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[Schauplatz]

Die Kreatur ist der Spiegel, in dessen Rahmen allein die moralische Welt dem Barock sich vor Augen stellte. Ein Hohlspiegel; denn das war nur mit Verzerrungen möglich. Da im Sinne des Zeitalters alles historische Leben der Tugend abging, so wurde sie bedeutungslos auch für das Innere der dramatischen Personen selbst. Sie ist nie uninteressanter erschienen als in den Helden dieser Trauerspiele, in denen nur der physische Schmerz des Martyriums dem Anruf der Geschichte erwidert. Und wie das Innenleben der Person im Kreaturzustand, sei es auch unter Todesqualen, sich mystisch genugzutun hat, so trachten die Autoren auch historisches Geschehen einzufrieden. Die Folge der dramatischen Aktionen rollt sich wie in den Schöpfungstagen ab, da nicht Geschichte sich ereignete. Die Natur der Schöpfung, die das historische Geschehn in sich zurücknimmt, ist gänzlich von der Rousseauschen verschieden. Den Sachverhalt berührt's, doch nicht in seinen Fundamenten, wenn man meint: »Immer noch ist die Tendenz aus Widerspruch entstanden ... Wie ist jener machtvoll-gewaltsame Versuch des Barock zu begreifen, in galanter Schäferei etwas wie Synthese heterogenster Elemente zu erschaffen? Antithetische Natursehnsucht im Gegensatze zu harmonischer Naturverbundenheit galt gewiß auch hier. Aber das Gegenerleben war ein anderes, das Erleben nämlich der tötenden Zeit, der unausweichlichen Vergänglichkeit, des Sturzes aus den Höhen. Fern von hohen Dingen soll darum das Dasein des beatus ille allem Wechsel weit entrückt sein. So ist Natur für den Barock ein Weg nur aus der Zeit, die Problematik späterer Zeiten ist ihm fremd.«1 Vielmehr: zumal im Schäferspiel macht das Besondere barocker Landschaftsschwärmereien sich ersichtlich. Denn nicht die Antithese von Geschichte und Natur, sondern restlose Säkularisierung des Historischen im Schöpfungsstande hat in der Weltflucht des Barock das letzte Wort. Dem trostlosen Laufe der Weltchronik tritt nicht Ewigkeit, sondern die Restauration paradiesischer Zeitlosigkeit entgegen. Die Geschichte wandert in den Schauplatz hinein. Und gerade Schäferspiele streuen die Geschichte wie Samen in den Mutterboden aus. »An einem Ort, wo eine denkwürdige Begebenheit sich ereignet haben soll, lässt der Schäfer Verse zur Erinnerung in einem Felsen, Stein oder Baum zurück. Die Denksäulen der Helden, welche wir in den überall von diesen Schäfern erbauten Tempeln des Nachruhms bewundern können, prangen sämmtlich mit panegyristischen Inschriften.«2 »Panoramatisch«3 hat man, mit einer ausgezeichneten Prägung, die Geschichtsauffassung des siebzehnten Jahrhunderts genannt. »Die ganze Geschichtsauffassung dieser malerischen Zeit bestimmt sich durch solche Zusammenlegung alles Gedächtniswürdigen«4. Wenn die Geschichte sich im Schauplatz säkularisiert, so spricht daraus dieselbe metaphysische Tendenz, die gleichzeitig in der exakten Wissenschaft auf die Infinitesimalmethode führte. In beiden Fällen wird der zeitliche Bewegungsvorgang in einem Raumbild eingefangen und analysiert. Das Bild des Schauplatzes, genau: des Hofes, wird Schlüssel des historischen Verstehns. Denn der Hof ist der innerste Schauplatz. Harsdörffer hat im ›Poetischen Trichter‹5 eine uferlose Menge von Vorschlägen zur allegorischen — und im übrigen kritischen — Darstellung des vor allem andern der Betrachtung würdigen Hoflebens zusammengetragen. In Lohensteins interessanter Vorrede zur ›Sophonisbe‹ heißt es geradezu: »Kein Leben aber stellt mehr Spiel und Schauplatz dar | Als derer/ die den Hof fürs Element erkohren.