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Der überalterte Parlamentarismus

Der Ministerialdiener: »Mon nouveau patron? … Il ne décolère pas … Il était au Commerce, il réclamait les Finances, il a raté l'Intérieur, et on l'a flanqué à l'Agriculture!«

Le Rire

Was zur Zeit in Frankreich vorgeht, zeigt aufs deutlichste, dass der demokratische Parlamentarismus einer Zentralregierung wirtschaftliche Schwierigkeiten nicht zu überwinden vermag. Diese Regierungsform ist einmal sehr gut gewesen: als es galt, die Klasseninteressen der Bourgeoisie gegen Adel und Kirche zu verteidigen. Er war Vorbedingung und Schlüssel für den heutigen Stand der Dinge – eine Endstufe ist er nicht.

Da die Auflösung der französischen Kammer vom Lande als ein Staatsstreich angesehen werden würde, die Mehrheit und die Minderheit aber nur um etwa zwanzig Stimmen auseinander liegen, so bastelt die Kammer von einer Krise zur andern fort. Bevor wir das schildern, ist deutschen Lesern ein Wort zu sagen:

Der französische Parlamentarismus steht turmhoch über dem deutschen, weil er eine saubere und feste Tradition hat, weil der Apparat gut eingespielt ist, weil das echt demokratische Gefühl aller Franzosen den Abgeordneten keine so fundamentalen Dummheiten begehen läßt, wie das anderswo vorkommen soll, und weil niemand da ist, dem er die Stiefel lecken möchte. Der Präsident ist das Kind des Senats, und was zwischen Senat und Kammer herrscht, ist trotz aller zeitlichen Spannung doch ein Mitarbeiterverhältnis. Eine öde Bewilligungsmaschine wie der deutsche Reichstag ist die französische Kammer niemals gewesen. Was ist sie aber?

Sie ist zum Teil Selbstzweck geworden.

Herriot geht, seine Mitarbeiter gehen! Painlevé kommt, seine neuen Mitarbeiter kommen; Painlevé geht, der neue Mann kommt … und um das zu verstehen, muß man nun einmal den ganzen Couloir-Kram beiseite lassen, das, was die französische Sprache sehr hübsch eine »cuisine« nennt, diese nicht immer heiter duftende Küche der Politik – man muß sich die Folgen der Krisen einmal praktisch vorstellen. Da ist Herr de Monzie heute Kultusminister und morgen Arbeitsminister, da wechselt der eine vom Kriegsministerium zum Kammerpräsidenten und wieder zurück … Verwechselt, verwechselt das Bäumlein.

Darüber sind wir uns wohl einig: Nichts lächerlicher als der deutsche »Fachmann«. Dieser geschwollene Stolz jeden Schulpedells, der sich in seiner Tätigkeit der Klassenreinigung als »Fachmann« fühlt – dieses maßlose Brimborium, das in Deutschland jeder Beruf um seinen Quark macht, als habe es auf der ganzen Welt noch niemals Ingenieure, Schneider und Astronomen gegeben – das Mysterium, mit dem er seine Arbeit dem »Laien« gegenüber umgibt: alles das ist ja kindlich. Und eben der gesunde Menschenverstand der »Zivilisten« und der »Nicht-Fachleute« hat Frankreich schon über manchen Kummer hinweggeholfen. Aber hier ist etwas andres im Spiel.

Eine Inflation kann nicht von Leuten besiegt werden, die keine Bilanz lesen können. Das gibt es nicht und hat es nie gegeben. Nun sind aber die Grundsätze und Gründe, aus denen sich ein französisches Ministerium heutzutage konstituiert, rein politischer Natur, und weil die föderalen und vor allem die finanziellen Interessenten nicht offen auftreten können, da sie ja offiziell keine Vertretung haben, so verbergen sie sich hinter Parteiprogrammen – heute hinter den Sozialisten, morgen hinter den Radikal-Sozialisten, o schöne Namen! – und übermorgen hinter Personen glattweg. Wo Menschen miteinander arbeiten, wird Personalpolitik gemacht, geht ein Teil der Kraft durch Personalbeziehung verloren … doch was hier getrieben wird, scheint mir nicht immer zum Wohl des Landes zu geschehn.

Selbst der Einfluß der beiden großen Gewerkschaftsgruppen: der gemäßigten CGT und der revolutionären CGTU, vollzieht sich indirekt; auch diese sind gezwungen, auf Abgeordnete, die durch Personalunion der Kammer und einer Gewerkschaft angehören, einzuwirken, auf die Parteien einzuwirken, Beziehungen spielen zu lassen, Druck auszuüben – und sie vertreten doch offen und ehrlich Realitäten: nämlich die Arbeitnehmerinteressen. Wieweit dabei die Taktik des Herrn Jouhaux eine fatale Ähnlichkeit mit der mancher deutscher Arbeiterführer hat, steht hier nicht zur Diskussion.

