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April 1916

Gruss an Bahr und Hofmannsthal

Gruss an Hofmannsthal

Ich weiß nur, daß Sie in Waffen sind, lieber Hugo, doch niemand kann mir sagen, wo. So will ich Ihnen durch die Zeitung schreiben. Vielleicht weht’s der liebe Wind an Ihr Wachtfeuer und grüßt Sie schön von mir.

Mir fällt ein, daß wir uns eigentlich niemals näher waren, als da Sie Ihr Jahr bei den Dragonern machten. Erinnern Sie sich noch? Sie holten mich gern abends ab und wir gingen zusammen und ich weiß noch, wie seltsam es mir oft war, wenn wir im Gespräch immer höher in die Höhe stiegen, über alle Höhen uns verstiegen, und dann mein Blick, zurückkehrend, wieder auf Ihre Uniform fiel; sie paßte nicht recht zu den gar nicht uniformen Gedanken. Im Oktober werden’s zwanzig Jahre! Seitdem ist man »berühmt« geworden, es hat uns an nichts gefehlt, aber wer wagt zu sagen, daß diese zwanzig Jahre gut für uns waren? Wie sind sie jetzt plötzlich so blaß geworden in diesem heiligen Augenblick! Es war eine Zeit der Trennung, der Entfernung, der Vereinsamung; jeder ging vom anderen weg, jeder stand für sich, nur für sich allein, da froren wir. Jetzt hat es uns wieder zusammengeblasen, alle stehen für einander, da haben wir warm. Jeder Deutsche, daheim oder im Feld, trägt jetzt die Uniform. Das ist das ungeheure Glück dieses Augenblicks. Mög’ es uns Gott erhalten!

Und nun ist auf einmal auch alles weg, was uns zur Seite trieb. Nun sind wir alle wieder auf der einen großen deutschen Straße. Es ist der alte Weg, den schon das Nibelungenlied ging, und Minnesang und Meistergesang, unsere Mystik und unser deutsches Barock, Klopstock und Herder, Goethe und Schiller, Kant und Fichte, Bach, Beethoven und Wagner. Dann aber hatten wir uns vergangen, auf manchem Pfad ins Verzwickte. Jetzt hat uns das große Schicksal wieder auf den rechten Weg gebracht. Das wollen wir uns aber verdienen.

Glückauf, lieber Leutnant. Ich weiß, Sie sind froh. Sie fühlen das Glück, dabei zu sein. Es gibt kein größeres. Und das wollen wir uns jetzt merken für alle Zeit: es gilt, dabei zu sein. Und wollen dafür sorgen, daß wir hinfort immer etwas haben sollen, wobei man sein kann. Dann wären wir am Ziel des deutschen Wegs, und Minnesang und Meistersang, Herr Walther von der Vogelweide und Hans Sachs, Eckhart und Tauler, Mystik und Barock, Klopstock und Herder, Goethe und Schiller, Kant und Fichte, Beethoven und Wagner wären dann erfüllt. Und das hat unserem armen Geschlecht der große Gott beschert!

Nun müßt ihr aber doch bald in Warschau sein! Da gehen Sie nur gleich auf unser Konsulat und fragen nach, ob der österreichisch-ungarische Generalkonsul noch dort ist: Leopold Andrian. Das ist nun auch gerade zwanzig Jahre her, daß Andrian den »Garten der Erkenntnis« schrieb, diese stärkste Verheißung. Er wird sie schon noch halten, mir ist nicht bang: ein Buch mit zwanzig, eins mit vierzig, eins mit sechzig Jahren, weiter nichts, in jedem aber volle zwanzig Jahre drin, dann wird er der Dichter der drei Bücher sein, das ist auch ganz genug. Und wenn ihr so vergnügt beisammen seid, und während draußen die Trommeln schlagen, der Poldi durchs Zimmer stapft und mit seiner heißen dunklen Stimme Baudelaire deklamiert, vergeßt mich nicht, ich denk an euch!

Es geht euch ja so gut, und es muß einem ja da doch auch schrecklich viel einfallen, nicht?

Auf Wiedersehen!

Bayreuth, 16. August 1914.

Hermann Bahr.

