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Sprachgefühl

Wenn ihm nun die Beobachtung des äußeren Sprachbaus, der äußeren Sprachform nicht genügte, wenn er dann wieder an der Erkenntnis des wirklichen Sprachlebens, der inneren Organisation verzweifelte, so blieb ihm nichts übrig, als sein eigenes Sprachgefühl zu belauschen, um zu sehen, wie weit er damit kam. Wir legen (natürlich nur in unserer Muttersprache) den äußeren Sprachformen eine Bedeutung bei, wir empfinden die Endsilbe "te" als ein Zeichen für eine vergangene Zeit. Wenn ich z. B. die Laute "ich flirbte" ausspreche, so kann sich niemand etwas dabei denken, weil es ein Wort "flirben" in unserer Sprache nicht gibt; jeder Deutsche wird die Laute aber als ein Imperfektum empfinden, nach der Endsilbe te, und mancher wird wohl fragen, was das Wort "flirben" bedeute, dessen Imperfektum er eben vernommen hat. Was Humboldt also allzu gelehrt die innere Sprachform nannte und was zu so viel Geschwätz Veranlassung gegeben hat, das ist vorerst nicht mehr und nicht weniger, als was wir das Gefühl für die Formen unserer Muttersprache nennen.

Wir würden uns bei diesem Ausdruck vielleicht beruhigen, wenn nicht gerade der Wert, welchen ein Mann wie Humboldt diesem Gefühl beilegte, uns zu weiterem Nachdenken veranlassen müßte. So viel Achtung zum mindesten sind wir ihm schuldig, dass wir annehmen, er habe nicht ohne Nötigung nach einem neuen Begriffe gesucht.

"Das Gefühl für die eigene Sprachform", dieser Ausdruck kann uns auch darum nicht genügen, weil wir mit dem Worte Gefühl regelmäßig die unklareren und unbestimmteren Eindrücke zu bezeichnen gewohnt sind. Was wir mit den schärfsten Sinnen wahrnehmen, was wir sehen und hören, das nennen wir nicht Gefühl; nur die begleitenden dumpfen Beziehungen auf unser Interesse nennen wir beim Sehen und Hören Gefühle. Bei unseren Handlungen ist es das begleitende Gefühl der Beziehung auf uns selbst, was wir unseren Willen nennen. Beim Sprechen gebrauchen wir die Formen gewöhnlich unbewußt; sobald wir aber uns selbst die Frage vorlegen, aus welchem Grunde wir die Vergangenheit gerade so, die Mehrzahl gerade so, die Möglichkeit eines Urteils gerade so bezeichnen, ebenso oft glauben wir die Empfindung zu haben, dass der Geist unserer Sprache uns zwinge, die Vergangenheit, die Mehrzahl, die Möglichkeit usw. durch diese Form und keine andere zu bezeichnen. Diese Notwendigkeit schien durchaus im Wesen der Sprache selbst zu liegen, solange jedes Volk seine eigene Sprache für die allein mögliche und jede fremde Sprache für ein barbarisches Kauderwelsch hielt, so lange es eine vergleichende Sprachwissenschaft nicht gab. Bis dahin lag die Sache im wesentlichen so, dass die Formen und Begriffe der überlieferten lateinischen Grammatik für die Formen und Begriffe der Sprache selbst gehalten wurden; und da man in der Logik eine geradezu mathematische Wissenschaft des menschlichen Denkens zu besitzen glaubte, so verglich man die Formen der Sprache, also eigentlich immer die Formen der alleinseligmachenden römischen Sprache, mit den Regeln der Logik und gab sich damit zufrieden. Als nun die Sprachvergleichung nach ihrem ersten etymologischen Raubbau langsam zu der Bemerkung vorschritt, dass man in verschiedenen Sprachen verschieden denke, wagte sie sich zwar nicht an das heilige Gebäude der Logik und hat es bis zu dieser Stunde nicht gewagt, aber sie mußte die innere Organisation einer Sprache, da die allgemeine logische Stütze fallen gelassen werden mußte, individualisieren. Der gesunde Menschenverstand hätte lehren müssen, dass es von nun an so viele Logiken gebe, wie es Sprachen mit verschiedenem Bau gibt. Für eine solche Kühnheit scheint aber die Zeit noch nicht reif gewesen zu sein. Humboldt begnügte sich damit, dieses begleitende Gefühl für die Notwendigkeit der Muttersprachformen, also für die spezielle Logik der Einzelsprache, mit unklarer Einsicht in diesen Zusammenhang die innere Sprachform zu nennen.