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Die Bastille, das alte französische Staatsgefängnis

Im französischen Kalender ist der 14. Juli rot gedruckt. Das ist der Nationalfeiertag. An ihm wird seit bald 150 Jahren die Erstürmung der Bastille gefeiert, die am 14. Juli 1789 stattfand und das erste große sichtbare Zerstörungswerk der Revolution war. Es hat keinen langen Kampf gekostet, bis dieser Bau eingenommen wurde. Zwar war er eine starke Festung, von mächtigen Türmen geschützt, von einem Festungsgraben umgeben, aufgeführt in 14jähriger Arbeit von 1369-1383. Wir haben noch viele Bilder von ihr. Finster und gedrungen stand sie am Rande der Riesenstadt. Ihre Mauern waren über 400 Jahre alt, als sie zusammenbrachen. Trotzdem gelang es einem schwach bewaffneten, wenn auch riesigen Volkshaufen, den Kommandanten im Handumdrehen zur Übergabe zu zwingen. Und als der Haufe dann durch die weiten Gänge stürmte, die Festung von den Kellergewölben bis zu den Dachsparren durchsuchte, mag wohl mancher erstaunt gewesen sein, in diesem Haus des Schreckens nur 16 arme Gefangene noch vorzufinden. Und dem entsprach die militärische Besetzung der Bastille im Augenblick des Sturms. Nicht mehr als 40 Schweizer Soldaten und 80 Invaliden standen dem Gouverneur zur Verfügung. Wie dennoch der ungeheure Haß des Volks von Paris gegen diesen Bau zu verstehen ist, ein Haß, der so wild war, daß diejenigen unter den Revolutionären, die dem Gouverneur freien Abzug gestattet hatten, nicht hindern konnten, daß er vom Volke erschlagen wurde, das werdet ihr hoffentlich in einer halben Stunde verstanden haben.

Vor allem einmal war die Bastille kein gewöhnliches Gefängnis. Es kamen da nur Leute hinein, denen man nachsagte, daß sie sich gegen die Sicherheit des Staates vergangen hätten. Dabei unterschied man Staatsgefangene und Polizeigefangene. Die Staatsgefangenen waren die, die sich wenigstens angeblich wirkliche Handlungen, Verschwörungen, Verrätereien oder ähnliches hatten zuschulden kommen lassen; die sehr viel zahlreicheren Polizeigefangenen waren Schriftsteller, Buchhändler, Kupferstecher, ja selbst Buchbinder oder -binderinnen, die in Wirklichkeit oder angeblich irgendetwas mit Büchern zu tun hatten, die dem König oder seinen Günstlingen mißliebig waren. Die Bastille war wirklich ein ungewöhnliches Gefängnis. An Festtagen, besonders wenn schönes Wetter war, konnte man auf ihren Umwallungen und hinter den Zinnen ihrer Türme vergnügte Pariser hin und her spazieren sehen. Vornehme Kutschen, die Besuch zum Gouverneur brachten, rollten über die Zugbrücke, Musikanten zogen ein, um bei einem Galadiner des Gouverneurs, d.h. eigentlich des Gefängnisdirektors, aufzuspielen. In den mächtigen Türmen aber und in den dunklen Kellern sah es um die gleiche Zeit anders aus. Aber die draußen merkten von denen drinnen so wenig wie die drinnen von ihren Mitbürgern in der Freiheit. Schmale Schirmdächer, die noch heute in den Zuchthäusern vor viele Fenster geschoben werden, hinderten, daß die meisten Gefangenen etwas außer einem Stückchen Himmel zu sehen bekamen. Gar nicht zu reden von anderen, die in Verliesen saßen, denen nur durch eine winzige Mauerritze ein Lichtstrahl zufiel, der das Ungeziefer, mit dem sie die Zelle teilen mußten, beleuchtete. Darüber, wer gerade in der Bastille saß, gab es in Paris nur Gerüchte. Niemand konnte sich auf seine Verhaftung vorbereiten. Ganz plötzlich erschienen die Beamten und packten den Verhafteten in eine Droschke, die, um kein Aufsehen zu erregen, ein gewöhnlicher Mietswagen war. Wenn dieser dann im Hof der Bastille hielt und man sie herausließ, mußten die Wachen ihren Hut vors Gesicht halten, denn niemand außer dem Gouverneur durfte wissen, mit wem man es in den Gefangenen zu tun hatte. Im Innern der Bastille sprach es sich natürlich dennoch schnell herum. Draußen aber erfuhr es kein Mensch, und gleich erzähle ich euch die Geschichte von dem Mann mit der eisernen Maske, von dem es bis auf den heutigen Tag keiner erfuhr, wer er war.

