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Dinge und Worte

Wer das alles aber weiß, fällt trotzdem immer wieder in die Anschauung des Kindes, des Bauers und des Kellners zurück, weil auch seine Sprache nur die gleiche Ammensprache ist und weil nach zweihundert] ährigem Bestehen unserer Psychologie die Sprache noch keine anderen Worte hat als diejenigen, welche wie früher objektiv die Dinge selbst bezeichnen wollen. Für das Kind ist scheinbar jedes Wort ein Eigenname; Vater ist sein Vater, Hund ist sein Hund, Suppe ist anfangs der augenblicklich vor ihm stehende Teller Suppe; für uns ist eigentlich alles, sogar der Eigenname, ein Abstraktum. Homer ist natürlich nur der abstrakte, vielleicht nur gedachte Dichter der Ilias. Aber selbst der Zeitgenosse Bismarck ist für die Analyse nur die trotz aller Bücher völlig unbekannte Ursache einer Reihe von Wahrnehmungen, die wir teils direkt, teils indirekt unseren Sinnesorganen verdanken.

Nun ist für unseren alltäglichen Sprachgebrauch allerdings der Eigenname einer Person das konkreteste Konkretum. Machen wir aber aus unserer Erkenntnis Ernst, so greift das Reich des Abstrakten weiter und weiter, bis wir einsehen, dass wir nichts wissen als Abstraktionen, nur Worte und keine Dinge.

Ist Schatten ein konkretes Ding? Es ist Abwesenheit von Licht, so gut wie die schwarze Farbe. Und der Schatten hört darum nicht auf, noch weniger als ein Abstraktum, nämlich etwas Negatives zu sein, weil wir ein positives Wort für seine Empfindung besitzen.

Ist Flamme ein konkretes Ding? Was wir in der Lampe so dauernd leuchten sehen, sieht freilich danach aus, als ob es so etwas wäre. Es ist aber doch nur die Vereinigung zweier Gase, die wir wahrnehmen, und zwar nicht etwa die konkrete Vereinigung, die beiden vereinigten Gase selbst, sondern der, Akt ihrer Vereinigung, ein Abstraktum.

Ebenso ist auch Wind kein konkretes Ding, sondern eine Bewegung. Und der Wunsch aller heutigen Naturwissenschaften, jede Wirkung, also jede Wahrnehmung auf periodische Bewegungen zurückzuführen, begegnet sich endlich mit der seit zweihundert Jahren langsam reifenden Überzeugung, dass unsere ganze Erkenntnis subjektiv, dass unsere ganze Sprache ein luftiges Netz von Abstraktionen sei. Wir lächeln über das naive Kind, dem eine Reise versprochen worden war, dem fern von der Heimatstadt Berge und Seen und Wälder gezeigt wurden, das dann fragte: "Ja — aber wo ist die Reise?" Wir sind aber ebenso naiv, wenn wir den Physiker fragen: "Ja — aber wo ist der Schatten, die Flamme, der Wind?" Wenn wir den Erkenntnistheoretiker fragen: "Ja — aber wo ist der Apfel, der Apfel neben und außer seinen Eigenschaften?" Wir verlangen den Apfel zweimal.

Dabei ist es nun kein Zufall, sondern ein höchst erfreulicher Grund, an der Wirklichkeit unseres Daseins nicht zu zweifeln, dass die Lehre von den Dingen oder von der Wirklichkeit, die Naturwissenschaft, gerade bei der Bewegung als der obersten Form stehen geblieben ist, während die Worte der Sprache, wenn sie aus der Höhe der Abstraktion bis zu den Dingen herabtauchen wollen, schließlich im tiefsten Grunde ebenfalls auf die Bewegung stoßen. Nämlich so.

Wir haben gesehen, dass Apfel ein unklares Abstraktum ist. Wir können uns einem solchen bestimmten Ding allmählich nähern, indem wir zu den bekannten Eigenschaften des Begriffs Apfel (oder zu den bekannten Erinnerungsbildern der durch unzählige Äpfel bewirkten ähnlichen Sinneswahr-nehmungen) noch andere abgrenzende Eigenschaften hinzufügen, wie z. B. ein diesjähriger, reifer, großer Borsdorfer Apfel. Es ist wie eine Treibjagd auf den Begriff, der immer näher umstellt wird. Zur Vorstellung eines Apfelindividuums, also zu der uns allein zugänglichen subjektiven Wahrnehmung eines Dings, gelangen wir aber schließlich nur, indem wir an einem durch drei Dimensionen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, seiner vierten Dimension, nicht mehr einen Apfel, sondern den Apfel da, wahrnehmen. Erst durch Raum und Zeit bestimmt erscheint uns der Begriff ein Ding. Raum und Zeit aber sind Bedingungen der Bewegung. So ist die Bewegung die Brücke zwischen Worten und Dingen: und wie im menschlichen Körper es einen Kreislauf des Blutes gibt, wie die äußersten und feinsten Verästelungen der Arterien in die feinsten Verästelungen der Venen übergehen und das Leben zwischen ihnen liegt, so berührt sich die Wirklichkeit und die Sprache in der unzugänglichen Erscheinung der Bewegung. Die Worte berühren die Dinge nie, aber sie umschweben sie, wenn sie gute Worte sind, wie nach der Theorie der Bewegung ein sagenhafter Äther die Moleküle umspült. Auch die besten Worte noch sind Sage.

Unsere ganze Weltanschauung wäre einheitlicher, wenn unsere Sprache sich gewöhnen wollte, die Hypothese der Ursache, die Wirkung der Dinge aufeinander, auch bezüglich unseres Denkens auszudrücken. Seit jeher sieht der Mensch die Dinge untereinander als Ursachen von Wirkungen an und drückt es auch so aus. Die Sonne wärmt den Stein, das Schaf frißt das Kraut. Aber mit demselben Hochmut, mit dem er durch ungezählte Jahrtausende die Erde für den Drehpunkt der Sonne gehalten hat, weigert sich der Mensch, seine Sinne als das Spielzeug der Dinge sprachlich anzuerkennen, trotzdem er bis vor kurzem gar nicht wußte, dass die Zufallssinne (oder vielmehr ihre Gehirnzentren) auch aktiv, dass die Zufallssinne des Menschen ein lebendiges Spielzeug sind. Wenn ich mit der Katze spiele, spielt vielleicht die Katze mit mir (Montaigne II. 12). Der Mensch will nicht begreifen, dass die Welt, weil sie stärker ist, die Spielregeln stellt. Und doch würde er dadurch erst recht zum Mittelpunkte der Welt, freilich nur jeder einzelne zum Mittelpunkte seiner eigenen kleinen Welt.

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