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Juli 1916

Diplomaten

Graf Szögyeny am Tage des Kriegsausbruches.

Von Franz Freiherrn v. Haymerle.

K.u.k. Botschaftsrat.

— 19. Juni

An die

Löbliche Redaktion der »Neuen Freien Presse«

Wien.

(Das sind acht Zeilen, weil zum Glück der Ausbruch auf den Krieg folgt und die Löbliche mit großem L geschrieben wird, während es sonst nur sechs gewesen wären. Da er also anhub, dürfte wohl die Fortsetzung so sein, daß die Welt aufhorchen wird. Halten wir den Atem an, mag uns dies um so schwerer fallen, als die folgenden Gedanken auch jeder für sich einen eigenen Absatz haben, bezähmen wir die kunstvoll gesteigerte Neugierde — der Lohn, der uns winkt, wird so sein, daß der Österreicher sagt: »Es ist dafür gestanden«, während der Deutsche das nicht versteht und nach einigem Nachdenken sagt: »Ach so, Sie meinen wohl, es hat sich gelohnt? Na hören Sie mal, das meine ich nun ganz und gar nicht!« Der arme Graf Szögyeny dürfte oft sein Kreuz [Schwierigkeit] gehabt haben, zwischen solchen Sprachbesonderheiten den Dolmetsch zu machen. Und was hatte der Freiherr v. Haymerle dabei zu tun?)

Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nachstehende Zeilen in Ihr geschätztes Blatt aufnehmen wollten.

Ich hatte die Ehre, seit Ende Januar 1914 als k.u.k. Botschaftsrat in Berlin unter dem Befehle Sr. Exzellenz des Grafen Szögyeny-Marich zu stehen.

Näheres über die Zeit kurz vor Ausbruch des Weltkrieges zu sagen, liegt nicht in meiner Absicht, noch bin ich dazu berechtigt; ich möchte nur eine für den großen Staatsmann charakteristische und zugleich ehrende Episode erwähnen.

Es war am Abend der Kriegserklärung zwischen Serbien und der k.u.k. Monarchie.

Ich war, mit der Bitte um eine Unterschrift, noch um 1/29 Uhr abends zu Sr. Exzellenz aus der Kanzlei hinuntergekommen.

Der Botschafter war eben im Begriff, aus dem Eßzimmer in sein Schreibzimmer zurückzukehren.

(Ein Shakespearescher König wäre hier ungeduldig geworden und hätte etwa gesagt:

Bursche, mach’s kurz. Armsel’ge Botschaft bringt,
Wer mit geschäft’ger Miene also anhebt.
Solch Augendrehn und Lippenmurmeln kenn’ ich,
Und wind’ge Worte schlag ich in den Wind.
Bist du ein Botschaftsrat, so rat’ ich dir,
Halt kurz die Botschaft; bringst du gute Zeitung,
So ist die Zeitung schlecht, der du sie bringst,
Und nur mein Ohr geschaffen, sie zu hören.
Wer viel zu sagen hat, sagt nicht so viel;
Zum Ernst der Tat paßt nicht der Rede Spiel.

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Was also geschah, als der Botschafter, eben im Begriffe, aus dem Eßzimmer in sein Schreibzimmer zurückzukehren, noch um ½9 Uhr abends, also statt ins Schlafzimmer zu gehen, den Botschaftsrat empfing?)

Als er mich sah, frug er mich, seiner Gewohnheit gemäß, auch dann immer zuerst seine Besucher oder Beamten zu fragen, ob etwas Neues los sei, selbst dann, wenn er selbst Wichtiges mitteilen wollte: »Was gibt’s Neues?« Auf meine Antwort, mir sei nichts Wichtiges bekannt, sah mich der alte Herr mit einem ganz eigentümlichen, halb stolzen, halb wehmütigen Blicke an und sagte, mir tief ergriffen die Hand reichend: »Soeben haben wir Serbien den Krieg erklärt.«

(Der Botschaftsrat, ½9 Uhr abends, wußte das noch nicht. Dagegen das Volk: es wußte es.)

Buchstäblich in dem gleichen Augenblicke ertönte bereits in der Moltkestraße (die zwischen dem Botschaftspalais und dem preußischen Kriegsministerium hindurchführt), ein donnerndes vielfaches Hoch und gleich darauf wurde unsere geliebte Volkshymne von Hunderten von Menschen aller Stände — Offiziere, Herren im Zylinder, Damen in Abendtoilette, Frauen aus dem Volke, Arbeiter, Soldaten und Kinder — angestimmt, und alles rief wie aus einem Munde nach dem Botschafter. »Ans Fenster«, »ans Fenster«, »er soll sich zeigen«, »wir wollen ihn sehen

(Ans Fenster? Es ist halt ein Kreuz. Alstern ans Fenster, wozu hätten denn die Herrschaften sonst Abendtoilette gemacht? Aber wie war nur diese Überraschung zu erklären?)

