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Schriftliche Sprache

Diese kleine Bemerkung, dass nämlich die starke Ungenauigkeit der Schriftzeichen im Verhältnis zu den Lautzeichen die Buchstabengruppen erst recht zu Wortbildern, also zu Teilen einer Schriftsprache im engeren Sinne gemacht hat, brauche ich bloß auszusprechen, um der Zustimmung jedes Fachmannes gewiß zu sein. Die Tatsache ist aber von unerschöpflicher Wichtigkeit für die Entwicklung der Sprache in der Richtung nach einer Schriftsprache im engern Sinne, die ich nun weiter "schriftliche Sprache" nennen werde. Man stelle sich einmal vor, in wie entsetzlicher, ja lächerlicher Weise die Natur verarmen müßte, wenn es in den Willen oder in die Gewohnheit der Menschen gegeben wäre, Tierformen oder Pflanzenformen, z. B. Blattformen, nach den wenigen Typen zu beschränken, welche die schematische Tätigkeit der Botaniker aufgestellt hat. Ich finde in einer guten Übersicht 36 solche verschiedene Blattformen namentlich aufgezählt. Ich will entgegenkommend sein und annehmen, diese Anzahl ließe sich (durch Verbindung mit der Anzahl der schematischen Blattrandformen) auf die Zahl von 200 bringen. Wir hätten dann in der ganzen ungeheuren Natur, in der sich nicht zwei Blätter am selben Baume gleichen, wohlgezählte 200 verschiedene Sinneseindrücke. Ganz ähnlich ist es mit der Sprache geworden, seitdem eine schriftliche Sprache mit ihren 24 Buchstaben die tausendfältig verschiedene Aussprache schematisch eingeschränkt hat. Und wir können durch einen glücklichen Zufall historisch belegen, dass die Schematisierung der Sprache seit der Einführung der Schrift Fortschritte gemacht hat. Wir wissen, dass in alten und neuen Sprachen die Laute eines Wortes sich verändern, je nach dem Laut, der auf sie folgt, sei es der Laut einer Bildungssilbe des Wortes selbst, sei es der Anlaut des folgenden Wortes im Satze. Nun verlangte die Orthographie des Sanskrit z. B., die auch darin streng phonetisch war, dass der Ablaut eines Wortes je nach seiner Aussprache, das heißt nach der Wirkung des ihm folgenden Anlauts, mit verschiedenen Buchstaben geschrieben wurde. Man denke sich das heutige Französisch mit seinen unaufhörlichen Hinüberziehungen so geschrieben — phonetisch also —, und der gebildete Franzose wird einem neuen, verwirrenden, schwer oder doch langsamer verständlichen Sprachbilde gegenüberstehen. Aber ich brauche die Beispiele nicht so weit herzuholen. Noch im Mittelhochdeutschen war die Orthographie phonetisch genug, um die Aussprache desselben Wortstammes verschieden zu schreiben. "Neigen — er neicte." In den modernen Sprachen hat die Etymologie gesiegt. Wir schreiben "neigte". Die Folge aber ist, dass wir Oberdeutschen ein schlechtes Gewissen dabei haben, wenn wir dieses g wie ein k aussprechen. Auf der Schulbank ist es uns eingeprügelt worden, dass der Buchstabe g so und nicht anders ausgesprochen werde; wir behalten darum zeitlebens die Neigung, ihn auch dort wie ein g auszusprechen, wo die lebendige Sprache den Laut des Wortstammes in ein k verwandelt hat. Im Mittelhochdeutschen schrieb man tac und sagte wie heute noch jeder naive Oberdeutsche Tak. Die schriftliche Sprache hat aber auf die Gemeinsprache, die sogenannte Schriftsprache der Gebildeten, eingewirkt, und heute sagt jeder oberdeutsche Schauspieler "Tach", weil ihm die genaue Aussprache "Tag" (mit einem reinen g als Auslaut) doch zu beschwerlich ist.