32. Die Schwierigkeit des 'Seins', des 'Namens' und des 'Ganzen' für die, welche das All als Eins annehmen


Fremder: Wie nun? Sollen wir von denen, welche das All als Eins angeben, etwa nicht nach Vermögen erforschen, was sie wohl sagen von dem Seienden?

Theaitetos: Unbedenklich.

Fremder: Dies also mögen sie uns beantworten: »Ihr sagt, es sei nur Eins?« - »Das sagen wir,« werden sie sagen. - Nicht wahr?

Theaitetos: Ja.

Fremder: »Und wie? Seiendes nennt ihr etwas?«

Theaitetos: Ja.

Fremder: [244c] »Dasselbe was Eins? Und ihr bedient euch für dasselbe zweier Benennungen, oder wie?«

Theaitetos: Was sollen sie nun wohl hierauf, o Fremdling, antworten?

Fremder: Offenbar, o Theaitetos, ist es dem von dieser Voraussetzung Ausgehenden gar nicht leicht, auf das jetzt Gefragte und auf jegliches andere irgend zu antworten.

Theaitetos: Wieso?

Fremder: Zu gestehen, es gebe zwei Namen, wenn man nichts gesetzt hat als eins, ist doch ganz lächerlich.

Theaitetos: Wie sollte es nicht?

Fremder: Ja, überhaupt es sich gefallen zu lassen, wenn man sagt, es gebe einen Namen, das hätte ja doch keinen Sinn. [d]

Theaitetos: Weshalb?

Fremder: Denn setzt er zuerst den Namen als ein von der Sache Verschiedenes, so nennt er doch zwei.

Theaitetos: Ja.

Fremder: Setzt er aber den Namen als einerlei mit ihr, so wird er entweder genötigt sein, zu sagen, er sei Name von nichts, oder wenn er sagen will, er sei Name von etwas, so wird herauskommen, der Name sei des Namens Name und sonst keines andern.

Theaitetos: So ist es.

Fremder: Und auch das Eins, welches dann nur des Einen Eins ist, auch dieses sei wiederum nur eines Namens Eins.

Theaitetos: Notwendig.

Fremder: Und wie? Das Ganze sei verschieden von dem seienden Einen, werden sie sagen, oder einerlei damit?

Theaitetos: Wie sollten sie nicht letzteres jetzt und immer sagen? [e]

Fremder: Wenn es nun ganz ist, wie ja auch Parmenides sagt:

»Ähnlich um überallher der schönstgerundeten Kugel,

Gleich von der Mitte heraus sich verbreitend; denn größer nach hierhin,

Kleiner nach dorthin sein; das darf er sich nimmer vergönnen,«

so hat das Seiende als ein solches ja Mitte und Enden, und wenn es dies hat, hat es ja wohl ganz notwendige Teile. Oder wie?

Theaitetos: So allerdings.

Fremder: [245a] Allein, dem Geteilten kann zwar in Beziehung auf die Gesamtheit seiner Teile die Einheit zukommen, und nichts steht im Wege, dass es auf diese Art als ein Ganzes und All auch Eins sei.

Theaitetos: Woher auch?

Fremder: Aber ist es nicht unmöglich, dass dieses, dem dies alles zukommt, das Eins selbst sei?

Theaitetos: Wieso?

Fremder: Vollkommen unteilbar muß doch wohl das wahre Eins nach der richtigen Erklärung angenommen werden.

Theaitetos: Das muß es freilich.

Fremder: [b] Ein solches aber aus vielen Teilen Bestehendes stimmt nicht mit dieser Erklärung.

Theaitetos: Ich verstehe.

Fremder: Soll nun das Seiende, so dass ihm nur die Eigenschaft des Eins zukomme, Eins und ein Ganzes sein, oder sollen wir ganz und gar nicht sagen, dass das Seiende ein Ganzes sei?

Theaitetos: Eine schwere Wahl legst du mir vor.

Fremder: Ganz richtig bemerkt. Denn wenn das Seiende nur die Eigenschaft hat, auf gewisse Weise Eins zu sein, so zeigt es sich ja als nicht dasselbe seiend mit dem Eins, und so wird doch das Alles mehr sein als Eins.

Theaitetos: Ja.

Fremder: [c] Wenn aber dagegen das Seiende nicht, weil ihm nur die Eigenschaft von jenem zukäme. Ganzes ist, das Ganze selbst aber an sich auch ist, so wird ja das Seiende sich selbst fehlen.

Theaitetos: Freilich.

Fremder: Und wenn es diesem zufolge sich selbst fehlt, so wird ja das Seiende nicht seiend sein.

Theaitetos: Allerdings.

Fremder: Und wiederum wird Alles mehr als Eins, wenn das Seiende und das Ganze abgesondert jedes sein eigenes Wesen bekommen.

Theaitetos: Ja.

Fremder: Ist hingegen das Ganze selbst ganz und gar nicht: so begegnet dem Seienden nicht nur das nämliche wie vorher, [d] sondern außerdem, dass es nicht ist, kann es auch nicht einmal geworden sein.

Theaitetos: Warum nicht?

Fremder: Das Gewordene ist immer ein Ganzes geworden. So dass weder ein Sein noch ein Werden als seiend anzunehmen ist, wenn man das Ganze nicht unter das Seiende setzt.

Theaitetos: Auf alle Weise scheint sich dies so zu verhalten.

Fremder: Aber auch überall nicht irgendwie groß darf das Nichtganze sein. Denn ist es irgendwie groß,

so ist es doch, wie groß es auch sei, so groß notwendig ganz.

Theaitetos: Offenbar ja.

Fremder: Und es wird sich zeigen, wie ebenso jedes tausend andern, [e] nicht zu beseitigenden Schwierigkeiten ausgesetzt ist für den, welcher sagt, das Seiende sei nur Zwei oder nur Eins.

Theaitetos: Das offenbart sich schon durch das jetzt zum Vorschein Kommende: Denn an jedes knüpft sich immer ein anderes und bringt größere und schwierigere Irrung in jedes vorher Gesagte hinein.


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