Heute kann’s ja doch endlich zugestellt und ohne Verletzung des Briefgeheimnisses verbreitet werden. Heute muß ja der Humor dieser brieflichen Feuertaufe von durchschlagendem Effekt sein. Denn damals, als das Grauen noch eine Sensation war und man noch aufhorchte, wenn Mörser losgingen, ist die Wirkung verpufft. Und doch war dieses Schreiben des damals national, jetzt katholisch spekulierenden Literaturfilous, das ihn zugleich von der Seite jener Dummheit zeigte, die das aussichtsvollste Geschäft verderben kann, — und doch war es damals, ernsthaft, in den Zeitungen veröffentlicht, bei uns und in Berlin, und wurde von dem Meister noch in ein Buch, das er »Kriegssegen« nannte, aufgenommen. Das Glück, dabei zu sein, wurde von diesem Hermann Bahr allerdings zu einer Zeit empfunden, wo die Kriegsleistungspflicht noch nicht auf die 50- bis 55jährigen ausgedehnt war. Aber schließlich, wer hätte denn je gefürchtet, daß man auf Herrn Bahrs Dienste reflektieren würde, solange die Charge eines Kriegshanswurstes eine freiwillige und noch nicht systemisiert ist? Er ist darum noch kein Soldat, weil er den Kriegsausbruch einen »heiligen Augenblick« nennt, wie er darum noch kein Heiliger ist, weil er einen katholischen Roman geschrieben und ihn »Himmelfahrt« genannt hat. Es handelt sich indes nicht um sein Wohl und Wehe, von dem man überzeugt sein kann, daß er es in den Dienst jeder guten Sache stellen würde, die gerade aktuell ist, da er ja überall unabkömmlich ist und nie daran dächte, sich anders als auf die bisherige Art reklamieren zu lassen. Es handelt sich vielmehr um die Einziehung des Herrn v. Hofmannsthal in die kriegerische Sphäre, die hier auf eine in der Geschichte der Mobilisierungen noch nicht erhörte Weise besorgt wird. Was die Verhältnisse der Wirklichkeit anlangt, in der Herr v. Hofmannsthal lebt und in der er, wenn schon nicht mit seinem Ruhme, so doch mit seiner Gesundheit den Weltkrieg überleben wird, so läßt sich nur sagen, daß es keine privatere Angelegenheit auf dieser blutigen Erde geben könnte als die Frage, ob einer mit größerer oder geringerer Begeisterung dabei ist, wo er dabei sein muß; daß es die letzte Privatangelegenheit ist, die der heutige Mensch hat; und daß es höchstens Sache des Staates, nie aber des Mitmenschen sein darf, der Kreatur den ungestörten Genuß des Erdenglücks zu mißgönnen. Aber die völlige Schamlosigkeit, mit der in diesem Fall auf publizistischem Wege die Gewißheit verbreitet wurde, daß der Herr von Hofmannsthal »in Waffen« sei und irgendwo — wer weiß wo — an einem Wachtfeuer sitze, an das der »Wind« den Gruß des Altmeisters, des daheim sitzenden, leider nicht mehr mitkönnenden, wehen möge — bitte, wehen möge! — nur dieser übertriebene Optimismus fordert zu der tatsächlichen Feststellung heraus, daß selbst im Krieg, der bekanntlich Krieg ist, auf die postalischen Verbindungen mehr Verlaß ist als auf den Wind. Denn die Post kann, wenn es ihr auch noch so schwer gemacht wird, immerhin findig sein, während der Wind ein von Natur schwanker Geselle ist, ehrgeizlos und ein Blatt öfter auf einen Misthaufen wehend, als Mist zu einem Wachtfeuer, an dem ein vaterländischer Dichter, wenn er gerade nichts zu singen und zu sagen hat, der Lieben in der Heimat gedenkt, welche jetzt Briefe an ihn schreiben mögen, die ihn nicht erreichen. Aber auf die Post kann man, wenn sich nicht die Zensur ins Mittel legt, Häuser bauen, die sie dann eins nach dem andern abläuft, bis sie den Adressaten gefunden hat, und der Briefträger hätte dem Herrn Bahr, der sich einmal