42. Das Sein des Verschiedenen ist dem Sein des Seienden gleichgestellt, und daher ist das Nichtseiende ebenso wie das Seiende


Fremder: Auch dies laß uns ferner bedenken, ob es dir ebenso scheint.

Theaitetos: Was doch?

Fremder: Das Wesen des Verschiedenen scheint mir ebenso ins Kleine zerteilt zu sein wie die Erkenntnis.

Theaitetos: Wie das?

Fremder: Auch jene ist zwar nur eine; aber jeder auf einen andern Gegenstand sich beziehende Teil wird abgesondert und mit einem eigenen Namen benannt, [257d] weswegen es so viele Künste und Wissenschaften gibt.

Theaitetos: Ganz richtig.

Fremder: Geht es nun nicht auch den Teilen des Verschiedenen, obgleich dies auch eines ist, ebenso?

Theaitetos: Vielleicht; aber sage doch, inwiefern?

Fremder: Ein Teil des Verschiedenen ist doch dem Schönen entgegengesetzt?

Theaitetos: Ja.

Fremder: Ist dieser nun ohne Beinamen, oder hat er einen?

Theaitetos: Er hat einen. Denn was wir jedesmal das Nichtschöne nennen, das ist von nichts anderem das Verschiedene als von der Natur des Schönen.

Fremder: Wohlan, so sage mir denn dies.

Theaitetos: Was doch? [e]

Fremder: Kam nicht dadurch, dass es von einer bestimmten Gattung des Seienden erst abgesondert und dann wieder zu etwas von dem Seienden entgegenstellt wurde, das Nichtschöne zum Sein?

Theaitetos: So allerdings.

Fremder: Also eines Seienden Gegensatz gegen ein anderes, wie es scheint, ist das Nichtschöne.

Theaitetos: Ganz richtig.

Fremder: Wie nun? Gehört nun wohl nach dieser Erklärung das Schöne mehr unter das Seiende und das Nichtschöne weniger?

Theaitetos: Mitnichten.

Fremder: [258a] Ebensogut also, muß man sagen, ist das Nichtgroße wie das Große selbst?

Theaitetos: Ja, ebensogut.

Fremder: So ist auch das Nichtgerechte dem Gerechten gleichzusetzen darin, dass das eine nicht weniger ist als das andere?

Theaitetos: Unbedenklich.

Fremder: Und von den übrigen ist dasselbe zu sagen, wenn doch die Natur des Verschiedenen oder die Verschiedenheit sich unter dem Seienden gezeigt hat. Denn ist sie, so sind notwendig auch ihre Teile nicht minder als seiend zu setzen.

Theaitetos: Wie sollten sie nicht?

Fremder: Also ist auch der Gegensatz der Natur eines Teils des Verschiedenen und der des Seienden, wenn diese einander gegenübergestellt werden, nicht minder Sein, wenn man es sagen darf, als das Seiende selbst, und keineswegs das Gegenteil von jenem bedeutend, sondern nur so viel: ein Verschiedenes von ihm.

Theaitetos: Ganz gewiß.

Fremder: Wie sollen wir nun diesen nennen?

Theaitetos: Offenbar ja ist das Nichtseiende, was wir des Sophisten wegen suchten, eben dieses.

Fremder: Steht es also, wie du sagtest, keinem von den andern nach in Hinsicht auf das Sein? Und darf man schon herzhaft sagen, dass das Nichtseiende unbestritten seine eigene Natur hat, und dass, [c] gerade wie das Große groß und das Schöne schön war und das Nichtgroße und Nichtschöne nicht groß und nicht schön, ebenso auch das Nichtseiende war und ist nichtseiend und mit zu zählen als ein Begriff unter das viele Seiende? Oder haben wir hiergegen noch irgend einen Zweifel, o Theaitetos?

Theaitetos: Gar keinen.


 © textlog.de 2004 • 29.03.2024 15:29:13 •
Seite zuletzt aktualisiert: 08.01.2006 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright