wieder hervorzustürzen.

Auch stofflich hat die Straßendekoration mit der theatralischen enge Verwandtschaft. Papier spielt die größte Rolle. Rote, blaue und gelbe Fliegenwedel, Altäre aus farbigem Glanzpapier an den Mauern, papierne Rosetten an den rohen Fleischstücken. Dann die Kunstfertigkeiten des Varietés. Jemand kniet auf dem Asphalt, neben sich ein Kästchen, und es ist eine der belebtesten Straßen. Mit bunter Kreide malt er auf den Stein einen Christus, darunter etwa den Kopf der Madonna. Indessen hat ein Kreis sich geschlossen, der Künstler erhebt sich, und während er neben seinem Werk wartet, eine Viertelstunde, eine halbe, fallen spärliche, gezählte Münzen aus der Runde auf Glieder, Kopf und Rumpf seiner Figur. Bis er sie aufliest, alles auseinandergeht und in wenigen Augenblicken das Bild zertreten ist.

Unter solchen Fertigkeiten ist nicht die letzte, Maccaroni mit den Händen zu essen. Gegen Entgelt zeigt man es Fremden. Anderes macht sich nach Tarifen bezahlt. Händler geben einen festen Preis für die Stummel von Zigaretten, die nach Schluß der Cafés aus den Ritzen geklaubt werden. (Früher ging man mit Windlichtern auf die Suche.) Neben den Resten aus Speisewirtschaften, gekochten Katzenschädeln und Muscheln werden sie an den Ständen im Hafenviertel verkauft. – Musik zieht umher: nicht trübselig für die Höfe, sondern strahlend für Straßen. Der breite Karren, eine Art Xylophon, ist mit Liedertexten farbig behangen. Hier kann man sie kaufen. Einer dreht; der andere, daneben, erscheint mit dem Teller vor jedem, der träumerisch stehen bleiben sollte. So ist alles Lustige fahrbar: Musik, Spielzeug, Eis verbreiten sich durch die Straßen.

Rückstand der letzten und Vorspiel der folgenden Feiertage ist diese Musik. Unwiderstehlich durchdringt der Festtag einen jeden Werktag. Porosität ist das unerschöpflich neu zu entdeckende Gesetz dieses Lebens. Ein Gran vom Sonntag ist in jedem Wochentag versteckt und wieviel Wochentag in diesem Sonntag!

Dennoch kann keine Stadt in den paar Stunden Sonntagsruhe schneller welken als Neapel. Es steckt voller Festmotive, die sich ins Unscheinbarste eingenistet haben. Läßt man vors Fenster Jalousien fallen, so ist das, als ob anderswo Fahnen gehißt werden. Bunte Knaben angeln in tiefblauen Bächen und sehen zu rot geschminkten Kirchtürmen auf. Hoch über die Straßen ziehen sich Wäscheleinen, an denen wie gereihte Flaggen das Zeug hängt. Zarte Sonnen entzünden sich in den Glasbottichen mit Eisgetränken. Tag und Nacht strahlen diese Pavillons mit den blassen aromatischen Säften, an denen selbst die Zunge lernt, was es mit der Porosität für eine Bewandtnis hat. Ist aber Politik oder Kalender irgend danach angetan, so schießt all dieses Heimliche und Aufgeteilte zum lauten Fest zusammen. Und regelmäßig bekrönt es sich mit einem Feuerwerk über dem Meere. Ein einziger Feuerstreif läuft an den Abenden von Juli bis September die Küste zwischen Neapel und Salerno entlang. Bald über Sorrent, bald über Minori oder Prajano, immer aber über Neapel, stehen feurige Kugeln. Hier hat das Feuer Kleid und Kern. Es ist Moden und Kunstgriffen unterworfen. Jede Kirchengemeinde hat das Fest der benachbarten durch neue Lichteffekte zu schlagen.

