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〈Gegner der Psychoanalyse〉

In diesen unvollständigen Andeutungen habe ich versucht, auf die noch nicht übersehbare Fülle von Beziehungen hinzuweisen, welche sich zwischen der ärztlichen Psychoanalyse und anderen Gebieten der Wissenschaft ergeben haben. Es ist da Stoff für die Arbeit einer Generation von Forschern gegeben, und ich zweifle nicht, daß diese Arbeit geleistet werden wird, wenn erst die Widerstände gegen die Analyse auf ihrem Mutterboden überwunden sind.1

Die Geschichte dieser Widerstände zu schreiben, halte ich gegenwärtig für unfruchtbar und unzeitgemäß. Sie ist nicht sehr ruhmvoll für die Männer der Wissenschaft unserer Tage. Ich will aber gleich hinzusetzen, es ist mir nie eingefallen, die Gegner der Psychoanalyse bloß darum, weil sie Gegner waren, in Bausch und Bogen verächtlich zu schimpfen; von wenigen unwürdigen Individuen abgesehen, Glücksrittern und Beutehaschern, wie sie sich in Zeiten des Kampfes auf beiden Seiten einzufinden pflegen. Ich wußte mir ja das Benehmen dieser Gegner zu erklären und hatte überdies erfahren, daß die Psychoanalyse das Schlechteste eines jeden Menschen zum Vorschein bringt. Aber ich beschloß, nicht zu antworten und, soweit mein Einfluß reichte, auch andere von der Polemik zurückzuhalten. Der Nutzen öffentlicher oder literarischer Diskussion erschien mir unter den besonderen Bedingungen des Streites um die Psychoanalyse sehr zweifelhaft, die Majorisierung auf Kongressen und in Vereins Sitzungen sicher, und mein Zutrauen auf die Billigkeit oder Vornehmheit der Herren Gegner war immer gering. Die Beobachtung zeigt, daß es den wenigsten Menschen möglich ist, im wissenschaftlichen Streit manierlich, geschweige denn sachlich zu bleiben, und der Eindruck eines wissenschaftlichen Gezänkes war mir von jeher eine Abschreckung. Vielleicht hat man dieses mein Benehmen mißverstanden, mich für so gutmütig oder so eingeschüchtert gehalten, daß man auf mich weiter keine Rücksicht zu nehmen brauchte. Mit Unrecht; ich kann so gut schimpfen und wüten wie ein anderer, aber ich verstehe es nicht, die Äußerungen der zugrunde liegenden Affekte literaturfähig zu machen, und darum ziehe ich die völlige Enthaltung vor.

Vielleicht wäre es nach manchen Richtungen besser gewesen, wenn ich den Leidenschaften bei mir und denen um mich freien Lauf gelassen hätte. Wir haben alle den interessanten Erklärungsversuch der Entstehung der Psychoanalyse aus dem Wiener Milieu vernommen; Janet hat es noch 1913 nicht verschmäht, sich seiner zu bedienen, obwohl er gewiß stolz darauf ist, Pariser zu sein, und Paris kaum den Anspruch erheben kann, eine sittenstrengere Stadt zu sein als Wien. Das Apercu lautet, die Psychoanalyse, respektive die Behauptung, die Neurosen führen sich auf Störungen des Sexuallebens zurück, könne nur in einer Stadt wie Wien entstanden sein, in einer Atmosphäre von Sinnlichkeit und Unsittlichkeit, wie sie anderen Städten fremd sei, und stelle einfach das Abbild, sozusagen die theoretische Projektion dieser besonderen Wiener Verhältnisse dar. Nun, ich bin wahrhaftig kein Lokalpatriot, aber diese Theorie ist mir immer ganz besonders unsinnig erschienen, so unsinnig, daß ich manchmal geneigt war anzunehmen, der Vorwurf des Wienertums sei nur eine euphemistische Vertretung für einen anderen, den man nicht gern öffentlich vorbringen wolle. Wenn die Voraussetzungen die gegensätzlichen wären, dann ließe sich die Sache hören. Angenommen, es gäbe eine Stadt, deren Bewohner sich besondere Einschränkungen in der sexuellen Befriedigung auferlegten und gleichzeitig eine besondere Neigung zu schweren neurotischen Erkrankungen zeigten, dann wäre diese Stadt allerdings der Boden, auf dem ein Beobachter den Einfall bekommen könnte, diese beiden Tatsachen miteinander zu verknüpfen und die eine aus der anderen abzuleiten. Nun trifft keine der beiden Voraussetzungen für Wien zu. Die Wiener sind weder abstinenter noch nervöser als andere Großstädter. Die Geschlechtsbeziehungen sind etwas unbefangener, die Prüderie ist geringer als in den auf ihre Keuschheit stolzen Städten des Westens und Nordens. Diese wienerischen Eigentümlichkeiten müßten den angenommenen Beobachter eher in die Irre führen als ihn über die Verursachung der Neurosen aufklären.

