Zum Hauptinhalt springen

Trauerspiel und Tragödie

Die tiefere Erfassung des Tragischen hat vielleicht nicht nur und nicht sowohl von der Kunst als von der Geschichte auszugehen. Zum wenigsten aber ist zu vermuten, daß das Tragische nicht weniger eine Grenze des Reiches der Kunst bezeichnet, als des Gebiets der Geschichte. Die Zeit der Geschichte geht an bestimmten und hervorragenden Punkten ihres Verlaufs in die tragische Zeit über: und zwar in den Aktionen der großen Individuen. Zwischen Größe im Sinn der Geschichte und Tragik besteht ein wesensnotwendiger Zusammenhang – der sich freilich nicht in Identität auflösen läßt. Soviel aber kann bestimmt werden: Historische Größe ist in der Kunst nur tragisch zu gestalten. Die Zeit der Geschichte ist unendlich in jeder Richtung und unerfüllt in jedem Augenblick. Das heißt es ist kein einzelnes empirisches Ereignis denkbar, das eine notwendige Beziehung zu der bestimmten Zeitlage hätte, in der es vorfällt. Die Zeit ist für das empirische Geschehen nur eine Form, aber was wichtiger ist, eine als Form unerfüllte. Das Geschehnis erfüllt die formale Natur der Zeit in der es liegt nicht. Denn es ist ja nicht so zu denken, daß Zeit nichts anderes sei als das Maß, mit dem die Dauer einer mechanischen Veränderung gemessen wird. Diese Zeit ist freilich eine relativ leere Form, deren Ausfüllung zu denken keinen Sinn bietet. Ein andres ist aber die Zeit der Geschichte als die der Mechanik. Die Zeit der Geschichte bestimmt weit mehr als die Möglichkeit von Raumveränderungen einer bestimmten Größe und Regelmäßigkeit – nämlich des Uhrzeigerganges – während simultaner Raumveränderungen komplizierter Struktur. Und ohne zu bestimmen, was Darüberhinausgehendes, was anderes die historische Zeit bestimme – ohne also ihren Unterschied von der mechanischen Zeit zu definieren – ist zu sagen, daß die bestimmende Kraft der historischen Zeitform von keinem empirischen Geschehen völlig erfaßt und in keinem völlig gesammelt werden kann. Ein solches Geschehen, das im Sinne der Geschichte vollkommen sei, ist vielmehr durchaus ein empirisches Unbestimmtes, nämlich eine Idee. Diese Idee der erfüllten Zeit heißt in der Bibel als deren beherrschende historische Idee: die messianische Zeit. In jedem Fall ist aber die Idee der erfüllten historischen Zeit nicht zugleich als Idee einer individuellen Zeit gedacht. Diese Bestimmung, welche den. Sinn der Erfülltheit natürlich ganz verwandelt, ist es, die die tragische Zeit von der messianischen unterscheidet. Die tragische Zeit verhält sich zur letzteren, wie die individuell erfüllte zur göttlich erfüllten Zeit.

An ihrer unterschiedlichen Stellung zur historischen Zeit scheiden sich Trauerspiel und Tragödie. In der Tragödie stirbt der Held, da in der erfüllten Zeit keiner zu leben vermag. Er stirbt an Unsterblichkeit. Der Tod ist eine ironische Unsterblichkeit; das ist der Ursprung der tragischen Ironie. Der Ursprung der tragischen Schuld liegt im gleichen Bezirke. Sie beruht in jener eigenen, rein individuell erfüllten Zeit des tragischen Helden. Diese eigene Zeit des tragischen Helden – die hier ebensowenig wie die historische Zeit definiert werden soll – zeichnet wie mit einem magischen Zirkel all seine Taten und sein ganzes Dasein. Wenn auf unbegreifliche Weise die tragische Verwicklung plötzlich gegenwärtig ist, wenn der kleinste Fehltritt zur Schuld führt, wenn das kleinste Versehen, der unwahrscheinlichste Zufall den Tod bringt, wenn die scheinbar allen zugänglichen Worte der Verständigung und Lösung nicht gesprochen werden, so ist es jener eigentümliche Einfluß, den die Zeit des Helden auf alles Geschehen ausübt, da in der erfüllten Zeit alles Geschehen deren Funktion ist. Fast paradox erscheint die Deutlichkeit dieser Funktion im Augenblick der völligen Passivität des Helden, da gleichsam die tragische Zeit wie eine Blume aufbricht, aus deren Kelch der herbe Duft der Ironie steigt. Denn nicht selten sind es die völligen Ruhepausen, gleichsam der Schlaf des Helden, in dem sich das Verhängnis seiner Zeit erfüllt, und gleichermaßen tritt die Bedeutung der erfüllten Zeit im tragischen Schicksal in den großen Momenten der Passivität hervor: im tragischen Entschluß, im retardierenden Moment, in der Katastrophe. Shakespeares tragisches Maß beruht in der Größe, mit der er die verschiednen Stadien der Tragik wie Wiederholungen eines Themas von einander abhebt und präzisiert. Dagegen zeigt die Tragödie der Alten ein immer gewaltigeres Anwachsen der tragischen Gewalten, sie kennen das tragische Schicksal, Shakespeare den tragischen Helden, die tragische Aktion. Goethe nennt ihn mit Recht romantisch.