So schnell geht es bei diesen Verhaftungen zu, daß man zu sagen pflegte, es sei ein Glück, wenn einer am Tage festgenommen würde, nachts ließe man ihm kaum die Zeit, sich anzukleiden. So schnell, daß wir von einem Diener wissen, der, als sein Herr eines Tages in einer solchen Kutsche verschwand, nichtsahnend mit aufsprang und dann in der Bastille zwei Jahre sitzen mußte, nur aus dem Grunde, weil seine Entlassung Scherereien gemacht hätte. Die Grundlagen der Verhaftung waren sogenannte Siegelbriefe – französisch Lettres de cachet –, auf denen nichts als der Name dessen vermerkt war, der zu verhaften war. Den Grund der Verhaftung erfuhr der Gefangene oft erst nach Wochen, manchmal nach Monaten, manchmal nie. Wenn ihr nun weiter hört, daß manche Günstlinge des Königs dergleichen Briefe zur Verhaftung bekamen, auf denen der Name des Gefangenen nicht ausgefüllt war, so daß ihn hinzusetzen in ihrem Belieben stand, so könnt ihr euch denken, welche Mißbräuche hier die Regel waren. Wie es in der Bastille im allgemeinen zuging, das erfährt man am besten aus der Geschichte des Mannes mit der eisernen Maske, die ich euch nun erzähle.

»Donnerstag, den 18. September 1689, um 3 Uhr nachmittags ist der Gouverneur der Bastille, Herr v. Saint Mars zum erstenmal von den Margareteninseln (dort befand sich ein anderes großes Gefängnis) hier angekommen. Er hat in seiner Sänfte einen Gefangenen mitgebracht, dessen Name geheimgehalten wird und der immer verlarvt ist. Zuerst kam er in den Turm de la Bassinière – alle Türme der Bastille haben besondere Namen; um 9 Uhr, als es dunkel geworden war, wurde mir befohlen ihn in das dritte Zimmer eines anderen Turms zu führen, ein Zimmer, das ich vorher sorgfältig mit allen nur erdenklichen Möbeln zu versehen hatte.« – Das ist nun alles, was uns schwarz auf weiß von dem Mann mit der eisernen Maske bezeugt ist, bis auf die Nachricht von seinem Tode, die wir im Tagebuche desselben Leutnants fünf Jahre später, am Montag, dem 19. November 1703, eingetragen finden. »Der unbekannte Gefangene, der beständig mit einer schwarz-samtenen Maske verlarvt ist und den der Gouverneur vor fünf Jahren von den Margareteninseln mit sich hergebracht hat, ist, nachdem er gestern, als er aus der Messe kam, etwas unwohl wurde, heute gegen zehn Uhr gestorben, ohne vorher eigentlich krank gewesen zu sein.« Schon am nächsten Tage ist er begraben worden, und der Leutnant hat säuberlich in sein Tagebuch eingetragen, daß die Beerdigung 40 Franken gekostet habe. Es ist ferner sicher, daß der Körper ohne Kopf begraben ist und daß dieser abgeschnitten, in verschiedene Stücke zerteilt, um ihn ganz sicher unkenntlich zu machen, an verschiedenen Orten vergraben wurde. Die Angst des Königs und des Gouverneurs der Bastille, es könnte am Ende doch nun nach dem Tode sich noch herausstellen, wer der Mann mit der eisernen Maske gewesen sei, ging so weit, daß man Befehl gab, überhaupt alles, was er an Wäsche, Kleidern, Matratzen, Betten usw. gebraucht hatte, zu verbrennen; daß die Wände