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Voluntarismus

Voluntarismus (Lehre von der Bedeutung des Willens) nennt man seit kurzer Zeit die Ansicht, daß die Willensvorgänge eine typische, für die Auffassung aller psychischen Vorgänge maßgebende Bedeutung haben. Das Wort ist von Tönnies (1883) gebildet, von Fr. Paulsen (geb. 1846) in dem Sinne ausgeprägt, daß es die Auffassung bezeichnet, der Wille sei der ursprüngliche und in gewissem Sinne konstante Faktor des Seelenlebens, und von Wundt (geb. 1832) in die psychologische Forschung aufgenommen und weiter verbreitet. Die voluntaristische Psychologie behauptet, daß das Wollen mit den ihm eng verbundenen Gefühlen und Affekten einen ebenso unveräußerlichen Bestandteil der psychologischen Erfahrung ausmache wie die Empfindungen und Vorstellungen, und daß nach Analogie des Willensvorganges alle anderen psychischen Prozesse aufzufassen seien als ein fortwährend wechselndes Geschehen in der Zeit, nicht als eine Summe beharrender Objekte. Die voluntaristische Psychologie steht also im Gegensatz zu der intellektualistischen, die den Versuch macht, alle psychischen Vorgänge aus den Vorstellungen oder intellektuellen Vorgängen abzuleiten (Wundt, Grundr. d. Psych., Einleitung § 2 S. 14-18). – Allgemein (metaphysisch) gefaßt, ist der Voluntarismus der Gegensatz zum Intellektualismus. Der letztere gibt dem Intellekte den Vorzug vor dem Willen, der erstere dem Willen den Vorrang vor dem Intellekte und sieht in dem Weltprozeß eine dynamische Entwicklung, oder, tiefer gefaßt, eine Folge von Willensvorgängen. Er setzt philosophisch ein mit Kants (1724-1804) Lehre vom Primate der praktischen Vernunft über die theoretische Vernunft und vom absoluten Werte des guten Willens und ist von Fichte (1762-1814) konsequent durchgebildet; er ist auch durch Schopenhauer (1788-1860) vertreten, der den Willen als das Ansich der Welt gedacht hat. Aber der Voluntarismus hat sich nach der Auffassung des Wesens des Willens in zwei Richtungen gespalten. Insofern er unter dem Wollen ein dunkles, triebartiges, unbewußtes Vorgehn sieht, wie dies bei Schopenhauer der Fall ist, führt er zu einer Hingebung an starke Eindrücke der Dinge, zu möglichst unreflektiertem Empfinden und Anschauen; insofern er im Wollen, wie das der Auffassung Kants und Fichtes entspricht, ein tätiges, zweckvoll vordringendes, schöpferisches Wirken sieht, betrachtet er das ethische Handeln und den Aufbau einer neuen Wirklichkeit als seine Aufgabe. Überwunden hat der Voluntarismus den Intellektualismus bisher keineswegs, sondern höchstens eingeschränkt. Kants moralischer Glaube, als Frucht des Voluntarismus, hat keine allgemeine Bedeutung erlangt, und der Voluntarismus birgt die nicht zu unterschätzende Gefahr in sich, der Unwissenheit und der Feindschaft gegen die Bildungsbestrebungen zum Deckmantel dienen zu können. Der Ausdruck Voluntarismus ist übrigens nicht gerade glücklich gewählt, da voluntas (lat.) mehr Neigung und Wunsch als charaktervolles Wollen bezeichnet. Es sind darum auch andere Bezeichnungen für denselben Begriff, wie Ethelismus, Thelismus, Theletismus, Thelematismus usw. vorgeschlagen (s. d.). Vgl. R. Eucken Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipz. 1904. S. 38 ff.