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„Der Wanderer“ redet

380.

Der Wandererredet. — Um unsrer europäischen Moralität einmal aus der Ferne ansichtig zu werden, um sie an anderen, früheren oder kommenden, Moralitäten zu messen, dazu muss man es machen, wie es ein Wanderer macht, der wissen will, wie hoch die Türme einer Stadt sind: dazu verlässt er die Stadt. „Gedanken über moralische Vorurteile“, falls sie nicht Vorurteile über Vorurteile sein sollen, setzen eine Stellung außerhalb der Moral voraus, irgend ein Jenseits von Gut und Böse, zu dem man steigen, klettern, fliegen muss, — und, im gegebenen Falle, jedenfalls ein Jenseits von unsrem in Gut und Böse, eine Freiheit von allem „Europa“, letzteres als eine Summe von kommandierenden Werturteilen verstanden, welche uns in Fleisch und Blut übergegangen sind. Dass man gerade dorthinaus, dorthinauf will, ist vielleicht eine kleine Tollheit, ein absonderliches unvernünftiges „du musst“ — denn auch wir Erkennenden haben unsre Idiosynkrasien des „unfreien Willens“ —: die Frage ist, ob man wirklich dorthinauf kann. Dies mag an vielfachen Bedingungen hängen, in der Hauptsache ist es die Frage darnach, wie leicht oder wie schwer wir sind, das Problem unsrer „spezifischen Schwere“. Man muss sehr leicht sein, um seinen Willen zur Erkenntnis bis in eine solche Ferne und gleichsam über seine Zeit hinaus zu treiben, um sich zum Überblick über Jahrtausende Augen zu schaffen und noch dazu reinen Himmel in diesen Augen! Man muss sich von Vielem losgebunden haben, was gerade uns Europäer von Heute drückt, hemmt, niederhält, schwer macht. Der Mensch eines solchen Jenseits, der die obersten Wertmaße seiner Zeit selbst in Sicht bekommen will, hat dazu vorerst nötig, diese Zeit in sich selbst zu „überwinden“ — es ist die Probe seiner Kraft — und folglich nicht nur seine Zeit, sondern auch seinen bisherigen Widerwillen und Widerspruch gegen diese Zeit, sein Leiden an dieser Zeit, seine Zeit-Ungemäßheit, seine Romantik...