des Zimmers, das er innegehabt, erst sorgfältig abgekratzt, dann geweißt worden sind, und daß man die Vorsicht sogar so weit trieb, alle Mauersteine zu lockern und einen nach dem anderen aufzuheben, aus Angst, er könne irgendwo einen Zettel versteckt oder sonst ein Zeichen gemacht haben, wodurch er kenntlich würde. Seine Maske war nicht von Eisen, obwohl er doch seinen Namen daher hatte, sondern aus schwarzem Samt, der mit Fischbein versteift war. Am Hinterkopf war sie ihm mit einem versiegelten Schloß befestigt und so gebaut, daß es ihm unmöglich war, sie abzulegen, ja sogar keinem anderen gelingen konnte, ihn zu befreien, wenn er den Schlüssel vom Schloß nicht hatte. Er konnte aber ohne besondere Mühe damit doch essen – es war der Befehl gegeben, ihn sogleich zu töten, wenn er sich zu erkennen gäbe. Man gab ihm, was er verlangte. Daß er ein vornehmer Mann war, geht neben sehr vielen anderen Anzeichen, neben der Rücksicht, die ihm erwiesen wurde, aus seiner Vorliebe für feine Wäsche, kostbare Kleider und seiner Kunst im Zitherspielen hervor. Sein Tisch war immer mit den erlesensten Gerichten besetzt, und der Gouverneur wagte nur selten, in seiner Gegenwart sich zu setzen. Ein alter Arzt in der Bastille, der diesen merkwürdigen Mann von Zeit zu Zeit sah und untersuchte, hat später erklärt, daß er nie sein Gesicht gesehen habe. Der Mann mit der eisernen Maske war von sehr schöner Erscheinung, sehr guter Haltung und nahm schon durch den bloßen Klang seiner Stimme alle Welt für sich ein. Bei aller scheinbaren Demut und Unterordnung ist es ihm aber, wie man behauptet, dennoch gelungen, der Außenwelt über sich eine Nachricht zukommen zu lassen. Er habe, so erzählt man, eines Tages einen hölzernen Teller aus dem Fenster hinausgeworfen und darauf habe man mit einem Messer den Namen Macmouth eingekratzt gefunden. Diese Geschichte spielt in unzähligen Versuchen, die gemacht worden sind, um hinter die Person des geheimnisvollen Mannes zu kommen, eine große Rolle. Seit jeher waren alle Forscher sich einig, dieser Staatsgefangene könne nur ein Mann aus vornehmstem Hause, ja aller Wahrscheinlichkeit nur aus einem regierenden Hause gewesen sein. Nun regierte damals in England der König Jacob II., gegen welchen ein Sohn Karls II., als Gegenkönig, sich erhoben hatte. Dieser Gegenkönig war der Herzog von Monmouth. Er wurde geschlagen, und am 15. Juli 1685 wurde er hingerichtet. Sehr bald danach entstand aber das Gerücht, der Hingerichtete sei ein Offizier des Herzogs von Monmouth, der sich, um seinem Herrn das Leben zu retten, für ihn habe hinrichten lassen. Der wahre Herzog sei nach Frankreich entkommen, dort aber von Ludwig XIV. festgesetzt worden. Der Mann mit der eisernen Maske sei dieser Herzog. Das wollte ich euch erzählen, trotzdem ihr wissen müßt, daß im Laufe der Jahrhunderte eine ganze Anzahl von Erklärungen aufgetaucht sind, die kaum schlechter sind als diese. Eine Gewißheit hat bis heute keiner der vielen Geschichtsschreiber, die dem nachgeforscht haben, gewinnen können.

