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Für wen sind eigentlich die Zeitungen da?

Die »Pressefreiheit«, die in den Toasten der Journalisten-Kongresse fast so oft vorkommt wie das Wort »Einstellung«, ist ein mäßiger Witz. Kleinere Angestellte größerer Industriegruppen dürfen vielleicht ihre Interpunktionsregeln nach eigenem Geschmack machen – wenns ernst wird und sie nicht kuschen, fliegen sie hinaus. Die Saturnalien dieser halben Freigelassenen ändern daran nichts.

Aber kein Zensor ist so streng, kein Bäumer-Gesetz so prüde wie jene Zensur, die jede bessere Zeitung im Hause hat: das ist die eigne, die Rücksicht auf den Leser nimmt. Und der schreibt empörte Briefe (die nicht in den Papierkorb fliegen), wenn die Zeitung nicht so redigiert wird, dass »meine Tochter und mein halberwachsener Sohn das Blatt lesen können«. Auf diese Weise bekommen wir denn die Weltgeschichte so dargestellt, wie ein gemäßigter Familienvater sie für seine Lieben adaptiert haben möchte.

Der ernste Spaß, die kantige Härte, peitschender Hieb, der die empfindlichen Stellen trifft –: sie haben kaum Platz in der Zeitung. Vielleicht noch in ein paar großstädtischen Blättern; in der Provinz ist es dunkel und fürchterlich, und da will es nimmer tagen. Nach fünfjähriger Tätigkeit redet sich jeder Redakteur mit Leichtigkeit ein, dass es auch seiner Anschauung entspräche, wenn »diese Dinge« nicht im Blatt stehen – in Wahrheit duckt sich das alles voller Angst, wenn der Herr Regierungsrat das Blatt abbestellt. Und warum bestellt ers ab? Früher, wenn etwa das Wort »Syphilis« ausgedruckt war – heute, wenn in einer Erzählung »dem Sinnenkitzel gefrönt« wird – und Gott mag wissen, wo dieses Ding in der Provinz sitzt? …

Merke:

Die normale Zeitung steht unter der strengsten Zensur, die es überhaupt gibt: unter der eignen. Die läßt keine scharf charakterisierten Figuren im Roman zu, keine lebensechte Situation in der Erzählung, an der etwa ein bestimmter Stand schuld ist – der protestiert unentwegt, denn für vier Mark fünfzig Abonnementsgebühr ist jeder Spießer ein Held. Der drückt Niveau, Verlag und Redakteure und redigiert wacker mit. Der hält sich seine Zeitung wie einen Hund an der Leine.

Das Traurigste ist, dass nicht einmal die sozialdemokratischen Provinzblätter in ihrer überwiegenden Mehrheit eine Ausnahme machen – denn ihre Leser haben vielleicht ein Mitgliedsbuch, aber auch eine Frau …

Gott segne die Presse, denn sie kann nichts dafür.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 24.05.1927, Nr. 21, S. 838.