Dabei zeigt das älteste Element des chinesischen Ursprungs, der Wetterzauber in Gestalt der drachenartig entfalteten Raketen, sich weit dem tellurischen Prunk überlegen: den Sonnen, die am Boden kleben, und dem vom Elmfeuer umlohten Kruzifix. Am Strande bilden die Pinien des Giardino Pubblico einen Kreuzgang. Fährt man in der Festnacht darunter hin, so nistet der Feuerregen in allen Wipfeln. Aber auch hier nichts Träumerisches. Erst der Knall gewinnt jeder Apotheose die Volksgunst. Zu Piedigrotta, dem Hauptfest der Neapolitaner, setzt diese kindische Lust am Getöse ein wildes Gesicht auf. In der Nacht zum 8. September ziehen Banden, bis zu hundert Mann stark, durch alle Straßen. Sie blasen auf riesigen Tüten, deren Schallöffnung mit grotesken Masken verkleidet ist. Gewaltsam, wenn nicht anders, wird man eingekreist, und aus zahllosen Röhren dringt der dumpfe Ton zerreißend ins Ohr. Ganze Gewerbe beruhen auf dem Spektakel. »Roma«, »Corriere di Napoli« ziehen die Zeitungsjungen wie die Gummistangen im Munde lang. Ihr Schrei ist städtische Manufaktur.

Erwerb, der bodenständig in Neapel ist, streift den Hazard und hält am Feiertage fest. Die bekannte Liste der sieben Kardinalsünden verlegte den Hochmut nach Genua, den Geiz nach Florenz (die alten Deutschen waren anderer Meinung und nannten das, was man griechische Liebe heißt, Florenzen), die Üppigkeit nach Venedig, den Zorn nach Bologna, die Fresserei nach Mailand, den Neid nach Rom und die Faulheit nach Neapel. Das Lottospiel, hinreißend und verzehrend wie nirgends sonst in Italien, bleibt Typus des Erwerbslebens. Jeden Sonnabend um vier Uhr drängt man sich auf dem Vorplatz des Hauses, wo die Nummern gezogen werden. Neapel ist eine der wenigen Städte mit eigener Auslosung. Mit Leihhaus und Lotto hält der Staat dieses Proletariat in der Kneifzange: was er im einen ihnen zuschanzt, nimmt er im anderen wieder zurück. Der bedachtere und liberalere Rausch des Hazards, an dem die ganze Familie ihren Anteil nimmt, ersetzt den alkoholischen.

Und ihm assimiliert sich das Geschäftsleben. Ein Mann steht in einer ausgespannten Kalesche an einer Straßenecke. Man drängt sich um ihn. Der Kutschbock ist aufgeklappt, und der Händler entnimmt ihm etwas unter beständigen Anpreisungen. Es verschwindet, ehe man es zu sehen bekommt, in einem rosa oder grün gefärbten Papierchen. So hält er es hoch in der Hand, und im Nu ist es gegen einige Soldi verkauft. Unter der gleichen geheimnisvollen Gebärde wird ein Stück nach dem anderen abgesetzt. Sind Lose in diesem Papier? Kuchen mit einer Münze in jedem zehnten? Was macht die Leute so begehrlich und den Mann so undurchdringlich wie den Mograby? – Er verkauft eine Zahnpasta.

Unschätzbar ist für dies Geschäftsgebaren die Auktion. Wenn der Straßenhändler früh um acht beim Auspacken damit begonnen hat, jedes Stück: Regenschirme, Hemdenstoffe, Umschlagtücher seinem Publikum einzeln vorzustellen, mißtrauisch, als müsse er selbst erst die Ware prüfen, dann sich erhitzt, phantastische Preise macht und während er das große Tuch für fünfhundert Lire, das er ausgebreitet hat, gelassen wieder zusammenlegt, mit jedem Faltenschlag sich unterbietet und schließlich, wie es klein auf seinem Arm liegt, für fünfzig es ablassen will, so ist er den ältesten Jahrmarktspraktiken treu geblieben. – Von der verspielten Handelslust der Neapolitaner gibt es hübsche Geschichten. Auf einer belebten Piazza entgleitet einer dicken Frau ihr Fächer. Hilflos sieht sie sich um; selbst ihn aufzuheben, ist sie zu unförmig. Ein Kavalier erscheint und ist bereit, für fünfzig Lire diesen Dienst zu leisten. Sie verhandeln, und die Dame erhält den Fächer für zehn.