Der Tod der Tragödie ist eine ironische Unsterblichkeit; ironisch aus übergroßer Determiniertheit; der tragische Tod ist überbestimmt, dies ist der eigentliche Ausdruck der Schuld des Helden. Hebbel war vielleicht auf dem rechten Wege mit der Auffassung der Individuation als der Urschuld; aber es kommt alles darauf an, wogegen die Schuld der Individuation verstößt. In dieser Form läßt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Geschichte und Tragik fassen. Es handelt sich nicht um eine Individuation, die mit Bezug auf den Menschen zu erfassen ist. Der Tod des Trauerspiels beruht nicht auf jener äußersten Determiniertheit, die die individuelle Zeit dem Geschehen erteilt. Er ist kein Abschluß, ohne Gewißheit des höhern Lebens und ohne Ironie ist er die μετἀβασις allen Lebens εἰς ἄλλο γένος. Das Trauerspiel ist mathematisch vergleichbar dem einen Zweig der Hyperbel, deren andrer im Unendlichen liegt. Es gilt das Gesetz eines höhern Lebens in dem beschränkten Raum des Erdendaseins, und alle spielen, bis der Tod das Spiel beendet, um in einer andern Welt die größere Wiederholung des gleichen Spiels fortzutreiben. Die Wiederholung ist es, auf der das Gesetz des Trauerspiels beruht. Seine Geschehnisse sind gleichnishafte Schemen, sinnbildliche Spiegelbilder eines andern Spiels. In dieses Spiel entrückt der Tod. Die Zeit des Trauerspiels ist nicht erfüllt und dennoch endlich. Sie ist unindividuell, ohne von historischer Allgemeinheit zu sein. Das Trauerspiel ist in jedem Sinne eine Zwischenform. Die Allgemeinheit seiner Zeit ist geisterhaft, nicht mythisch. Es hängt im Innersten mit jener eigentümlichen Spiegelnatur des Spiels zusammen, daß die Zahl seiner Akte gerade ist. Hierfür ist, wie in allen andern gedachten Beziehungen, Schlegels Alarcos das Beispiel, wie es allgemein ein sehr hervorragender Gegenstand der Analyse des Trauerspiels ist. Rang und Stand seiner Personen sind königlich, wie es im vollendeten Trauerspiel, um seiner sinnbildlichen Bedeutung willen, nicht anders sein darf. Dieses Drama ist geadelt durch die Distanz, die überall Bild und Spiegelbild, Bedeutendes und Bedeutetes trennt. So ist das Trauerspiel freilich nicht Bild eines höheren Lebens, sondern nichts als das eine von zwei Spiegelbildern, und seine Fortsetzung ist nicht minder schemenhaft als es selbst. Die Toten werden Gespenster. Das Trauerspiel erschöpft künstlerisch die historische Idee der Wiederholung; es ergreift mithin ein ganz anderes Problem als die Tragödie. Schuld und Größe beanspruchen im Trauerspiel um so viel geringere Bestimmtheit – geschweige Überbestimmtheit – als sie größere Ausdehnung, allgemeinste Erstreckung verlangen, nicht um der Schuld und Größe willen, aber um der Wiederholung willen jener Verhältnisse.

Es hängt aber mit dem Wesen der zeitlichen Wiederholung zusammen, daß auf ihr keine Form geschlossen beruhen kann. Und wenn auch die Beziehung der Tragödie zur Kunst noch problematisch bleibt, wenn auch sie vielleicht mehr und weniger als eine Kunstform ist, so ist sie doch in jedem Falle geschlossene Form. Ihr Zeitcharakter ist in der dramatischen Form erschöpft und gestaltet. Das Trauerspiel ist in sich ungeschlossen, auch liegt die Idee seiner Auflösung nicht mehr innerhalb des dramatischen Bezirks. Und dies ist der Punkt, an dem sich – von der Analyse der Form aus – der Unterschied zwischen Trauerspiel und Tragödie entscheidend ergibt. Der Rest des Trauerspiels heißt Musik. Vielleicht steht ähnlich wie die Tragödie den Übergang historischer zu dramatischer Zeit bezeichnet, das Trauerspiel am Übergang der dramatischen Zeit in die Zeit der Musik.