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Erkenntnis sozial, Ethik

Wenn Begriff und Wort, wenn Denken und Sprechen ein und dasselbe ist, wenn ferner die Sprache sich historisch und im Gebrauche des Individuums nicht anders als sozial bilden konnte, so muß auch das Erkennen der Wirklichkeit eine gemeinsame Tätigkeit der Menschen sein. Ich könnte weiter schließen: und weil diese Gemeinsamkeit eine Abstraktion ist, so kann auch das Erkennen unmöglich etwas Wirkliches sein. Der Schluß ist bündig; aber ich würde dem Wortaberglauben verfallen, wollte ich mich bei dieser in Worten ausgeführten Schlußfolgerung beruhigen. Das Ergebnis erscheint schon zuverlässiger, wenn wir es auf einem Gebiete bestätigt finden, welches seit undenklichen Zeiten für Offenbarung aus dem Jenseits, also für das sicherste Erkennen galt, auf dem Gebiete der Ethik. Das Individuum, wenn wir es ohne Zusammenhang mit den anderen Menschen fänden, kann gar keine Ethik haben. Ethik ist eine soziale Erscheinung. Ethik ist wie die Sprache nur etwas zwischen den Menschen, weil die Ethik eben auch nur Sprache ist. Ethik ist die Tatsache, daß zwischen den Menschen Wertbegriffe entstanden sind, welche sich bei der Betrachtung von menschlichen Handlungen als Werturteile aufdrängen.

Um die Werturteile steht es aber ebenso wie um die meisten anderen Urteile; sie gründen sich nicht auf die individuelle Erfahrung des Urteilenden, sondern auf die Erfahrung der Vorfahren und der Mitlebenden, welche Erfahrung nicht nur in Religion und Sitte, sondern eigentlich in jeder Erkenntnis der Wirklichkeitswelt Glaube, Überlieferung ist. Und die Überlieferung ist nicht nur in der Sprache niedergelegt, sondern sie ist nebenbei die Sprache selbst.

Ich bin mit diesem letzten Satze der Untersuchung vorausgeeilt. Für uns, für die die Sprache nichts ist als das bequeme Gedächtnis des Menschengeschlechts und das sogenannte Wissen nichts ist als dieses selbe Gedächtnis in der ökonomischen Ordnung des Einzelmenschen, für uns kann es zwischen Sprache und Erkenntnis nur leise nuancierte Unterschiede geben. Beide sind Gedächtnis, beide sind Überlieferung. Wir differenzieren nur gern innerhalb der Sprache zwischen Wissen und Überlieferung oder Tradition, je nachdem die dem. Gedächtnisse zu Grunde liegenden Wahrnehmungen nachzuweisen, zu wiederholen sind oder nicht. Weil das auf dem' Gebiete der Religionen und ihres speziellen Glaubens besonders schwer ist, darum haben sich diese Begriffe dort ausgebildet und man scheut sich beinahe, Überlieferung und Glauben auch auf dem Gebiete des Erkennens zu entdecken. Und dennoch werden wir starr und rücksichtslos einsehen müssen, lehren müssen, daß auch das Wahrnehmungswissen, als auf den sozial erblich erworbenen Zufallssinnen beruhend, doch nur anthropomorphisch, konventionell, traditionell sein kann.