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Über die Religion

Du fragst mich, wenn auch die Menschen, ihrer Natur nach sich über die Not erheben, und so in einer mannigfaltigeren und innigeren Beziehung mit ihrer Welt sich befinden, wenn sie auch, in wie weit sie sich über die physische und moralische Notdurft erheben, immer ein menschlich höheres Leben leben, und so in einem höheren mehr als mechanischen Zusammenhange leben, dass ein höheres Geschick zwischen [ihnen] und ihrer Welt sei, wenn auch wirklich dieser höhere Zusammenhang ihnen ihr Heiligstes sei, weil sie in ihm sich selbst und ihre Welt und alles, was sie haben und senen, vereiniget fühlen, warum sie sich den Zusammenhang zwischen [sich] und ihrer Welt gerade vorstellen, warum sie sich eine Idee oder ein Bild machen müssen, von ihrem Geschick, das sich genauer betrachtet weder recht denken liesse, noch auch vor den Sinnen liege?

So frägst du mich, und ich kann dir nur so viel darauf antworten, dass der Mensch auch in so fern sich über die Not erhebt, als er sich seines Geschicks erinnert, dass er für sein Leben dankbar sein kann und mag, dass er seinen durchgängigen Zusammenhang mit dem Elemente, in dem er sich regt, auch durchgängiger empfindet, dass er, indem [er] sich in seiner Wirksamkeit und den damit verbundenen Erfahrungen über die Not erhebt, auch eine unendlichere, durchgängigere Befriedigung erfährt, als die Befriedigung der Notdurft ist; wenn anders seine Tätigkeit rechter Art, nicht für ihn, für seine Kräfte und seine Geschicklichkeit zu weit aussehend, zu unruhig, zu unbestimmt, von der andern Seite nicht zu ängstlich, zu eingeschränkt, zu mässig ist. Greift es aber der Mensch nur recht an, so gibt es für ihn in jeder ihm eigentümlichen Sphäre ein mehr als notdürftiges, ein höheres Leben, also eine mehr als notdürftige, eine unendlichere Befriedigung. So wie jede Befriedigung ein momentaner Stillstand des wirklichen Lebens ist, so ist es auch eine solche unendlichere Befriedigung, nur mit einem wichtigen grossen Unterschiede, dass auf die Befriedigung der Notdurft eine negative erfolgt, wie z.B. die Tiere gewöhnlich schlafen, wenn sie satt sind, auf eine unendlichere Befriedigung aber zwar auch ein Stillstand des wirklichen Lebens, aber dass dieses neue Leben im Geiste erfolgt, und dass die Kraft des Menschen das wirkliche Leben, das ihm die Befriedigung gab, im Geiste wiederholt, (bis ihn die dieser geistigen Wiederholung eigentümliche Vollkommenheit und Unvollkommenheit wieder ins wirkliche Leben treibt.) Ich sage, jener unendlichere, mehr als notdürftige Zusammenhang, jenes höhere Geschick, das der Mensch in seinem Elemente erfahre, werde auch unendlicher von ihm empfangen, befriedige ihn unendlicher, und aus dieser Befriedigung gehe das geistige Leben hervor, wo er gleichsam sein wirkliches Leben wiederhohle. In so fern aber ein höherer, unendlicher Zusammenhang zwischen ihm und seinem Elemente ist, in seinem wirklichen Leben, kann dieser weder bloß in Gedanken, noch bloß im Gedächtnis wiederholt werden. Denn der bloße Gedanke, so edel er ist, kann doch nur den notwendigen Zusammenhang, nur die unverbrüchlichen, allgültigen, unentbehrlichen Gesetze des Lebens wiederhohlen, und in eben dem Grade, in welchem [er] sich über dieses ihm eigentümliche Gebiet hinaus und den innigeren Zusammenhang des Lebens zu denken wagt, verleugnet er auch seinen eigentümlichen Charakter, der darin besteht, dass er nicht bloß im einzelnen Falle, sondern jedem Falle, unter allen Umständen richtig ist, dass er ohne besondere Beispiele eingesehen und bewiesen werden kann. Jene unendlicheren mehr als notwendigen Beziehungen des Lebens können zwar auch gedacht, aber nur nicht bloß gedacht werden; der Gedanke erschöpft sie nicht, und wenn es höhere Gesetze gibt, die jenen unendlichem Zusammenhang des Lebens bestimmen, wenn es ungeschriebene göttliche Gesetze gibt, von denen Antigonä spricht, als sie, trotz des öffentlichen strengen Verbots, ihren Bruder begraben hatte, — und es muss wohl solche geben, wenn jener höhere Zusammenhang keine Schwärmerei ist — ich sage, wenn es solche gibt, so sind sie, in so fern sie bloß für (sich) und nicht im Leben begriffen gedacht werden, vorgestellt werden, unzulänglich, einmal weil jede Abstraction in eben dem Grade, in welchem der Zusammenhang des Lebens unendlicher, die Tätigkeit und ihr Element, die Verfahrungsart und die Sphäre, in der sie beobachtet wird, also das Gesetz und die besondere Welt, in der es ausgeübt wird, unendlicher verbunden ist und schon deswegen das Gesetz, wenn es auch gleich ein für gesittete Menschen allgemeines wäre, doch niemals ohne einen besonderen Fall, niemals abstract gedacht werden könnte, wenn man ihm nicht seine Eigentümlichkeit, seine innige Verbundenheit mit der Sphäre, in der es ausgeübt wird, nehmen wollte. Und dann sind die Gesetze des unendlichen Zusammenhangs, in dem sich der Mensch mit seiner Sphäre befinden kann, doch immer nur die Bedingungen, um jenen Zusammenhang möglich zu machen, und nicht der Zusammenhang selbst.

