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§ 9. Tragweite der apodiktischen Evidenz des „Ich bin“

Die nächste Frage ist, ob diese Reduktion eine apodiktische Evidenz vom Sein der transzendentalen Subjektivität ermögliche. Nur wenn die transzendentale Selbsterfahrung apodiktisch ist, kann sie als Untergrund für apodiktische Urteile dienen, nur dann ist also Aussicht vorhanden für eine Philosophie, für einen systematischen Bau apodiktischer Erkenntnisse von dem an sich ersten Erfahrungs- und Urteilsfeld aus. Daß das ego sum bzw. sum cogitans als apodiktisch auszusprechen ist, daß wir also einen ersten apodiktischen Seinsboden unter die Füße bekommen, das hat bekanntlich schon Descartes gesehen, er betont ja die Zweifellosigkeit des Satzes und daß selbst das Ich zweifle schon das Ich bin voraussetzen würde. Dabei handelt es sich auch bei ihm um dasjenige Ich, das seiner selbst inne ist, nachdem es die Erfahrungswelt als möglicherweise zu bezweifelnde außer Geltung gesetzt hat. Es ist nach unseren präzisierenden Ausführungen klar, daß der Sinn der Zweifellosigkeit, in der das Ego durch die transzendentale Reduktion zur Gegebenheit kommt, wirklich dem von uns früher ausgelegten Begriff der Apodiktizität entspricht. Freilich ist damit das Problem der Apodiktizität und damit des ersten Grundes und Bodens für eine Philosophie noch nicht erledigt. Es regen sich ja sofort Zweifel. Gehört z. B. zu der transzendentalen Subjektivität nicht untrennbar ihre jeweilige Vergangenheit, die bloß durch Erinnerung zugänglich ist? Kann aber für diese eine apodiktische Evidenz beansprucht werden? Zwar wäre es verkehrt, darum die Apodiktizität des „Ich bin“ leugnen zu wollen, was doch nur möglich ist, wenn man äußerlich argumentierend über sie hinwegredet, also über sie hinwegsieht. Aber stattdessen muß nun das Problem der Tragweite unserer apodiktischen Evidenz brennend werden.

Wir erinnern uns hier einer früheren Bemerkung, daß Adäquation und Apodiktizität einer Evidenz nicht Hand in Hand gehen müssen — vielleicht war diese Bemerkung gerade auf den Fall der transzendentalen Selbsterfahrung gemünzt. In ihr ist das Ego sich selbst ursprünglich zugänglich. Aber nur einen Kern von eigentlich adäquat Erfahrenem bietet jeweils diese Erfahrung: Nämlich die lebendige Selbstgegenwart, die der grammatische Sinn des Satzes ego cogito ausdrückt, während darüber hinaus nur ein unbestimmt allgemeiner, präsumptiver Horizont reicht, ein Horizont von eigentlich Nicht-Erfahrenem, aber notwendig Mitgemeintem. Ihm gehört zu die zumeist völlig dunkle Selbstvergangenheit, aber auch die dem Ich zugehörigen transzendentalen Vermögen und die jeweiligen habituellen Eigenheiten. Auch die äußere Wahrnehmung (die allerdings nicht apodiktisch ist) ist zwar Selbsterfahrung des Dinges — es selbst steht da — aber in diesem Selbstdastehen hat es für den Erfahrenden einen offenen endlosen, unbestimmt allgemeinen Horizont von eigentlich nicht-selbst-Wahrgenommenem, und zwar als einen — das liegt darin als Präsumtion — durch mögliche Erfahrung zu erschließenden. Ähnlich also betrifft die apodiktische Gewißheit der transzendentalen Erfahrung mein transzendentales Ich bin in der ihm anhaftenden unbestimmten Allgemeinheit eines offenen Horizontes. Das Wirklichsein des an sich ersten Erkenntnisbodens steht demnach zwar absolut fest, nicht aber ohne weiteres das, was sein Sein näher bestimmt und was während der lebendigen Evidenz des Ich bin noch nicht selbst erschlossen sondern nur präsumiert ist. Diese in der apodiktischen Evidenz mit implizierte Präsumtion untersteht also hinsichtlich der Möglichkeiten ihrer Erfüllung der Kritik ihrer evt. apodiktisch zu begrenzenden Tragweite. Wie weit kann das transzendentale Ich sich über sich selbst täuschen und wie weit reichen die absolut zweifellosen Bestände trotz dieser möglichen Täuschung? Mit der Statuierung des transzendentalen Ego stehen wir überhaupt an einem gefährlichen Punkt, selbst wenn wir die schwierigen Fragen der Apodiktizität zunächst außer Betracht lassen.