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Kant und Sprachkritik

Den Begriff Entwicklung konnte Kants Zeit kaum auf die Sprache, geschweige denn auf die Vernunft anwenden. Kant war ein bedeutender Gelehrter, auch in der Naturwissenschaft, doch da wie sonst im Banne der Sprache; so wenig er (Goethes Metamorphose der Pflanze erschien erst 1790, Goethes Beginn ernsthafter naturwissenschaftlicher Studien fällt in das Erscheinungsjahr von Kants Kritik) an der Konstanz der Arten zweifelte, so wenig konnte er sich den menschlichen Verstand als etwas Gewordenes, als etwas Variierendes denken. Er mußte die ganze Descendenztheorie überspringen; umso bewundernswerter ist es, daß er erkannte, es stamme unsere Welterkenntnis nicht aus der Welt, sondern aus dem Verstande. Er konnte zu diesem Ergebnis nicht anders gelangen als durch eine ungeheure Kühnheit in der dialektischen Behandlung der Scholastik. Der mehr oder weniger materialistische Sensualismus der Engländer hatte eben darin geendet, daß nichts im Intellekte sei, als was vorher in den Sinnen gewesen wäre, daß es also nur Erfahrungssätze und die aus ihnen erschlossenen analytischen Sätze gebe, aber keine synthetischen Urteile a priori, das heißt, daß es überhaupt keine Sätze aus reiner Vernunft, daß es keine reine Vernunft gebe. Gegenüber dem mechanistischen Sensualismus war es nun Kants bedeutungsvolle Tat, auf die Selbstverständlichkeit, auf die Apriorität der Mathematik und (irrtümlicherweise) der Physik hinzuweisen, diese Apriorität aber nur für die Welt als Erscheinung zu behaupten, die Unerkennbarkeit der Welt an sich zu lehren und damit die Metaphysik zu zermalmen. Ich weiß nicht, wie man Kant ohne Zuhilfenahme der Sprachkritik ernste Widersprüche nachweisen will. Erst jetzt, wo nach einem hübschen Worte von Paulsen der menschliche Verstand zu einem Gegenstand der Anthropologie geworden ist (aber Paulsen meint nicht Sprach- kritik), läßt sich meines Erachtens der Fehler Kants erkennen und zugleich der Tiefsinn seiner Sätze ganz herausholen. Erst seitdem die Physiologie der Sinnesorgane und die Biologie der Organismen die Entstehung und die Funktion der Sinne genau so "widersinnisch" erklärt, wie Kant die Welt erklärt hat, können wir daran gehen, Verstand und Sinne als geworden zu betrachten und durch die weitere Einfügung des Begriffs der Zufallssinne dem Genie Kants ganz gerecht zu werden. Der Kern der Untersuchung wird wohl darin liegen, daß Kant die alten metaphysischen und biologischen Worte scholastisch, wortrealistisch auffaßte, daß er vor allem den Begriff der Apriorität als einen festen und absoluten hinnahm. Ich habe oben gesagt: Kant hätte die erste Frage seines Werkes, wie synthetische Urteile a priori möglich seien, damit beantworten sollen, daß synthetische Urteile a priori eben nicht möglich seien, das heißt fast: er hätte sein Werk ungedacht und ungeschrieben lassen müssen. Das war natürlich nur in jenem Zusammenhange nicht verkehrt. Für uns ist die Apriorität kein scholastischer Begriff mehr, für uns wird die Apriorität einen neuen Sinn bekommen, für uns ist die Apriorität etwas Relatives: das Gedächtnis des Menschengeschlechtes oder die Sprache ist für uns das relative Apriori geworden, das sogar buchstäblich als etwas Vorausgehendes sehr gut zu seiner neuen Bedeutung paßt; für uns ist die Apriorität sehr wohl auf den größten Teil des menschlichen Denkens anzuwenden. In unserer Sprache müßten wir sagen: es ist die Hauptmasse unserer Begriffe, die der überkommenen Sprache, apriorisch, relativ apriorisch, und da in den Begriffen schon die Urteile stecken, so sind auch die Urteile relativ apriorisch.

Wie steht es aber um die Möglichkeit und die Wirklichkeit synthetischer Urteile? Darauf könnte nur eine Philosophie der Mathematik antworten. Mir scheint, daß die Sprache sich gezwungen sehen wird, hier den Sinn der Worte bald umzukehren, daß der Widersinn der Kantischen Frage daher rührt: eben die sogenannten synthetischen Urteile, die wertvollen Bereicherungen sind gerade die aposteriorischen. Erst in der Kritik der Logik wird das deutlicher darzustellen sein. (Vergl. besonders III: Das Urteil.)