«6 Dasselbe Wort bleibt denn freilich in Kraft, wenn die heldische Größe zu Fall kommt, der Hofstaat zum Blutgerüste sich verengt, »und diß, was sterblich heißt, wird auf den Schauplatz gehn«7. Im Hof erblickt das Trauerspiel den ewigen, natürlichen Dekor des Geschichtsverlaufes. Es war schon seit der Renaissance und nach Vitruvius festgelegt, daß für das Trauerspiel »stattliche Paläste/ und Fürstliche Garten-Gebäude/ die Schauplätze«8 sind. Während das deutsche Theater für gewöhnlich befangen an dieser Vorschrift haftet — in Gryphius' Trauerspielen gibt es keine landschaftliche Szenerie —, liebt die spanische Bühne es, die ganze Natur als dem Gekrönten pflichtig in sich einzubeziehen und dabei eine förmliche Dialektik des Schauplatzes zu entfalten. Denn andererseits ist die gesellschaftliche Ordnung und ihre Repräsentation, der Hof, bei Calderon ein Naturphänomen höchster Stufe, dessen erstes Gesetz die Ehre des Herrschers ist. Mit der ihm eigenen, immer wieder frappierenden Sicherheit sieht A. W. Schlegel auf den Grund der Sache, wenn er von Calderon sagt: »Seine Poesie, was auch scheinbar ihr Gegenstand sein möge, ist ein unermüdlicher Jubel-Hymnus auf die Herrlichkeiten der Schöpfung; darum feiert er mit immer neuem freudigem Erstaunen die Erzeugnisse der Natur und der menschlichen Kunst, als erblicke er sie eben zum ersten Male in noch unabgenutzter Festpracht. Es ist Adams erstes Erwachen, gepaart mit einer Beredsamkeit und Gewandtheit des Ausdrucks, mit einer Durchdringung der geheimsten Naturbeziehungen, wie nur hohe Geistesbildung und reife Beschaulichkeit sie verschaffen kann. Wenn er das Entfernteste, das Größte und Kleinste, Sterne und Blumen zusammenstellt, so ist der Sinn aller seiner Metaphern der gegenseitige Zug aller erschaffnen Dinge zu einander wegen ihres gemeinschaftlichen Ursprungs.«9 Der Dichter liebt es, spielerisch die Ordnung der Geschöpfe zu vertauschen: ein »Höfling ... des Berges«10 heißt Sigismund im ›Leben ein Traum‹; vom Meer als einem »buntkrystallnen Thiere«11 wird gesprochen. Und auch im deutschen Trauerspiel drängt mehr und mehr der natürliche Schauplatz in das dramatische Geschehn sich ein. Zwar Gryphius hat nur in der Übersetzung der ›Gebroeders‹ des Vondel dem neuen Stile nachgegeben und einen Priesterreyen dieses Dramas auf den Jordan und die Nymphen verteilt.12 Im III. Akte der ›Epicharis‹ jedoch führt Lohenstein den Reyen des Tiber und der sieben Hügel vor.13 Nach Art der »stillen Vorstellungen« des Jesuitentheaters mengt sich, wenn man so sagen darf, der Schauplatz in die ›Agrippina‹ ein: die Kaiserin, von Nero auf ein Schiff geladen, das durch einen versteckten Mechanismus auf hoher See zerfällt, wird im Reyen unter dem Beistande der Meernixen gerettet.14 Ein »Reyen der Syrenen«15 begegnet in der ›Maria Stuarda‹ des Haugwitz und Hallmann hat mehrere Stellen der gleichen Art. Ausführlich hat er in ›Mariamne‹ die Teilnahme des Berges Sion an dem Vorgang durch ihn selbst begründen lassen. »Hier/ Sterbliche/ wird euch der wahre Grund gewehrt/ | Warumb auch Berg und Zungen-lose Klippen | Eröffnen Mund und Lippen. | Denn/ wenn der tolle Mensch sich selber nicht mehr kennt/ | Und durch blinde Rasercyen auch dem Höchsten Krieg ansaget/ | Werden Berge/ Flüß' und Sternen zu der Rache auffgejaget/ | So bald der Feuer-Zorn des grossen Gottes brennt. | Unglückliche Sion! Vorhin des Himmels Seele/ | Itzt eine Folter-Höle! | Herodes! ach! ach! ach! | Dein Wütten/ Blut-Hund/ macht/ daß Berg' auch müssen schreyen/ | Und dich vermaledeyen! | Rach! Rach! Rach!«16 Wenn Trauerspiel und Pastorale, wie dergleichen Passagen beweisen, in der Naturauffassung sich decken, so kann nicht wunder nehmen, daß im Lauf der Entwicklung, die in Hallmann zum Gärungspunkt kommt, beide gegeneinander sich auszugleichen getrachtet haben. Ihre Antithese besteht nur auf der Oberfläche; latent erstreben sie sich zu verbinden. So nimmt Hallmann »schäferliche Motive in das ernste Schauspiel, z.B. den stereotypen Preis des Hirtenlebens, das Tassosche Satyrmotiv in Sophia und Alexander, andererseits überträgt er tragische Szenen, wie heroische Abschiedsszenen, Selbstmorde, göttliche Strafgerichte über Gute und Böse, Geisterscheinungen in das Schäferspiel«17. Selbst außerhalb dramatischer Historien, in der Lyrik, begegnet eine Projektion des zeitlichen Verlaufes in den Raum. Die Gedichtbücher der nürnberger Poeten bringen, wie weiland die alexandrinische Gelehrtenpoesie, »Thürme ... Brunnen, Reichsäpfel, Orgeln, Lauten, Stundengläser, Wagschalen, Kränze, Herzen«18 als graphischen Umriß ihrer Gedichte.