Ich habe euch erzählt, wie jeder, der aus diesem Gefängnis herauskam, eine Verpflichtung zu unterschreiben hatte, niemals ein Sterbenswort von dem zu verraten, was er darinnen gehört und gesehen hatte. Wenn aber schon heute nicht alle Verordnungen so heiß gegessen werden, wie sie gekocht sind, so war das damals erst recht nicht der Fall. Darum wissen wir sehr viel über die Bastille. Und von wem sonst sollten wir es wissen als von den Gefangenen? Denn die Leute, die sie bewachten, hatten gewiß kein Interesse, die vielen Unmenschlichkeiten und Schikanen, deren sie sich schuldig machten, der Nachwelt zu überliefern. Von den vornehmen und gebildeten Leuten dagegen, die so zahlreich in der Bastille gesessen haben, haben sehr viele später ihre Lebenserinnerungen oder mindestens ihre Erinnerungen an die Jahre in der Bastille erscheinen lassen. Natürlich nicht in Frankreich. Man machte das damals so, daß man die Manuskripte ins Ausland, gewöhnlich nach Holland, schmuggeln ließ oder mindestens, wenn sie schon in Frankreich gedruckt wurden, doch einen holländischen Ort, gewöhnlich Den Haag, als Erscheinungsort angab. Aus einem dieser Erinnerungsbücher, das Constantin von Renneville, der unter Ludwig XIV. in der Bastille gesessen hat, schrieb, lese ich euch jetzt eine Seite vor, damit ihr seht, wie vielfältig die Verständigungsmittel zwischen den armen Gefangenen, denen doch aller Verkehr untereinander verboten war, in Wahrheit gewesen sind.

»Mein beständiger Wunsch«, schreibt der Herr von Renneville später nach seiner Befreiung, »blieb der Umgang mit irgendeinem Menschen. Der Mensch ist zur Geselligkeit geschaffen, denn dieses natürliche Verlangen wurde durch die Einsamkeit, in der ich lebte, noch verschärft. Diejenigen, die unter mir saßen, antworteten mir nie; aber die über mir gaben mir schließlich Merkzeichen. Es war jedoch nicht möglich, wenigstens sehr gefährlich, die Decke so zu durchbohren, daß man kleine Zettelchen hätte hindurchstecken können. Denn sie war so weiß und eben, daß jede kleinste Scharte auf ihr vom Wärter wäre bemerkt worden. Durch das viele Hin- und Hersinnen erfand ich trotzdem ein Mittel, denen oben meine Gedanken zu verstehen zu geben. Freilich war es langsam und erforderte viel Aufmerksamkeit, aber eben darum beschäftigte es uns länger und behütete uns in unserer Schlaflosigkeit vor Langweile. Ich dachte mir ein Alphabet und gab es durch Stöße an die Mauer mit einem Stock und dem Stuhl zu erkennen. Ein A war ein Stoß, ein B erforderte zwei, ein C drei usw. Eine kleine Pause bezeichnete den Übergang eines Buchstabens zum anderen; eine längere aber deutete das Ende eines Wortes an. Nach langem Wiederholen begriffen es die, die über mir saßen, und ich war auf das Freudigste überrascht, als ich eines Tages bemerkte, daß sie mich auf dieselbe Weise befragten: wer ich wäre, warum ich hier säße usf. Als ich später als besondere Vergünstigung einen Gefährten in mein Zimmer bekam, gab ich diese unbequeme Art, mich zu unterhalten, auf. Fünf Jahre hörte ich nichts mehr davon, und ich verwunderte mich nicht wenig, als ich nachher andere Gefangene auf diese Art mit der größten Geläufigkeit sprechen hörte. Meine Erfindung war sehr vervollkommnet worden, und sie wurde die Kunst, mit dem Stock zu sprechen, genannt. Andere in ihrer Not erfanden noch seltsamere Dinge. Da war ein Offizier, dem hatte man seinen Adel, den er wirklich besaß, nicht anerkennen wollen, und um mit seinen Ansprüchen durchzudringen, hatte er schließlich eine Urkunde, die ihm abhanden gekommen war, gefälscht. Nun