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Moral als Problem

345.

Moral als Problem. — Der Mangel an Person rächt sich überall; eine geschwächte, dünne, ausgelöschte, sich selbst leugnende und verleugnende Persönlichkeit taugt zu keinem guten Dinge mehr, — sie taugt am wenigsten zur Philosophie. Die „Selbstlosigkeit“ hat keinen Wert im Himmel und auf Erden; die großen Probleme verlangen alle die große Liebe, und dieser sind nur die starken, runden, sicheren Geister fähig, die fest auf sich selber sitzen. Es macht den erheblichsten Unterschied, ob ein Denker zu seinen Problemen persönlich steht, so dass er in ihnen sein Schicksal, seine Not und auch sein bestes Glück hat, oder aber „unpersönlich“: nämlich sie nur mit den Fühlhörnern des kalten neugierigen Gedankens anzutasten und zu fassen versteht. Im letzteren Falle kommt Nichts dabei heraus, so viel lässt sich versprechen: denn die großen Probleme, gesetzt selbst, dass sie sich fassen lassen, lassen sich von Fröschen und Schwächlingen nicht halten, das ist ihr Geschmack seit Ewigkeit, — ein Geschmack übrigens, den sie mit allen wackern Weiblein teilen. — Wie kommt es nun, dass ich noch Niemandem begegnet bin, auch in Büchern nicht, der zur Moral in dieser Stellung als Person stünde, der die Moral als Problem und dies Problem als seine persönliche Not, Qual, Wollust, Leidenschaft kennte? Ersichtlich war bisher die Moral gar kein Problem; vielmehr Das gerade, worin man, nach allem Misstrauen, Zwiespalt, Widerspruch, mit einander überein kam, der geheiligte Ort des Friedens, wo die Denker auch von sich selbst ausruhten, aufatmeten, auflebten. Ich sehe Niemanden, der eine Kritik der moralischen Werturteile gewagt hätte; ich vermisse hierfür selbst die Versuche der wissenschaftlichen Neugierde, der verwöhnten versucherischen Psychologen- und Historiker-Einbildungskraft, welche leicht ein Problem vorwegnimmt und im Fluge erhascht, ohne recht zu wissen, was da erhascht ist. Kaum dass ich einige spärliche Ansätze ausfindig gemacht habe, es zu einer Entstehungsgeschichte dieser Gefühle und Wertschätzungen zu bringen (was etwas Anderes ist als eine Kritik derselben und noch einmal etwas Anderes als die Geschichte der ethischen Systeme): in einem einzelnen Falle habe ich Alles getan, um eine Neigung und Begabung für diese Art Historie zu ermutigen — umsonst, wie mir heute scheinen will. Mit diesen Moral-Historikern (namentlich Engländern) hat es wenig auf sich: sie stehen gewöhnlich selbst noch arglos unter dem Kommando einer bestimmten Moral und geben, ohne es zu wissen, deren Schildträger und Gefolge ab; etwa mit jenem noch immer so treuherzig nachgeredeten Volks-Aberglauben des christlichen Europa, dass das Charakteristicum der moralischen Handlung im Selbstlosen, Selbstverleugnenden, Sich-Selbst-Opfernden, oder im Mitgefühle, im Mitleiden belegen sei. Ihr gewöhnlicher Fehler in der Voraussetzung ist, dass sie irgend einen consensus der Völker, mindestens der zahmen Völker über gewisse Sätze der Moral behaupten und daraus deren unbedingte Verbindlichkeit, auch für dich und mich, schließen; oder dass sie umgekehrt, nachdem ihnen die Wahrheit aufgegangen ist, dass bei verschiedenen Völkern die moralischen Schätzungen notwendig verschieden sind, einen Schluss auf Unverbindlichkeit aller Moral machen: was Beides gleich große Kindereien sind. Der Fehler der Feineren unter ihnen ist, dass sie die vielleicht törichten Meinungen eines Volkes über seine Moral oder der Menschen über alle menschliche Moral aufdecken und kritisieren, also über deren Herkunft, religiöse Sanktion, den Aberglauben des freien Willens und dergleichen, und ebendamit vermeinen, diese Moral selbst kritisiert zu haben. Aber der Wert einer Vorschrift „du sollst“ ist noch gründlich verschieden und unabhängig von solcherlei Meinungen über dieselbe und von dem Unkraut des Irrtums, mit dem sie vielleicht überwachsen ist: so gewiss der Wert eines Medikaments für den Kranken noch vollkommen unabhängig davon ist, ob der Kranke wissenschaftlich oder wie ein altes Weib über Medizin denkt. Eine Moral könnte selbst aus einem Irrtum gewachsen sein: auch mit dieser Einsicht wäre das Problem ihres Wertes noch nicht einmal berührt. — Niemand also hat bisher den Wert jener berühmtesten aller Medizinen, genannt Moral, geprüft: wozu zuallererst gehört, dass man ihn einmal — in Frage stellt. Wohlan! Dies eben ist unser Werk. —