Lauf, Läufe

Lauf, Läufe. (Musik) Eine Folge melodischer Töne auf eine einzige Silbe des Textes, die man auch mit dem Italienischen Worte Passagie oder mit dem Französischen Roulade nennt. Es ist wahrscheinlich, dass in den alten Zeiten auf jede Silbe des Textes nur ein Ton oder höchstens ein paar an einander geschleifte Töne gesetzt worden. Doch hat schon der heil. Augustinus angemerket, dass man bei Hymnen bisweilen in solche Empfindungen komme, die keine Worte zum Ausdruck finden und sich am natürlichsten durch unartikulierte Töne äußern; daher auch schon in alten Kirchenstücken etwas von dieser Art am Ende vorkommt. Ich habe auf der Königl. Bibliothek in Berlin in einem griechischen Gesangbuche, das im achten oder neunten Jahrhundert geschrieben scheint, schon ziemlich lange Läufe mitten in einigen Versen bemerket.

 Es ist, wie schon Rousseau angemerkt hat, ein Vorurteil alle Läufe als unnatürlich zu verwerfen. Es gibt in den Äusserungen der Leidenschaften gar oft Zeitpunkte, da der Verstand keine Worte findet, das, was das Herz fühlt, auszudrücken; und eben da stehen die Läufe am rechten Orte. Aber dieses ist ein höchstverwerflicher Mißbrauch, der in den neueren Zeiten durch die Opernarien aufgekommen und sich auch von da in die Kirchenmusik eingeschlichen hat, dass lange Läufe, ohne alle Veranlaßung des Ausdrucks, ohne andere Wirkung als die Beugsamkeit der Kehle an den Tag zu legen, fast überall angebracht werden, wo sich schickliche Silben dazu finden; dass Arien gesetzt werden, wo die Hälfte der Melodie aus Läufen besteht, deren Ende man kaum abwarten kann. Sie sollten nirgend stehen als wo der einfache Gesang nicht hinreicht, die Empfindung auszudrücken und wo man fühlt, dass eine Verweilung auf einer Stelle notwendig ist. Der Tonsetzer zeigt sehr wenig Überlegung, der sich einbildet, er müsse überall, wo er ein langes a oder o, antrift, einen Lauf machen. Es gibt gar viel Arien, deren Text keinen einzigen erfordert oder zulässt. Vornehmlich sollten bloß künstliche Läufe schlechterdings aus der Kirchenmusik verbannet sein; weil es da nicht erlaubt ist, irgend etwas zu setzen, das die Aufmerksamkeit von dem Inhalt auf die Kunst des Sängers abziehet.

 Von dem Vortrag der Läufe findet man in Tosis Anleitung zur Singkunst und den von Hrn. Agricola daselbst beigefügten Anmerkungen einen sehr gründlichen Unterricht.

 


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Seite zuletzt aktualisiert: 23.10.2004 
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