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Gram ist Erkenntnis

109.

Gram ist Erkenntnis. — Wie gern möchte man die falschen Behauptungen der Priester, es gebe einen Gott, der das Gute von uns verlangte, Wächter und Zeuge jeder Handlung, jedes Augenblickes, jedes Gedankens sei, der uns liebe, in allem Unglück unser Bestes wolle, — wie gern möchte man diese mit Wahrheiten vertauschen, welche ebenso heilsam, beruhigend und wohltuend wären, wie jene Irrtümer! Doch solche Wahrheiten gibt es nicht; die Philosophie kann ihnen höchstens wiederum metaphysische Scheinbarkeiten (im Grunde ebenfalls Unwahrheiten) entgegensetzen. Nun ist aber die Tragödie die, dass man jene Dogmen der Religion und Metaphysik nicht glauben

Sorrow is knowledge: they who know the most
must mourn the deepst o’er the fatal truth,
the tree of knowledge is not tat of life.

Gegen solche Sorgen hilft kein Mittel besser, als den feierlichen Leichtsinn Horazens, wenigstens für die schlimmsten Stunden und Sonnenfinsternisse der Seele, heraufzubeschwören und mit ihm zu sich selber zu sagen:

quid aeternis minorem
consiliis animum fatigas?
cur non sub alta vel platano vel hac
pinu jacentes —

Sicherlich aber ist Leichtsinn oder Schwermut jeden Grades besser, als eine romantische Rückkehr und Fahnenflucht, eine Annäherung an das Christentum in irgend einer Form: denn mit ihm kann man sich, nach dem gegenwärtigen Stande der Erkenntnis, schlechterdings nicht mehr einlassen, ohne sein in intellektuales Gewissen heillos zu beschmutzen und vor sich und Anderen preiszugeben. Jene Schmerzen mögen peinlich genug sein: aber man kann ohne Schmerzen nicht zu einem Führer und Erzieher der Menschheit werden; und wehe Dem, welcher dies versuchen möchte und jenes reine Gewissen nicht mehr hätte!