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Die Oberschlauen

Man kann nicht einmal sagen, dass die deutschen Generalstabsoffiziere dumm gewesen wären. Viele waren intelligente Männer, alle aber waren schlau. Sie repräsentierten in voller Reinheit einen Typus, den man dann, abgeblaßt und leicht karikiert, weiter unten wieder vorfand, und der mir oft begegnet ist, wenn ich Exemplare der Wilhelm-Straße zu sehen bekommen habe. Alle diese Leute sind schlau, schläuer, oberschlau.

Ein ebenso kurzer wie kluger Mann hat einmal gesagt: »Mißtrauen ist die Klugheit der Dummen.« Diese Männer müssen, an ihrem Mißtrauen gemessen, infernalisch dumm sein. Sie sind überhaupt nicht mehr fähig, gradeaus zu denken. Sie sind gewöhnt, sich ständig mit den eignen Ressorts herumzuhauen, niemals die volle Kraft der Front zu widmen, sondern sich auch noch angesichts des Gegners zunächst den Rücken zu decken, gegen einen wahrscheinlich noch schlimmem Feind, nämlich den Freund, und so beherrscht das Motiv: »Pollak, wo hast du dein linkes Ohr?« ihr gesamtes Tun. Wie kompliziert sich die einfachste Angelegenheit in ihren Händen! Welche Intensität verwenden sie auf die selbstverständlichsten Dinge! Mit welcher Arbeitskraft wird das Überflüssige getan! Bei ihnen wird aus jeder Sache eine Affäre.

Ob es das kaschubisch-wendische Blut ihrer Vorfahren ist, die falsche Schläue der Sachsen, die verkehrt angewandte fuchsige Durchtriebenheit – jedenfalls rotieren die Räderchen ihrer Gehirne in seltsamem Rhythmus. Ein Psychologe hat neulich im Radio Denkaufgaben gestellt, und er registriert die merkwürdige Erscheinung, dass die meisten Beantworter in seinen Fragen eine »Falle« witterten. Oho, so dumm sind wir nicht, wie Sie vielleicht glauben! Nein, so dumm sind sie nicht. Nur noch viel dümmer und viel schlauer.

Ob dieser neudeutsche Beamtentypus nur mit Gaunern zu tun hat, oder ob er sich selbst nach außen transplaniert – wer vermöchte das zu sagen! Aber er gleicht den Leuten, denen man vor dem Theater ein Gratisbillet angeboten hat, und die sofort angestrengt zu reflektieren beginnen: Was will der Kerl? Und: »Komm hier weg, Emilie! Das ist sicher Schwindel!« Auf das Einfache kommen sie gar nicht.

Das wäre ja nun ein stilles Privatvergnügen der Herren, wenn es nicht die Arbeit so aufhielte, und wenn sie sich nicht so abenteuerlich klug und diplomatisch vorkämen! Welche Fünfzigpfennig-List! Welche Groschenintriguen! »Schönes Wetter heute!« Schönes Wetter … ? Warum sagt er das? Warum sagt er mir das? Warum sagt er das gleich zu Beginn der Verhandlung … ? Und so etwas hat dann natürlich keine Zeit, auch noch ernsthaft zu arbeiten.

Das macht die Unterhaltung mit den Oberschlauen so unergiebig, so langweilig, so blechern: dass sie ununterbrochen im Panzer dastehen, des Hinterhalts gewärtig, die Lanze geladen. Die Welt besteht gewiß nicht aus guten und aufrichtigen Menschen – aber wieviel umgänglicher sind doch viele andre Völker! Den gordischen Knoten aufzulösen, gibt es zwei Möglichkeiten: ihn zu zerhauen oder ihn aufzuknippern. Die Oberschlauen machen noch einen dazu.

Was tun Sie, Herr Ministerialrat, wenn Sie ins Wasser fallen? Schwimmen? Viel zu einfach. Ich schlage vor, erst einmal den Abteilungschef von nebenan vorsichtig durch den neuen Assessor fragen zu lassen, ob er weiß, dass Regierungsrat Lehmann eventuell den Attaché veranlaßt haben könnte, Sie hineinzustoßen … Man kann nie wissen …

Sicherlich: man kann nie wissen. Aber inzwischen, bevor die Auskunft eingegangen ist, Herr Ministerialrat, sind Sie, oberschlau, wie man Sie hat, ersoffen.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 27.10.1925, Nr. 43, S. 658.