Es fühlte eben bereits damals mit dem der großen Menge eigenen Spürsinn das deutsche Volk, wie innig —

(Sympathie geht eben schneller als Diplomatie.)

Se. Exzellenz war so tief ergriffen, daß ich nur mit Mühe ihn dazu bewegen konnte, ans Fenster seines Schreibzimmers zu treten. — —

Graf Szögyeny war so erschüttert, daß er der begeisterten Menge nur mit der Hand seinen Dank zuwinken konnte. Doch Tränen rannen ihm über die Wangen. Und ich schäme mich nicht, einzugestehen, daß auch mir, der im Hintergrund stehend diesen erhebenden Moment miterleben durfte, die schweren Tränen kamen.

Für den Botschafter war es aber wohl der größte und schönste Moment seines schicksalsschweren Lebens, als der bedeutende Staatsmann kurz vor dem Scheiden aus seinem seit zweiundzwanzig Jahren innegehabten Amte noch erleben konnte, welche für unser geliebtes Vaterland unschätzbaren Früchte ....

Hochachtungsvollst

Freiherr v. Haymerle,

k.u.k. Botschaftsrat, zurzeit im Felde.

Mit solchen unschätzbaren Lesefrüchten, die die Welt der Erwachsenen und Verantwortlichen im Lichte der Fibel zeigen, vertreiben wir uns die große Zeit. Sie haben geweint; es wird wieder in der Fibel stehn, damit man den Enkeln nichts mehr zu erzählen brauche. Alle drei haben geweint, denn der Botschafter war erschüttert, wie er fühlte, daß er selbst, nämlich der bedeutende Staatsmann erschüttert war: das sind zwei, und der Botschaftsrat, der dabei stand: macht drei. In der Auseinandersetzung zwischen dem Betmann Hohlweg und Herrn Goschen soll nur einer geweint haben, denn jeder der beiden behauptet, daß der andere geweint habe. Immerhin ist festgestellt: daß aus einem großen Moment eine große Zeit entstanden ist. Und daß Ende Juli 1914 zwischen den Diplomaten mehr Tränen als Noten ausgetauscht worden sind. Später wurden dann in Europa die Noten ganz eingestellt und nur noch den Tränen freier Lauf gelassen. Wenn Europa sie getrocknet haben wird und wieder mit klaren Augen in die Welt sieht, wird es vielleicht verhindern, daß es künftig einen so traurigen Beruf wie die Diplomatie noch geben könne und gar einen so trostlosen wie die Journalistik, und vor allem, daß durch die Verknüpfung von Botschaft und Zeitung so viel Gelegenheit in die Welt komme, Tränen und allerlei sonst zu vergießen. Ein Shakespearescher König hätte, nachdem der Botschaftsrat endlich geendet, etwa die Worte gesprochen:

O Haymerle, zu viel der Tränen flossen,
Seitdem geschehen, was dir Tränen schuf,
Und eh du es berichtet. Spar die Tränen,
Daß künftig sie der Menschheit nicht mehr fließen.
Du Bote blutig tränenvoller Tat,
Ich dank’ dir nicht! Zieh wieder ab ins Feld,
Bring bessre Botschaft; bring auch bessre Zeitung!
Du Haymerle des Unheils, mach dich fort,
Ermüde nicht das Ohr mit dem Bericht,
Der Jovis Donner macht zum Schwatz des Pöbels.
Was malst du Pinsel uns den grauen Himmel
Zum Sonnentag, das Elend zur Idylle?
Harmloser Bote du des Schaudervollen,
Zu lang’ hat Trauer unter uns geweilt:
Du bannst sie nimmermehr durch Langeweile!
Und merk, vielfältig greuliches Erlebnis
Wird durch die Einfalt kindischer Erzählung
Nicht ausgetilgt. Wer hat dich hergesandt
Zum Spott auf uns und dieses heil’ge Land?
Unhaymerle, ich geb’ dir diesen Rat:
Die Rede spare, spare auch die Tat.
Hättst noch nach neun du nichts von ihr erfahren,
So käme all dies Unglück nicht zu Jahren.
O war’, was nachher, heute noch zuvor!
Botschaft und Zeitung lähmten Aug und Ohr.
Nimm meinen Zorn, es sei dir nicht verhehlt:
Man liest, hört, glaubt euch, weil der Glaube fehlt!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 431–436, XVIII. Jahr
Wien, 2. August 1916.