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Über das Mittelalter

Friedrich Schlegel sieht in seiner Charakteristik des mittelalterlichen Geistes das negative Moment dieser Epoche in der herrschenden unbeschränkten Richtung auf das Absolute, die sich in der Kunst als gezierte Phantasie, in der Philosophie und Theologie der Scholastik als ein nicht minder gezierter Rationalismus geltend macht. Das soll durch den Kontrast gegen die asiatische Geistesrichtung noch etwas ausgeführt werden. Auch der asiatische Geist ist durch eine hemmungslose Versenkung in das Absolute in Philosophie und Religion bezeichnet. Dennoch trennt ihn vom mittelalterlichen Geiste ein Abgrund; Ihm liegt bei äußerster Formgröße nichts ferner als Geziertheit. Seine innerste Verschiedenheit vom Geiste des Mittelalters beruht darin, daß er das Absolute, aus dem er die Sprache seiner Formen entfaltet, als gewaltigsten Inhalt gegenwärtig hat. Der Geist des Orients verfügt über die wirklichen Inhalte des Absoluten, was schon in der Einheit von Religion Philosophie Kunst, vor allem in der Einheit von Religion und Leben sich anzeigt. Man hat oft gesagt, daß im Mittelalter die Religion das Leben beherrschte. Aber erstens war die Herrscherin die Ekklesia, und zweitens findet zwischen herrschendem und beherrschtem Prinzip stets eine Trennung statt. Es ist eben für den Geist des Mittelalters über alles bezeichnend, daß seine Tendenz aufs Absolute, je radikaler sie auftritt, zugleich desto formaler ist. Die ungeheure mythologische Hinterlassenschaft der Antike ist noch nicht verloren gegangen, aber der Maßstab für ihren Realgrund fehlt, und es sind nur Impressionen von ihrer Macht zurückgeblieben: der Ring Salomonis, der Stein der Weisen, die sibyllinischen Bücher. Die formale Idee der Mythologie: das Machtverleihende, das Magische ist dem Mittelalter lebendig. Aber in ihm kann diese Macht nicht mehr legitim sein: die Kirche hat ihre Lehnsherren, die Götter, vernichtet. Hier ist nun ein Ursprung des formalistischen Geists der Epoche. Sie sucht die Macht über die entgötterte Natur auf einem Umwege zu erlangen, sie treibt Magie ohne mythologische Grundlage. Es entsteht ein magischer Schematismus. Man vergleiche die magische Praxis der Antike mit der des Mittelalters im Reich der Chemie: die antike Zauberei verwendet die Stoffe der Natur zu Tränken und Salben, die bestimmte Beziehung auf das mythologische Naturreich haben. Der Alchimist sucht – auf magischem Wege zwar – aber was? das Gold. – Analog verhält es sich mit der Kunst. Sie entspringt mit dem Ornament aus dem Mythischen. Das asiatische Ornament ist mythologisch gesättigt, das gotische Ornament ist rational-magisch geworden. Es wirkt, aber auf Menschen, nicht auf Götter. Das Erhabene muß als Hohes und Höchstes erscheinen, die Gotik gibt die mechanische Quintessenz des Erhabenen, das Hohe, Schlanke, das potentiell unendlich Erhabene. Der Fortschritt ist automatisch. Dieselbe tiefe sehnsüchtige, entgötterte Äußerlichkeit liegt noch im malerischen Stil der deutschen Frührenaissance und Botticellis. Das Gezierte dieser Phantastik entspringt aus dem Formalismus. Wo er den Zugang zum Absoluten eröffnen will, da verkleinert sich dieses gewissermaßen im Maßstabe, und wie die Entfaltung des gotischen Stils nur in der drangvollen Enge mittelalterlicher Städte möglich war, so auch nur unter einer Weltansicht, die gewiß ihrem absoluten Größenmaßstab nach kleiner gezirkelter als die der Antike, auch als die unsere, gewesen ist. Im höchsten Mittelalter war die antike Weltansicht endlich in hohem Maße vergessen, und in dieser verkleinerten Welt, die blieb, ist der scholastische Rationalismus und die sich selbst verzehrende Sehnsucht der Gotik entsprungen.