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Teleologie

Diese Ähnlichkeit der Sprache mit anderen praktischen menschlichen "Erfindungen" verrät sich schon darin, daß man eben immer von dem Nutzen der Sprache redet und nur in besonders begeisterten Augenblicken von ihrem selbständigen Wert, von ihr als göttlichem Attribut gewissermaßen. Die Sprachforscher werden in solchen Stimmungen unwillkürlich immer theologisch, wie ja auch Herder bei aller geistigen Freiheit niemals ganz aufhört, christlicher Theologe zu sein. Selbst Whitney schreibt noch den traurigen Satz hin (Sprachwissenschaft S. 599): "Ganz allgemein läßt sich der Nutzen der Sprache dahin ausdrücken, daß sie die Menschen in den Stand setzt, ihrer Naturbestimmung gemäß ... ingeselligen Vereinen zusammen zu leben. Ohne Sprache gäbe es kein Volk und also auch keine Geschichte." Dieser Satz drückt so unbefangen die landläufige Meinung aller Welt und auch der Sprachphilosophen aus, daß es sich wohl der Mühe verlohnt, ihn genauer anzusehen.

Whitney hat gewiß keine Ahnung davon, daß aus seinen wenigen Alltagsworten und Dutzendgedanken nicht weniger als gleich zwei Gespenster auf einmal herausblicken, die Gespenster von Leibniz und von Hegel. Oder vielmehr das alte Gespenst der Teleologie in diesen beiden Verkleidungen. Das Wort Naturbestimmung ist zwar sicherlich ganz naiv gebraucht. Aber was sich dahinter verbirgt, das kann doch nichts anderes sein, als der für uns undenkbare Begriff der Zweckursache, mit dessen Hilfe der liebe Gott den Menschen ihre Bestimmung im voraus festgelegt hat. Und noch besser versteckt lauert hinter der Gleichsetzung von Volk und Geschichte etwas von Hegels Geschichtsauffassung. Über die Bestimmung des Menschen hat sich bereits Schiller lustig gemacht in dem Epigramm "Buchhändleranzeige":

"Nichts ist der Menschheit so wichtig, als ihre Bestimmung zu kennen:
Um zwölf Groschen Courant wird sie bei mir jetzt verkauft."

Mehr ist sie auch nicht wert, diese Zwölfgroschenweisheit von den Zweckursachen. Und wenn Whitney ganz ehrlich hinzufügt, ohne Sprache gäbe es kein Volk, also auch keine Geschichte, so möchte ich wohl ein paar gleichgesinnte Genossen um mich haben, um den schlichten Satz mit ihnen zu genießen. Nichts gleicht der feinen Heiterkeit, mit der mich, der unfreiwillige Humor eines so selbstsicheren "also" anzulächeln pflegt. Man sollte es nicht für möglich halten, aber Whitney verwechselt an dieser Stelle die wirkliche Geschichte, d. h. die reale Entwicklung, mit unserer Kenntnis von der Entwicklung, d. h. mit der Überlieferung oder Geschichtsschreibung. Man sollte es nicht für möglich halten, und dennoch sehen wir an anderer Stelle, daß auch der große Begriffsvirtuose Hegel, dessen imponierendste Leistung seine Geschichtsphilosophie war, die beiden Bedeutungen des Wortes Geschichte gröblich miteinander verwechselt oder vertauscht hat. Nicht in der wirklichen Entwicklung bewegen sich die Begriffe, sie bewegen sich allein im Kopfe des konstruierenden Geschichtsschreibers.

Wollen wir Teleologie und Abstraktion aufgeben und nach einem vorstellbaren Nutzen der Sprache fragen, so müssen wir solche Begriffe wie die Naturbestimmung und die Geschichte der Menschheit fallen lassen. Von der Menschheit wissen wir so wenig wie vom einzelnen Menschen Ausgangspunkt und Ziel der Reise. Wirklich ist am Ende nur das Individuum und nur, was dem Individuum nützt, ist Nutzen. Man glaubt hoffentlich nicht, daß ich da nur den gemeinen Vorteil im Auge habe, daß ich keinen Sinn habe für reinlichen Nutzen. Die ganze Untersuchung dieses Buches ist der Frage gewidmet, ob die menschliche Sprache ein nützliches Werkzeug sei für die Welterkenntnis, also für ein Streben, dem jeder gemeine Vorteil fremd ist. Den unreinen, den gemeinen Nutzen der menschlichen Sprache wird Niemand leugnen.