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Dezimalsystem

Der Glaube an die Heiligkeit der Zehnzahl zwingt mich zu einer kleinen Abschweifung. Es spricht sich in diesem Glauben eine Freude aus über die vielleicht neu eingeführten Schönheiten des dekadischen Zahlensystems. Man hat unbewußt die 10 zur Grundzahl eines Systems gemacht und wundert sich nachher darüber, dass sie die Grundzahl ist. Da ich doch diese Fragen mit der Entwickelung der Vernunft in Zusammenhang zu bringen versuche, so möchte ich an dieser Stelle die Untersuchung unterbrechen und auf den Unterschied zwischen Entdeckung und Erfindung in der Zahlenwelt hinweisen. Ich hoffe, es wird höchstens ein Umweg, aber kein Abweg werden. Die Geschichtsschreiber des dekadischen Zahlensystems täuschen sich nämlich meiner Meinung nach insofern, als sie überall da ein dekadisches System annehmen, wo unzivilisierte Völker aus natürlichen Gründen nur bis zu zehn oder bis zwanzig zahlen gelernt haben. Ebenso falsch ist es, überall da Reste eines Zwanzigersystems zu erblicken, wo wie im Französischen 80 durch 4 x 20 ausgedrückt wird, oder Spuren eines Zwölfersystems da, wo Mehrfache von 12 einen ersten Abschluß der Zählung abgeben, wie wieder im Französischen die Ziffer 60 innerhalb des ersten Hundert das letzte regelmäßig gebildete Zahlwort ist und sich in dem Worte six-vingt ein merkwürdiger Ausdruck für 120 findet. Alle diese reizenden Beispiele, die namentlich von Reisenden unter den Indianerstämmen vermehrt worden sind, scheinen mir nur Anzeichen dafür zu sein, dass das dekadische System sehr langsam in das Sprachbewußtsein der Völker eingedrungen ist. Ein bis zum Äußersten durchgeführtes dekadisches System besitzen wir Abendländer erst seit wenigen hundert Jahren; nicht älter sind die Ausdrücke Billion, Trillion usw. Wenn ein Volk seinen Groschen oder seinen Schilling in zwölf Teile einteilt, so mag das auf eine Zeit zurückgehen, in welcher die Zwölfzahl irgend eine Rolle spielte; von einem Zwölfersystem muß dabei nicht die Rede sein. So weit z. B. die Griechen ihr Zahlensystem bewußt in Zahlworten ausgearbeitet hatten, bis zu der Ziffer 10 000 nämlich, war es ein dekadisches System. Dagegen kommt es, je weniger wir die Entwickelungsgeschichte der Zahlworte kennen, um so weniger in Betracht, dass schon im Griechischen wie im Französischen das Zahlwort sechzig regelmäßiger gebildet war als die Zahlwörter für 70, 80 und 90. Auch im Deutschen wird die Zahl 60, die sonst ihre untergeordnete Stelle im dekadischen System hat, zu einer runden Zahl, sobald wir dafür Schock sagen und nach Schock zählen. Es ist offenbar, dass das Schock schon im Orient vielfach eine runde Zahl gewesen ist. In unserer Zeitrechnung mit ihren 2 x 12 Stunden, 60 Minuten und 60 Sekunden, in unserer Kreiseinteilung in 6 x 60 Grade sind noch unvertilgte und scheinbar unvertilgbare Reste aus einer Zeit vorhanden, in welcher die zwölf zum mindesten ebenso heilig schien wie die zehn. An ein Zwölfersystem ist da aber so wenig zu denken wie an ein ausgebildetes Zehnersystem. Wir müssen es so scharf wie möglich feststellen, dass jede Art von System eine Erfindung ist, eine Erfindung zur Erleichterung des Rechnens, während die Einsicht in die Zahlenverhältnisse auf Entdeckungen zurückzuführen ist. Es wäre z. B. auch in einem durchgeführten Zwölfersystem die Zahl, welche wir 25 nennen und schreiben und die im Zwölfersystem etwa 21 hieße, nach wie vor das Fünffache von 5 oder 52; nur die Zählung wäre eine andere. Wir müssen uns nur klar machen, dass die Menschen, wenn sie wirklich an den zehn Fingern ihrer Hände zählen gelernt haben, damit noch nicht das dekadische System erfanden, so wie es jetzt jeder Schuljunge lernen muß. Für uns ist aber nur wichtig, dass es erfunden wurde. Eine Erfindung kann nie ein Bild der Wirklichkeitswelt sein. Die dekadische Zählung kann nicht der Wirklichkeit entsprechen. Wir werden bald sehen, ob die Zählung überhaupt, ohne System, wirklich sein kann.

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