beklagt hat, daß ihm die Briefe der Cosima Wagner nicht zugestellt werden, während die von Gabor Steiner ankamen, triumphierend beweisen können, daß er den Leutnant Hofmannsthal gefunden habe, gleich beim Ausbruch des Weltkriegs und die ganze große Zeit hindurch, an einem Wachtfeuer, das im Kriegsfürsorgeamt brennt und wo die Meinung des Herrn Bahr, daß man dort warm habe und alle für einander stehen, durchaus zutrifft. Wer weiß wo: ehedem der schwermütige Refrain eines Soldatenliedes, ist in diesem Fall nicht einmal ein Postvermerk, da es sich keineswegs um die Feldpost handelt, deren Arbeit selbst bei zustellbaren Briefen immerhin durch die Truppenbewegungen erschwert wird. Denn es ist einfach nicht wahr, daß es je eine Zeit gab, und wäre sie noch so groß gewesen, da niemand sagen konnte, wo Herr v. Hofmannsthal, und hätte er selbst in Waffen gestarrt, sich aufhalte. Er hat vor zwanzig Jahren als Dragoner Herrn Bahr begleitet; er wäre, da er in solcher Eigenschaft den Weltkrieg keineswegs begleitet hat, von Herrn Bahr zu finden gewesen. Diesem ist nur eingefallen, »daß sie sich eigentlich niemals näher waren«, als damals. Aber es hätte ihm eigentlich einfallen können, daß sie sich jetzt noch näher sind. Zum Beispiel dem Setzer, der diesen meinen Gruß gesetzt hat, ist es gleich beim Anblick des Bahr’schen Grußes, wiewohl der ihm schon gedruckt vorlag, eingefallen, und er hat die Stelle, wo es von jenen zwanzig Jahren heißt, daß »sie« so blaß geworden seien, irrtümlich für einen Druckfehler gehalten und richtig so gesetzt: »Wie sind Sie jetzt plötzlich so blaß geworden in diesem heiligen Augenblick!« Und er hat ein Übriges getan: er hat die Stelle, wo Herr Bahr von dem Glück, dabei zu sein, spricht, von dem ungeheuren Glück des Augenblicks: »Mög es uns Gott erhalten!«, er hat auch diese für einen Druckfehler angesehen und als ein gründlicher Kenner der wahren Seelenbeschaffenheit der beiden Herren die Worte hingesetzt: »Möge uns Gott erhalten!« Warum auch nicht? Es hat ja den beiden Herren durch all die zwanzig Jahre »an nichts gefehlt«, sie hatten sich so viel verdient, nun wollen sie sich auch noch das Glück des Augenblicks verdienen und einen Schluß auf Heroismus machen, wenn die Geschäftsspesen nicht allzu groß sind. Gott möge sie erhalten. Gott weiß, wie es der Setzer weiß, wie es der Briefträger und alle Welt weiß: wo Herr v. Hofmannsthal jenes Glück, von dem Herr Bahr behauptet, daß es kein größeres gibt, tatsächlich erlebt hat. Nur Herr v. Hofmannsthal selbst hat gezögert, es zu sagen; und da er die Bescheidenheit hatte, den offenen Brief des Mentors nicht auf der Stelle offen zu beantworten und nicht in jenen Zeitungen, die ihn gedruckt hatten, zu erklären, er sei zwar noch nicht in Warschau, werde aber in Wien bleiben, weil er nicht mehr in Rodaun sein könne — so ist es erlaubt, an seiner Statt nachträglich die Berichtigung vorzunehmen. Dem rapiden Sturmlauf der Entwicklung vom Nibelungenlied über Herrn Walther von der Vogelweide, Mystik und Barock, Klopstock, Kant, Schiller, Beethoven bis zu der Erwartung: »Nun müßt ihr aber doch bald in Warschau sein!