  1. Hübscher l.c. (S. 4of.). S. 542.
  2. Julius Tittmann: Die Nürnberger Dichterschule. Harsdörffer, Klaj, Birken. Beitrag zur deutschen Literatur- und Kulturgeschichte des siebzehnten Jahrhunderts. (Kleine Schriften zur deutschen Literatur- und Kulturgeschichte. 1.) Göttingen 1847. S. 148.
  3. Cysarz l.c. [S.39]. S. 27 (Anm.).
  4. L.c. S. 108 (Anm.); cf. auch S. 107 f.
  5. Cf. Prob und Lob der Teutschen Wolredenheit. Das ist: deß Poetischen Trichters Dritter Theil/ begreiffend: I. Hundert Betrachtungen/ über die Teutsche Sprache. II. Kunstzierliche Beschreibungen fast aller Sachen/ welche in ungebundner Schrifft-stellung fürzukommen pflegen. III. Zehen geistliche Geschichtreden in unterschiedlichen Reimarten verfasset. Zu nachrichtlichem Behuff Aller Redner/ Poeten/ Mahler/ Bildhauer und Liebhaber unsrer löblichen Helden Sprache angewiesen/ durch ein Mitglied der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft [Georg Philipp Harsdörffer]. Nürnberg 1653. S. 26J-272.
  6. Lohenstein: Afrikanische Trauerspiele l.c. [S. 63]. S. 249 (Sophonisbe, Widmung 169 f.).
  7. Gryphius l.c. [S. 53]. S. 437 (Carolus Stuardus IV, 47).
  8. Vom Theatrum oder Schawplatz. Ein Frauenzimmer-Gesprechspiel/ so bei ehr- und tugendliebenden Gesellschafften auszuüben. Verfasset durch [Georg] Philipp Harsdörffern. Mitgenossen der Hochlöblichen/ Fruchtbringenden Gesellschafft/ genannt der Spielende. Nürnberg 1646. Für die ... Gesellschaft für Theatergeschichte ... aufs Newe in Truck gegeben ... (Hrsg.: Heinrich Stümcke.) Berlin 1914. S. 6.
  9. August Wilhelm Schlegel: Sämtliche Werke. Bd 6, l.c. [S. 36]. S. 397.
  10. Calderon: Schauspiele. Übers, von Gries. Bd I, l.c. [S. 75]. S. 206 (Das Leben ein Traum I).
  11. Don Pedro Calderon de la Barca: Schauspiele. Übers. von J[ohann] D[iederich] Gries. Bd 3. Berlin 1818. S. 236 (Eifersucht das größte Schausal I).
  12. Cf. Gryphius l.c. [S. 53] S. 756 ff. (Die sieben Brüder II, 343 ff.).
  13. Cf. Lohenstein: Römische Trauerspiele l.c. [S. 87]. S. 223 f. (Epicharis III, 721 ff.).
  14. Cf. l.c. S. 71 f. (Agrippina III, 497 ff.).
  15. Cf. Haugwitz l.c. [S. 52f.]. ›Maria Stuarda‹ S. 50 (III, 237 ff.).
  16. Hallmann: Trauer-, Freuden- und Schäferspiele l.c. [S. 58]. ›Mariamne‹ S. 2 (I, 40 ff.).
  17. Kurt Kolitz: Johann Christian Hallmanns Dramen. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Dramas in der Barockzeit. Berlin 1911. S. 158 f.
  18. Tittmann l.c. [S. 89]. S. 212.