Glückselige Zerstreutheit im Warenlager! Denn das ist hier noch eins mit dem Verkaufsstand: es sind Basare. Der lange Gang ist bevorzugt. In einem glasgedeckten gibt es einen Spielzeugladen (in dem man auch Parfüms und Likörgläser kaufen könnte), der neben Märchengalerien bestehen würde. Als Galerie wirkt Neapels Hauptstraße, der Toledo. Sie gehört zu den verkehrsreichsten der Erde. Beiderseits dieses schmalen Ganges liegt, was in der Hafenstadt zusammenkam, frech, roh, verführerisch ausgebreitet. Nur Märchen kennen diese lange Zeile, die man durchschreitet, ohne rechts und links zu blicken, wenn man nicht dem Teufel verfallen will. Es gibt ein Warenhaus, in Städten sonst der reiche magnetische Kaufplatz. Hier ist es reizlos und all das Vielerlei auf engerem Raum ihm überlegen. Aber mit einer winzigen Niederlage – Spielbällen, Seifen, Schokoladen – taucht es anderswo unter den kleinen Verkaufsständen versteckt wieder auf.

Ausgeteilt, porös und durchsetzt ist das Privatleben. Was Neapel von allen Großstädten unterscheidet, das hat es mit dem Hottentottenkral gemein: jede private Haltung und Verrichtung wird durchflutet von Strömen des Gemeinschaftslebens. Existieren, für den Nordeuropäer die privateste Angelegenheit, ist hier wie im Hottentottenkral Kollektivsache.

So ist das Haus viel weniger das Asyl, in welches Menschen eingehen, als das unerschöpfliche Reservoir, aus dem sie herausströmen. Nicht nur aus Türen bricht das Lebendige. Nicht nur auf den Vorplatz, wo die Leute auf Stühlen ihre Arbeit tun (denn sie haben die Fähigkeit, ihren Leib zum Tisch zu machen). Haushaltungen hängen von Balkons herunter wie Topfpflanzen. Aus den Fenstern der höchsten Stockwerke kommen an Seilen Körbe für Post, Obst und Kohl.

Wie die Stube auf der Straße wiederkehrt, mit Stühlen, Herd und Altar, so, nur viel lauter, wandert die Straße in die Stube hinein. Noch die ärmste ist so voll von Wachskerzen, Heiligen aus Biskuit, Büscheln von Photos an der Wand und eisernen Bettstellen wie die Straße von Karren, Menschen und Lichtern. Das Elend hat eine Dehnung der Grenzen zustande gebracht, die Spiegelbild der strahlendsten Geistesfreiheit ist. Schlaf und Essen haben keine Stunde, oftmals keinen Ort.

Je ärmer das Viertel, desto zahlreicher die Garküchen. Von Herden auf offener Straße holt, wer es kann, was er braucht. Die gleichen Speisen schmecken verschieden bei jedem Koch; nicht aufs Geratewohl wird verfahren, sondern nach erprobten Rezepten. Wie im Fenster der kleinsten trattoria Fische und Fleisch vor dem Begutachtenden aufgehäuft liegen, darin ist eine Nuance, die über die Forderung des Kenners hinausgeht. Im Fischmarkt hat dieses Schiffervolk sich die niederländisch-grandiose Freistatt dafür geschaffen. Seesterne, Krebse, Polypen aus dem von Ausgeburten wimmelnden Wasser des Golfs bedecken die Bänke und werden oft roh mit ein wenig Zitrone verschlungen. Phantastisch werden selbst die banalen Tiere des Festlands. Im vierten, fünften Stock dieser Mietskasernen werden Kühe gehalten. Die Tiere kommen nie auf die Straße, und ihre Hufe sind so lang geworden, daß sie nicht mehr stehen können.