Also kann dieser höhere Zusammenhang nicht bloß im Gedanken wiederholt werden. So kann man von den Pflichten der Liebe und Freundschaft und Verwandtschaft von den Pflichten der Hospitalität, von der Pflicht, grossmütig gegen Feinde zu sein, man kann von dem sprechen, was sich für die oder jene Lebensweise, für den oder jenen Stand, für diss oder jenes Alter oder Geschlecht schicke, und nicht schicke, und wir haben wirklich aus den feinem, unendlichen Beziehungen des Lebens zum Teil eine arrogante Moral, zum Teil eine eitle Etiquette oder auch eine schale Bestimmungsmassregel gemacht und glauben uns mit unsern eisernen Begriffen aufgeklärter, als die Alten, die jene zarten Verhältnisse als religiöse, das heisst, als solche Verhältnisse betrachteten, die man nicht so wohl an und für sich als aus dem Geiste betrachten müsse, der in der Sphäre herrsche, in der jene Verhältnisse stattfinden1.

Und dies ist eben die höhere Aufklärung, als [die unsrige}. Jene zartem und unendlichem Verhältnisse müssen also aus dem Geiste betrachtet werden, der in der Sphäre herrscht, in dem sie stattfinden. Dieser Geist aber, dieser unendlichere Zusammenhang, selbst ———
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halten muss, und diesen und nichts anderes meint und muss er meinen, wenn er von einer Gottheit redet, und von Herzen und nicht aus einem dienstbaren Gedächtnis oder aus Profession spricht. Der Beweis liegt in wenigen Worten. Weder aus sich selbst allein, noch einzig aus den Gegenständen, die ihn umgeben, kann der Mensch erfahren, dass mehr als Maschinengang, dass ein Geist, ein Gott ist in der Welt, aber wohl in einer lebendigeren, über die Notdurft erhabnen Beziehung, in der (er) stehet mit dem, was ihn umgibt.

Und jeder hätte demnach seinen eigenen Gott, in so fern jeder seine eigene Sphäre hat, in der er wirkt und die (er) erfährt, und nur in so fern mehrere Menschen eine gemeinschaftliche Sphäre haben, in der sie menschlich, d. h. über die Notdurft erhaben wirken und leiden, nur in so fern haben sie eine gemeinschaftliche Gottheit; und wenn (es) eine Sphäre gibt, in der alle Menschen zugleich leben, und mit der sie in mehr als notdürftiger Beziehung sich fühlen, dann, aber auch nur in so fern, haben sie alle eine gemeinschaftliche Gottheit.

Es muss aber hiebei nicht vergessen werden, dass der Mensch sich wohl auch in die Lage des andern versetzen, dass er die Sphäre des andern zu seiner eigenen Sphäre machen kann, dass es also dem einen natürlicher weise nicht so schwer fallen kann, die Empfindungsweise zu billigen von einem Göttlichen, die sich aus den besonderen Beziehungen bildet, in denen jeder mit der Welt steht, wenn anders jene Vorstellung nicht aus einem leidenschaftlichen, übermütigen oder knechtischen Leben hervorgegangen ist, woraus dann immer auch eine gleich notdürftige, leidenschaftliche Vorstellung von dem Geiste, der in diesem Leben herrsche, sich bildet, so dass dieser Geist immer die Gestalt des Tyrannen oder des Knechts trägt. Aber auch in einem beschränkten Leben kann der Mensch unendlich leben, und auch die beschränkte Vorstellung einer Gottheit, die aus diesem seinem Leben für ihn hervorgeht, kann eine unendliche sein2.