Verträte die eine Partei offen und klar lediglich die Interessen jener oder dieser Finanzgruppe, wie sie das – in Kammer und Senat – offiziös ja tut, so wäre die Gefahr viel kleiner, weil mit offenem Visier gekämpft würde. Es ist aber aus den kleinen und kleinsten Gefechten niemals ersichtlich, wer eigentlich agiert, und da es keinen Fraktionszwang gibt, sondern die Anhänger der einen Partei jederzeit mit der andern gegen die eigene stimmen dürfen, so verwickelt sich die Situation noch beträchtlich. Folge:

Größte Möglichkeit, Geschäfte im dunkeln zu machen. Sie werden gemacht. Nicht wie in Deutschland, wo ein Abgeordneter ein Abendbrot, zwei Importen und einen Wilhelmstraßen-Händedruck kostet – es sind auch nicht immer verkappte Aufsichtsräte, die da ihr Wesen treiben – aber das Getuschel in den Kammerecken bleibt Rechtens leise … ganz sauber ist es nicht. Die falsche Ideologie von »Volksvertretern« hindert, der Zeit offen in die Geldschränke zu sehen; warum wird nicht laut gesprochen? Warum wird nicht laut gesagt: ich, Herr Machin, vertrete die Interessen des Weinsyndikats, wir haben die und die Interessen, wir wollen diese Zölle und jene Steuern … weil wir Kaufleute sind. Oder: ich, der Militarist Chose, vertrete eine Gruppe von Leuten, die diese und jene Kolonialinteressen – etwa in Marokko – haben, wir wollen den Krieg aus diesem Grunde … aber das wäre dann freilich ein Bankenkrieg, und dann rauschten keine Fahnen mehr … Aber so besiegt man keine Inflation, so macht man keinen wahren Pazifismus. So kann man ihn nicht machen.

Journalisten, die, wie etwa Theodor Wolff, von einem Land nichts sehen als seine Zeitungen und seine Kammer-Couloirs, bleiben ihm fern. Weil da nicht Geschichte gemacht wird, sondern Geschichtchen, weil da in diesem Parlamentarismus längst nicht mehr das wahre agens des Landes liegt. Also Diktatur?

In der kommenden französischen Inflationszeit, deren Verlauf man, wie ein Arzt die Symptome beim Scharlach, voraussagen kann, und der das französische Volk in vollkommener Ahnungslosigkeit, also zunächst wehrlos, gegenübersteht, in dieser Zeit mit ihren falsch adressierten Anklagen, die kommen werden, mit ihrer Xenophobie, die kommen wird, mit ihren scheinbar revolutionären Ausbrüchen, die kommen werden und die niemand finden werden, den man an die Laterne hängen kann: in dieser Zeit wird es der französische Faschismus, dessen Anfänge existieren, leicht haben. »Les Chemises bleues … « Das ist heute noch keine Gefahr: das Volk ist in seiner übergroßen Majorität pazifistisch, ehrlich pazifistisch, auch nach innen – es ist wahrhaft demokratisch und von einer Menschlichkeit, die ich hier nicht zu rühmen brauche. Aber man darf nicht verkennen, dass die intellektuelle Jugend des Landes in ihren guten Teilen rechts gesinnt ist (ohne etwa Anhänger des wüsten und nichtsnutzigen Daudet zu sein). Es ist nicht nur der Adel, der über den Parlamentarismus der Herriot und Painlevé Urteile fällt, denen schwer zu widersprechen ist und die ich aus Achtung vor der Anständigkeit und dem persönlichen guten Willen dieser beiden nicht veröffentlichen möchte. Es sind auch nicht etwa Rowdys – wie in Deutschland – die, Monokelsehnsucht im Herzen, »es den Arbeitern aber mal ordentlich besorgen« wollen. Davon ist keine Rede. Auch ist niemand – auch nicht die Action Française – nach außen hin imperialistisch und aggressiv gesinnt. Das nicht.

Doch ist diese Jugend durchaus antiparlamentaristisch im Denken, weil ihr das Parlament zu flach erscheint: weder kommen die föderalistischen Tendenzen zur Geltung (die in Frankreich durchaus nicht gegen die Zentralgewalt aufbegehren, aber doch bestehen) – weder kommen die Berufsgruppen rein zum Ausdruck – diese jungen Leute haben die trübe Flüsterpolitik satt, die ja in der Tat von Mittelmäßigkeiten unter enormem Aufwand an Sitzungen, Manifesten, Reden und Zeitungsartikeln ziemlich ergebnislos vor sich geht. (Was Briand Gutes tut, tut er allein: trotz seiner Ämter und so ziemlich ohne seine Ämter. Aber er ist eine Ausnahme.)

Dieses überalterte Parlament ist Selbstzweck geworden. Und weil die Deputierten zum großen Teil die Kosten für einen Wahlfeldzug selbst bezahlen, aus eigener Tasche, und weil die Frage der Wiederwahl einen lächerlich großen Raum in allen Debatten und in der Gesamthaltung der Parteien einnimmt, so kommen die Interessen des Landes zu kurz.

Die europäische Kinderkrankheit, deren ganz leise Anzeichen auch in Frankreich zu spüren sind: der Faschismus – wird in diesem echt demokratischen Volke hoffentlich keinen Schaden anrichten. Der Sinn für Feierlichkeit ist hier dünn, ein Diktator hätte es nicht so leicht wie etwa der Kinoheld Mussolini (kleines Kino). Aber eine schwache Tendenz ist da.

Zu hoffen bleibt eins:

Die Umwandlung der heutigen Staatsidee durch alle diese Nöte, die Aufgabe dieses verbrecherischen Wahnsinns, den man »absolute Souveränität« nennt, die Herausbildung einer anderen, neuen Art Volksvertretung, nach der zu suchen ist. Jeder Diktator verspricht – von Primo de Rivera bis herauf zu den Sowjets –, nur ein Übergang sein zu wollen. Bisher hats keiner gehalten. Ob ohne Terror durchzukommen ist, steht dahin. Daß die »Taktiker«, wie sich charakterlose Schwächlinge ohne Erfolg gern nennen hören, die Lage nicht mehr bewältigen, zeigt sich auch in Frankreich. Man muß nicht gleich Weltuntergang schreien, wenn überalterte Formen eines Tages gewechselt werden müssen.

Der demokratische Parlamentarismus scheint mir eine zu sein.

Ignaz Wrobel
Die Menschheit, 04.12.1925, Nr. 49, S. 320.