Wie sollte sich schlafen lassen in solchen Stuben? Da stehen zwar Betten, soviel der Raum faßt. Aber sind es auch sechs oder sieben, so gibt es an Bewohnern oft mehr als das Doppelte. Daher sieht man Kinder spät nachts, um zwölf, ja um zwei, noch auf den Straßen. Mittags liegen sie dann schlafend hinterm Ladentisch oder auf einer Treppenstufe. Dieser Schlaf, wie auch Männer und Frauen in schattigen Winkeln ihn nachholen, ist also nicht der behütete nordische. Auch hier Durchdringung von Tag und Nacht, Geräuschen und Ruhe, äußerem Licht und innerem Dunkel, von Straße und Heim.

Bis ins Spielzeug setzt sich das fort. Zerflossen, mit den blassen Farben des Münchner Kindls liegt die Madonna an den Häuserwänden. Der Knabe, den sie von sich streckt wie ein Szepter, begegnet genau so starr, gewickelt, ohne Arm und Bein als Holzpuppe in den dürftigsten Läden von Santa Lucia. Mit diesen Stücken können die Fratzen aufschlagen, wo sie wollen. Auch in ihren Fäustchen Szepter und Zauberstab, so behauptet der byzantinische Heiland sich heute noch. Rohes Holz hinten; angestrichen ist nur die Vorderseite. Blaues Kleid, weiße Tupfen, roter Saum und rote Backen.

Aber der Dämon der Unzucht ist in manche dieser Puppen gefahren, die unter billigem Briefpapier, Holzklammern und Blechschäfchen in den Schaufenstern liegen. Schnell machen in den übervölkerten Quartieren auch die Kinder Bekanntschaft mit dem Geschlecht. Wird aber irgendwo ihr Zuwachs verheerend, stirbt ein Familienvater oder siecht die Mutter, so bedarf es nicht erst naher oder ferner Verwandter. Eine Nachbarin nimmt auf kurze oder lange Zeit ein Kind an ihren Tisch, und so durchdringen sich Familien in Verhältnissen, die der Adoption gleichkommen können. Wahre Laboratorien dieses großen Durchdringungsprozesses sind die Cafes. Das Leben kann sich in ihnen nicht setzen, um zu stagnieren. Es sind nüchterne offene Räume vom Schlage der politischen Volkscafés und das wienerische, das bürgerlich-beschränkte literarische Wesen ist ihr Gegensatz. Neapolitaner Cafés sind bündig. Längerer Aufenthalt ist kaum möglich. Eine Tasse überheißen caffè espresso – in den heißen Getränken ist diese Stadt so unübertroffen wie in den Sorbets, Spumones und Gelaten – komplimentiert den Besucher hinaus. Die Tische glänzen kupfern, sie sind klein und rund, und eine vierschrötige Gesellschaft macht schon auf der Schwelle zögernd kehrt. Nur wenige Menschen haben auf kurze Weile hier Platz. Drei schnelle Handbewegungen, das ist ihre Bestellung.

Die Gebärdensprache reicht weiter als irgendwo sonst in Italien. Undurchdringlich ist ihr Gespräch für jeden Auswärtigen. Ohren, Nase, Augen, Brust und Achseln sind Signalstationen, die von den Fingern bezogen werden. Diese Aufteilung kehrt wieder in ihrer wählerisch spezialisierten Erotik. Hilfsbereite Gesten und ungeduldige Berührungen fallen dem Fremden durch eine Regelmäßigkeit auf, die den Zufall ausschließt. Ja, hier wäre er verraten und verkauft, aber gutmütig schickt der Neapolitaner ihn fort. Schickt ihn einige Kilometer weiter nach Mori. »Vedere Napoli e poi Mori«, sagt er mit einem alten Scherzwort. »Neapel sehen und sterben«, sagt der Deutsche ihm nach.