saß er in der Bastille und, um sich mit seinen Mitgefangenen zu unterhalten, griff er dazu, mit Kohle sehr groß einzelne Worte auf den Tisch in seinem Zimmer zu malen. Diesen Tisch schleppte er dann ans Fenster und kippte ihn um, so daß die Platte in der Fensteröffnung erschien. Die Worte waren so groß geschrieben, daß man sie auch aus entfernteren Turmfenstern noch erkennen konnte, und andere Gefangene erwiderten ihm auf die gleiche Weise. – Einer der Gouverneure hielt eine Zeitlang einen Hund, der sich oft im Hofe der Bastille herumtrieb. Die Gefangenen verkürzten sich damit die Zeit, dem Hund das Apportieren beizubringen, indem sie Papierknäuel in den Hof warfen, die der Hund auffing und wiederbrachte. Als sie ihn schließlich soweit abgerichtet hatten, daß er die Knäuel vor ganz bestimmten Zellen niederlegte, begannen sie, das Papier, ehe sie es hinabwarfen und zerknüllten, mit Nachrichten zu beschreiben. Sie kamen so mit dem apportierenden Hund vom einen zum andern. Der Gouverneur kam aber eines Tages dahinter und ließ die Fenster so eng vergittern, daß niemand mehr etwas hinauswerfen konnte.«

So streng man auch mit den Gefangenen umsprang, eines wurde in der Bastille sehr ungern gesehen: daß nämlich einer der Insassen dort starb. Sehr selten kam es vor, daß Leute, die dort eingekerkert waren, am Ende ihres Prozesses zum Tode verurteilt wurden, und wenn das etwa geschah, so wurden sie vorher noch kurz in einem anderen gewöhnlichen Gefängnis untergebracht. Denn dort in der Bastille hielt man immer daran fest, daß sie eigentlich ein Haus des Königs sei, in dem es kein Ärgernis geben dürfe. Daher trug man in dem berühmten Buch der Ausgänge, von welchem ich euch gesprochen habe, auch bei denjenigen, die hingerichtet worden waren, ein, sie seien an irgendeiner Krankheit gestorben. Wurde einer der Gefangenen aber wirklich krank, so ließ man, wenn es nicht gerade sich um einen besonders vornehmen handelte, zuerst mal den Barbier kommen, der ihn zur Ader ließ, und erst wenn es ganz schlimm aussah, schickte man nach dem Arzt. Der beeilte sich nicht mit Kommen, denn erstens wohnte er sehr weit weg und zweitens wurde er nicht bezahlt, sondern bekam nur ein ganz allgemeines Gehalt für seinen Dienst am Gefängnis. Wenn aber endlich der Gefangene so krank wurde, daß man um sein Leben besorgt sein mußte, so ließ man ihn entweder frei oder man brachte ihn woanders hin. Das Ministerium pflegte es, wie gesagt, sehr ungern zu sehen, wenn bekannte Leute in der Bastille starben. Es gab da allerhand zu bedenken. Man wußte genau, wie viele Leute dort unschuldig saßen, nur weil sie irgendeinem vornehmen Mann, der vielleicht Schulden bei ihnen hatte, im Wege waren. Und manchmal geschah es, daß so einem mächtigen Feinde die Einkerkerung seines Gegners in der Bastille noch nicht genügte. Er konnte ja doch eines Tages vielleicht freigelassen werden. Deshalb gab es Gefangene, die noch in der Bastille täglich um ihr Leben zittern mußten, weil sie nicht wissen konnten, ob ihr Feind nicht eines Tages einen Küchenjungen bestechen werde, ihm ein kleines Pülverchen in seine Mahlzeit zu mischen, an welchem er sterben mußte. Das Ministerium fühlte auch die Möglichkeit dieser Verbrechen so sehr, daß es befahl, eine Schildwache in die Küche zu stellen, damit niemand den Küchenjungen und Töpfen zu nahe käme. Heute gehört es für uns zu den erstaunlichsten Dingen, welche Unterschiede in diesem Gefängnis in der Ernährung der Gefangenen, je nach dem Stand, dem sie angehörten, bestanden haben. Für Fürsten waren pro Tag 50 