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[Erlösungsbedürfnis Irrtümern der Vernunft geschuldet]

133.

Bevor wir diesen Zustand in seinen weiteren Folgen uns vorlegen, wollen wir es doch uns eingestehen, dass der Mensch in diesen Zustand nicht durch seine „Schuld“ und „Sünde“, sondern durch eine Reihe von Irrtümern der Vernunft geraten ist, dass es der Fehler des Spiegels war, wenn ihm sein Wesen in jenem Grade dunkel und hassenswert vorkam, und dass jener Spiegel sein Werk, das sehr unvollkommene Werk der menschlichen Phantasie und Urteilskraft war. Erstens ist ein Wesen, welches einzig rein unegoistischer Handlungen fähig wäre, noch fabelhafter als der Vogel Phönix; es ist deutlich nicht einmal vorzustellen, schon deshalb, weil der ganze Begriff „unegoistische Handlung“ bei strenger Untersuchung in die Luft verstiebt. Nie hat ein Mensch Etwas getan, das allein für Andere und ohne jeden persönlichen Beweggrund getan wäre; ja wie sollte er Etwas tun können, das ohne Bezug zu ihm wäre, also ohne innere Nötigung (welche ihren Grund doch in einem persönlichen Bedürfnis haben müsste)? Wie vermöchte das ego ohne ego zu handeln? — Ein Gott, der dagegen ganz Liebe ist, wie gelegentlich angenommen wird, wäre keiner einzigen unegoistischen Handlung fähig: wobei man sich an einen Gedanken Lichtenberg’s, der freilich einer niedrigeren Sphäre entnommen ist, erinnern sollte: „Wir können unmöglich für Andere fühlen, wie man zu sagen pflegt; wir fühlen nur für uns. Der Satz klingt hart, er ist es aber nicht, wenn er nur recht verstanden wird. Man liebt weder Vater, noch Mutter, noch Frau, noch Kind, sondern die angenehmen Empfindungen, die sie uns machen“, oder wie La Rochefoucauld sagt: „si on croit aimer sa maîtresse pour l’amour d’elle, on est bien trompé“. Weshalb Handlungen der Liebe höher geschätzt werden, als andere, nämlich nicht ihres Wesens, sondern ihrer Nützlichkeit halber, darüber vergleiche man die schon vorher erwähnten Untersuchungen „über den Ursprung der moralischen Empfindungen“. Sollte aber ein Mensch wünschen, ganz wie jener Gott, Liebe zu sein, Alles für Andere, Nichts für sich zu tun, zu wollen, so ist letzteres schon deshalb unmöglich, weil er sehr viel für sich tun muss, um überhaupt Anderen Etwas zu Liebe tun zu können. Sodann setzt es voraus, dass der Andere Egoist genug ist, um jene Opfer, jenes Leben für ihn, immer und immer wieder anzunehmen: so dass die Menschen der Liebe und Aufopferung ein Interesse an dem Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunfähigen Egoisten haben, und die höchste Moralität, um bestehen zu können, förmlich die Existenz der Unmoralität erzwingen müsste (wodurch sie sich freilich selber aufheben würde). — Weiter. die Vorstellung eines Gottes beunruhigt und demütigt so lange, als sie geglaubt wird, aber wie sie entstanden ist, darüber kann bei dem jetzigen Stande der völkervergleichenden Wissenschaft kein Zweifel mehr sein; und mit der Einsicht in jene Entstehung fällt jener Glaube dahin. Es geht dem Christen, welcher sein Wesen mit dem Gotte vergleicht, so, wie dem Don Quixote, der seine eigne Tapferkeit unterschätzt, weil er die Wundertaten der Helden aus den Ritterromanen im Kopfe hat; der Maßstab, mit welchem in beiden Fällen gemessen wird, gehört in’s Reich der Fabel. Fällt aber die Vorstellung des Gottes weg, so auch das Gefühl der „Sünde“ als eines Vergehens gegen göttliche Vorschriften, als eines Fleckens an einem gottgeweihten Geschöpfe. Dann bleibt wahrscheinlich noch jener Unmut übrig, welcher mit der Furcht vor Strafen der weltlichen Gerechtigkeit, oder vor der Missachtung der Menschen, sehr verwachsen und verwandt ist; der Unmut der Gewissensbisse, der schärfste Stachel im Gefühl der Schuld, ist immerhin abgebrochen, wenn man einsieht, dass man sich durch seine Handlungen wohl gegen menschliches Herkommen, menschliche Satzungen und Ordnungen vergangen habe, aber damit noch nicht das „ewige Heil der Seele“ und ihre Beziehung zur Gottheit gefährdet habe. Gelingt es dem Menschen zuletzt noch, die philosophische Überzeugung von der unbedingten Notwendigkeit aller Handlungen und ihrer völligen Unverantwortlichkeit zu gewinnen und in Fleisch und Blut aufzunehmen, so verschwindet auch jener Rest von Gewissensbissen.