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Religiöse Nachwehen

131.

Religiöse Nachwehen. — Glaubt man sich noch so sehr der Religion entwöhnt zu haben, so ist es doch nicht in dem Grade geschehen, dass man nicht Freude hätte, religiösen Empfindungen und Stimmungen ohne begrifflichen Inhalt zu begegnen, zum Beispiel in der Musik; und wenn eine Philosophie uns die Berechtigung von metaphysischen Hoffnungen, von dem dorther zu erlangenden tiefen Frieden der Seele aufzeigt und zum Beispiel von „dem ganzen sichern Evangelium im Blick der Madonnen bei Rafael“ spricht, so kommen wir solchen Aussprüchen und Darlegungen mit besonders herzlicher Stimmung entgegen: der Philosoph hat es hier leichter, zu beweisen, er entspricht mit dem, was er geben will, einem Herzen, welches gern nehmen will. Daran bemerkt man, wie die weniger bedachtsamen Freigeister eigentlich nur an den Dogmen Anstoß nehmen, aber recht wohl den Zauber der religiösen Empfindung kennen; es tut ihnen wehe, letztere fahren zu lassen, um der ersteren willen. — Die wissenschaftliche Philosophie muss sehr auf der Hut sein, nicht auf Grund jenes Bedürfnisses — eines gewordenen und folglich auch vergänglichen Bedürfnisses — Irrtümer einzuschmuggeln: selbst Logiker sprechen von „Ahnungen“ der Wahrheit in Moral und Kunst (zum Beispiel von der Ahnung, „dass das Wesen der Dinge Eins ist“): was ihnen doch verboten sein sollte. Zwischen den sorgsam erschlossenen Wahrheiten und solchen „geahnten“ Dingen bleibt unüberbrückbar die Kluft, dass jene dem Intellekt, diese dem Bedürfnis verdankt werden. Der Hunger beweist nicht, dass es zu seiner Sättigung eine Speise gibt, aber er wünscht die Speise. „Ahnen“ bedeutet nicht das Dasein einer Sache in irgend einem Grade erkennen, sondern dasselbe für möglich halten, insofern man sie wünscht oder fürchtet; die „Ahnung“ trägt keinen Schritt weit in’s Land der Gewissheit. — Man glaubt unwillkürlich, die religiös gefärbten Abschnitte einer Philosophie seien besser bewiesen, als die anderen; aber es ist im Grunde umgekehrt, man hat nur den inneren Wunsch, dass es so sein möge, — also dass das Beseligende auch das Wahre sei. Dieser Wunsch verleitet uns, schlechte Gründe als gute einzukaufen.