Franken ausgesetzt – dann wurden die Summen schnell kleiner: für den Tisch eines Marschalls von Frankreich waren Frs. 26,- vorgesehen, für einen Richter oder einen Priester Frs. 10,-; das Essen der einfachen Leute: Arbeiter, Dienstboten, Hausierer usw., kostete nicht mehr als Frs. 3,-. Würde ich euch die ganze Liste vorlesen, so würdet ihr sehen, wie man in diesem Hause auf Besucher aus allen Ständen eingerichtet war. Im übrigen aber werden auch hier wie oft die Unterschiede auf dem Papier größer gewesen sein als in der Wirklichkeit. In einem nämlich waren in der Bastille alle Gefangenen gleich: darin, daß vom Gouverneur herab bis zu dem untersten Gefangenenwärter jeder an ihnen verdienen wollte. Es ist also keine Rede davon, daß die Summen, die der König für die Ernährung seiner Gefangenen zahlte, auch wirklich diesem Zweck zukamen. Daraus machte auch keiner einen Hehl. Man wußte genau, wieviel man an der Verwaltung der Bastille verdienen konnte, und die Summen, die ein Gouverneur dem anderen zu zahlen hatte, um ihn in seinem Amte abzulösen oder als Nachfolger von ihm befürwortet zu werden, konnten nur reiche Leute aufbringen.

Nicht nur die Ungerechtigkeit, mit der die Verhaftungen und die Verhöre der Gefangenen in der Bastille vor sich gingen, erbitterten das Volk so sehr, daß die Zerstörung dieser Festung zur Losung der ersten Revolutionstage geworden ist. Mehr noch war es die einzigartige Unverschämtheit, mit welcher in den Mauern der Bastille großer Prunk ans tiefste Elend anstieß. Der Polizeipräsident von Paris hatte jährlich zwei- oder dreimal eine Besichtigung des Gefängnisses abzuhalten, um sich zu überzeugen, daß da alles in Ordnung sei. In Wirklichkeit bestanden aber diese Besichtigungen aus einem großen Diner, das der Gouverneur der Bastille dem Polizeipräsidenten gab, und wenn dann die feinsten Weine, der Kaffee und die besten Liköre hinuntergespült waren und man fand, daß nun genug Zeit bei der Tafel verbracht worden sei, erhob man sich und schlenderte gemütlich nach den Türmen an den Zellen entlang, öffnete auch wohl flüchtig diese oder jene, um sich in kurzem wieder in die Gesellschaftsräume des Gouverneurs zu verziehen.

Alle diese Dinge zeigen, wie sehr die Bastille ein Werkzeug der Macht und wie wenig sie Mittel des Rechts gewesen ist. Selbst Grausamkeit und Härte werden eher ertragen, wenn die Menschen fühlen, daß eine Idee dahintersteht, daß die Strenge nicht nur die Kehrseite der Bequemlichkeit der Machthaber ist. Die Erstürmung der Bastille ist nicht nur ein Wendepunkt in der Geschichte des französischen Staates, sondern auch in der des Rechtslebens. Die Menschen haben ja nicht immer in der gleichen Meinung und Gesinnung über ihresgleichen Strafen verhängt. Die älteste Anschauung, die mittelalterliche, war die, jede Schuld müsse gesühnt werden nicht wegen der Menschen, sondern zur Herstellung der göttlichen Gerechtigkeit. Schon lange vor der französischen Revolution aber war in den besten Köpfen der Gedanke lebendig geworden, die Strafe zur Besserung der Schuldigen zu verwenden. Mit dieser Lehre hat dann später im 19. Jahrhundert die sogenannte Lehre von der Abschreckung im Kampfe gelegen, wonach die Strafen vor allem eine vorbeugende Bedeutung haben. Die Strafen seien dazu da, den, welcher Schlechtes vorhat, abzuhalten, es zu tun. Die Leute, die in der Bastille das Regiment führten, haben sich über solche Fragen den Kopf nicht zerbrochen. Ob sie recht oder unrecht hatten, war ihnen gleichgültig, und deswegen wurden sie von der französischen Revolution fortgefegt.