Also, wie einer die beschränkte aber reine Lebensweise des andern billigen kann, so kann er auch die beschränkte aber reine Vorstellungsweise billigen, die der andere von Göttlichem hat. Es ist im Gegenteil Bedürfniss der Menschen, so lange sie nicht gekränkt und geärgert, nicht gedrückt und nicht empört in gerechtem oder ungerechtem Kampfe begriffen sind, ihre verschiedenen Vorstellungsarten von Göttlichem eben wie die übrigen Interessen sich einander zuzugesellen, und so der Beschränktheit, die jede einzelne Vorstellungsart hat und haben muss, ihre Freiheit zu geben, indem sie in einem harmonischen Ganzen von Vorstellungsarten begriffen ist, und zugleich, eben, weil in jeder besonderen Vorstellungsart auch die Bedeutung der besonderen Lebensweise liegt, die jeder hat, der notwendigen Beschränktheit dieser Lebensweise ihre Freiheit zu geben, indem sie in einem harmonischen Ganzen von Lebensweisen begriffen ist. ———
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d. h. solche sind, wo die Menschen, die in ihnen stehen, insofern wohl ohne einander isoliert bestehen können, und dass diese Rechtsverhältnisse erst durch ihre Störung positiv werden, d. h. dass diese Störung kein Unterlassen, sondern eine Gewalttat ist, und eben so wieder durch Gewalt und Zwang gehindert und beschränkt wird, dass also auch die Gesetze jener Verhältnisse an sich negativ, und nur unter Voraussetzung ihrer Übertretung positiv sind; da hingegen jene freieren Verhältnisse, so lange sie sind, was sie sind, ungestört bestehen.

Winke zur Fortsetzung

Unterschied religiöser Verhältnisse von intellektualen, moralischen, rechtlichen Verhältnissen einesteils, und von physischen, mechanischen, historischen Verhältnissen andernteils, so dass die religiösen) Verhältnisse einesteils in ihren Teilen die Persönlichkeit, die gegenseitige Beschränkung, das negative gleiche Nebeneinandersein der intellektualen Verhältnisse, anderenteils den innigen Zusammenhang, das Gegebensein des einen zum andern, die Unzertrennlichkeit in ihren Teilen haben, welche die Teile eines physischen Verhältnisses charakterisiert, so dass die religiösen) Verhältnisse in ihrer Vorstellung weder intellektuell noch historisch, sondern intellektuell historisch, d. h. mythisch sind, sowohl was ihren Stoff, als was ihren Vortrag betrifft. Sie werden also in Rücksicht des Stoffes weder bloß Ideen oder Begriffe oder Charaktere, noch auch blosse Begebenheiten, Tatsachen enthalten, auch nicht beedes getrennt, sondern beedes in Einem, (und zwar so, dass, wo die persönlichen Teile mehr Gewicht haben, Hauptpartie, der innere Gehalt sind, der äussere Gehalt geschichtlicher sein wird (epische Mythe), und wo die Begebenheit Hauptpartie ist, innerer Gehalt, der äussere Gehalt persönlicher sein wird (dramatische Mythe), nur muss nicht vergessen werden, dass so wohl die persönlichen Teile als die geschichtlichen immer nur Nebenteile sind, im Verhältnis zur eigentlichen Hauptpartie, zu dem Gott der Mythe. Das Lyrischmythische ist noch zu bestimmen.

So auch der Vortrag der Mythe. Ihre Teile werden einerseits so zusammengestellt, dass durch ihre durchgängig gegenseitige schickliche Beschränkung keiner zu sehr hervorspringt und jeder einen gewissen Grad von Selbstständigkeit eben dadurch erhält, und in so fern wird der Vortrag einen intellektualen Charakter tragen; anderseits werden sie, indem jeder Teil etwas weiter gehet, als nötig ist, eben dadurch jene Unzertrennlichkeit erhalten, die sonst nur den Teilen eines physischen, mechanischen Verhältnisses eigen ist.

So wäre alle Religion ihrem Wesen nach poetisch.

(Hier kann nun noch gesprochen werden über die Vereinigung mehrerer zu einer Religion, wo jeder seinen Gott und alle einen gemeinschaftlichen in dichterischen Vorstellungen ehren, wo jeder sein höheres Leben und alle ein gemeinschaftliches höheres Leben, die Feier des Lebens mythisch feiern.

Ferner könnte noch gesprochen werden von Religionsstiftern und von Priestern, was sie aus diesem Gesichtspunkte sind; jene die Religionsstifter (wenn es nicht die Väter einer Familie sind, die das Geschäft und Geschicke derselben forterbt), wenn sie einem ————————————


  1. Weitere Ausführung: inwiefern hatten sie recht? Und sie hatten darum recht, weil, wie wir schon gesehen haben, in eben dem Grade, in welchem sich die Verhältnisse über das physisch und moralisch Notwendige erheben, die Verfahrungsart und ihr Element auch unzertrennlicher verbunden sind, die in der Form und Art bestimmter Grenzen (?) absolut gedacht werden können.
  2. Ausführung.