Die Stadt Wien hat aber auch alles dazugetan, um ihren Anteil an der Entstehung der Psychoanalyse zu verleugnen. An keinem anderen Orte ist die feindselige Indifferenz der gelehrten und gebildeten Kreise dem Analytiker so deutlich verspürbar wie gerade in Wien.

Vielleicht bin ich mitschuldig daran durch meine die breite Öffentlichkeit vermeidende Politik. Wenn ich veranlaßt oder zugegeben hätte, daß die Psychoanalyse die ärztlichen Gesellschaften Wiens in lärmenden Sitzungen beschäftigte, wobei sich alle Leidenschaften entladen hätten, alle Vorwürfe und Invektiven laut geworden wären, die man gegeneinander auf der Zunge oder im Sinne trägt, vielleicht wäre heute der Bann gegen die Psychoanalyse überwunden und diese keine Fremde mehr in ihrer Heimatstadt. So aber — mag der Dichter recht behalten, der seinen Wallenstein sagen läßt:

Doch das vergeben mir die Wiener nicht,
daß ich um ein Spektakel sie betrog.

Die Aufgabe, der ich nicht gewachsen war, den Gegnern der Psychoanalyse suaviter in modo ihr Unrecht und ihre Willkürlichkeiten vorzuhalten, hat dann Bleuler 1910 in seiner Schrift „Die Psychoanalyse Freuds, Verteidigung und kritische Bemerkungen“ aufgenommen und in ehrenvollster Weise gelöst. Eine Anpreisung dieser nach zwei Seiten hin kritischen Arbeit durch meine Person wäre so selbstverständlich, daß ich mich beeilen will zu sagen, was ich an ihr auszusetzen habe. Sie scheint mir noch immer parteiisch zu sein, allzu nachsichtig gegen die Fehler der Gegner, allzu scharf gegen die Verfehlungen der Anhänger. Dieser Charakterzug mag dann auch erklären, warum das Urteil eines Psychiaters von so hohem Ansehen, von so unzweifelhafter Kompetenz und Unabhängigkeit nicht mehr Einfluß auf seine Fachgenossen geübt hat. Der Autor der „Affektivität“ (1906) darf sich nicht darüber verwundern, wenn die Wirkung einer Arbeit sich nicht von ihrem Argumentwert, sondern von ihrem Affektton bestimmt zeigt. Einen anderen Teil dieser Wirkung — die auf die Anhänger der Psychoanalyse — hat Bleuler später selbst zerstört, indem er in seiner „Kritik der Freudschen Theorie“ (1913) die Kehrseite seiner Einstellung zur Psychoanalyse zum Vorschein brachte. Er trägt darin so viel von dem Gebäude der psychoanalytischen Lehre ab, daß die Gegner mit der Hilfeleistung dieses Verteidigers wohl zufrieden sein könnten. Als Richtschnur dieser Verurteilungen Bleulers dienen aber nicht neue Argumente oder bessere Beobachtungen, sondern einzig die Berufung auf den Stand der eigenen Erkenntnis, deren Unzulänglichkeit der Autor nicht mehr wie in früheren Arbeiten selbst bekennt. Hier schien der Psychoanalyse also ein schwer zu verschmerzender Verlust zu drohen. Allein in seiner letzten Äußerung (‚Die Kritiken der Schizophrenie‘, 1914) rafft sich Bleuler, angesichts der Angriffe, welche ihm die Einführung der Psychoanalyse in sein Buch über die Schizophrenie eingetragen hat, zu dem auf, was er selbst eine „Überhebung“ heißt. „Jetzt aber will ich die Überhebung begehen: Ich meine, daß die verschiedenen bisherigen Psychologien zur Erklärung der Zusammenhänge psychogenetischer Symptome und Krankheiten arg wenig geleistet haben, daß aber die Tiefenpsychologie ein Stück derjenigen erst noch zu schaffenden Psychologie gibt, welcher der Arzt bedarf, um seine Kranken zu verstehen und rationell zu heilen, und ich meine sogar, daß ich in meiner Schizophrenie einen ganz kleinen Schritt zu diesem Verständnis getan habe. Die ersten beiden Behauptungen sind sicher richtig, die letztere mag ein Irrtum sein.“

Da mit der „Tiefenpsychologie“ nichts anderes gemeint ist als die Psychoanalyse, können wir mit solchem Bekenntnis vorderhand zufrieden sein.


  1. Vgl. noch meine beiden Aufsätze in der „Scientia“ (Bd. 14, 1913): Das Interesse an der Psychoanalyse.