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Rad

Ist nun schon bei so realen und natürlichen Gegenständen wie bei einer Eiche (bei Tanne, welches im Althochdeutschen auch Eiche bedeutet, Tann = der Wald, liegt der Fall ganz ähnlich) die ältere Bedeutung nicht mehr festzustellen, so ist die Gefahr bei Bezeichnungen für Kulturerzeugnisse noch viel größer. Ich will ein schlagendes Beispiel aus der Gegenwart wählen. Das Wort Rad bedeutet augenblicklich bei uns unter anderem auch das Zweirad, das Veloziped, und es ist nicht unmöglich, dass diese Bedeutung als die prägnanteste einmal die anderen Bedeutungen überflügeln werde, dass das Wort "Rad", nachdem es von Wien aus (wahrscheinlich der Gaunersprache entlehnt, wo "Radler" schon lange den Fiaker, "Radlin" den Wagen bedeutete) Deutschland erobert hatte, einst einzig das Veloziped, vielleicht gar nur das automatisch betriebene Zweirad benennen werde. Das Wort Rad findet sich im Althochdeutschen, im Altirischen, im Lateinischen, im Litauischen und bezeichnete auch im Sanskrit schon einen Streitwagen auf Rädern. Es soll von einer indoeuropäischen Wurzel reth (rasch) abstammen und auch mit dem Worte Roß (englisch horse) zusammenhängen. Was würde man nun zu einem Kulturhistoriker sagen, der das Veloziped für einen Besitz des Urvolkes ausgeben und die Streitwagen der alten Inder für Velozipede erklären würde? Und doch begehen die Forscher einen ähnlichen Fehler, wenn sie (wie wir schon sahen) aus dem Gleichklang der griechischen Stadtbezeichnung (polis) die Existenz von Städten beim Urvolke angenommen haben, wenn sie ferner von den Versfüßen der Indoeuropäer reden oder wenn sie, wie Schrader hervorhebt, bei Begriffen wie kochen, weben, nähen, malen usw. unsere Vorstellungen dem sogenannten Urvolke unterschieben. Unter Umständen kann der Unterschied ebenso groß sein wie zwischen dem Veloziped und dem Streitwagen der alten "Arier". Was mag man in Urzeiten nicht schon "kochen" genannt haben!

Diese Gefahren erkennt also ein vorsichtiger Forscher wie Schrader ganz klar an, aber wo er der Versuchung nicht widerstehen kann, ein Bild der Urzustände zu entwerfen, da erliegt er dennoch den gleichen Gefahren, so wenig ideal sein Bild auch ausgefallen ist. Das zeigt sich in Schraders Versuchen, die Familie, die Sittlichkeit und die Religion des Urvolkes zu beschreiben. Überall wechselt vorsichtige Skepsis mit bescheidenem Phantasieren ab.