«, will ich mich dabei nicht hinderlich in den Weg stellen, da ja der Weg zweifellos der »rechte« ist. Indes, der Aufgeber des verloren gegangenen, aber viel gelesenen Briefes, der Autor dieses von der eigenen Windigkeit verwehten Bekenntnisses, dürfte längst wissen, daß am 16. August 1914 oder in den folgenden Tagen die Österreicher im Allgemeinen noch nicht in Warschau waren, daß speziell aber der Leutnant Hofmannsthal überhaupt nie so weit vorgedrungen ist, wenn ihm nicht etwa nach der Einnahme dieser Festung Gelegenheit geboten war, mit Liebesgabenpaketen oder in sonst einer honorigen Mission des Kriegsfürsorgeamtes dortselbst zu erscheinen. Was nun vollends die andere Erwartung des Herrn Bahr anlangt, Hofmannsthal werde, sobald er mit der österreichischen Armee seinen Einzug in Warschau halte, die Gelegenheit benützen, den dortigen österreichischen Generalkonsul aufzusuchen, so gehört sie so sehr in den Bereich jener Vorstellungen, die der kleine Moriz vom Kriege hat und die keineswegs zu verwechseln sind mit den Vorstellungen des großen Moriz, die wir tagtäglich im Leitartikel mitmachen, daß man sich wundern muß, wie die Setzer, die es das erstemal zum Druck brachten, die Setzer des Herrn Bahr, doch zweifellos von Gelächter geschüttelt, keinen Mißgriff gemacht haben. Ich habe, wie schon erwähnt, die meinen vor Ausschreitungen bewahren müssen. Denn mit den Setzern ist nicht zu spaßen, wenn sie einmal etwas Spaßiges in die Arbeit kriegen; da ist ihnen kein Augenblick heilig. Daß aber die Leser, ergriffen von dem Vorbild der Treue im Hinterland, wo auch der alternde Dichter seiner Lieben im Felde gedenkt, nicht gelacht haben, ist begreiflich. Was könnte man ihnen, die zu jedem vaterländischen Opfer des Intellekts bereit sind, in einem heiligen Augenblick nicht alles zumuten! Herr Bahr aber, der ja auch damals schon mehr als 50 Jahre alt war, also in einem Alter stand, das ihn zum Waffendienst wie zum Ammenmärchen in gleicher Weise untauglich macht, war ernstlich der Meinung, daß der müde Sieger Hofmannsthal gleich beim Einmarsch und ehe er sich noch im Hotel die Hände vom Blut gereinigt hat, aufs Konsulat gehen werde, das an einem Tage, wo österreichische Truppen einziehen, natürlich noch nach zwei Uhr offen hat, und dort fragen werde, ob der Poldi, nämlich der Generalkonsul, da sei oder zufällig außer Haus. Denn es versteht sich von selbst, daß ein österreichischer Generalkonsul in einer russischen Festung bei Ausbruch eines Krieges nicht davonläuft, sich aber andererseits auch nicht fangen läßt, sondern auf seinem Posten ausharrt, bis die braven Österreicher kommen, die Eigenen, zu deren Empfang er natürlich anwesend ist, nicht etwa nur aus Gründen der Repräsentation, sondern auch, um den einziehenden Truppen das im Krieg notwendige Paß-Visum zu erteilen. Fragt sich höchstens, ob noch der Poldi — Herr Bahr scheint darüber nicht informiert — das Amt hat, das er vielleicht schon an den Rudi abgetreten hat, während er selbst in Moskau amtiert, wo er vorläufig noch auf die österreichische Armee warten muß. Vielleicht ist aber der Poldi noch in Warschau. Wenn ja, wird er zweifellos zur Feier des Tages, »und während draußen die Trommeln schlagen«, nicht nur in vergnügtem Beisammensein mit seinem Gast aus Wien, mit dem Hugerl, des gemeinsamen Gönners in der Heimat gedenken, sondern auch, durchs Konsulat stapfend, Baudelaire deklamieren, wie einst im Mai. Beiden aber, dem Generalkonsul und dem Eroberer Warschaus wird »schrecklich viel einfallen«, mehr noch als dem Bahr, dem es die Zeitungen in Wien und Berlin gedruckt haben. Nein, die Druckereien sind nicht geborsten vor Heiterkeit, denn sie waren sich der Wichtigkeit ihrer Mission bewußt, die sonst unbestellbare Botschaft an Leutnant Hofmannsthal weiterzugeben, der am Wachtfeuer wohl selten einen Brief, aber immer pünktlich seine Zeitung bekommt. Sie sind ja dazu da, den Wind zu machen statt des Windes, wiewohl selbst sie nicht verhindern können, daß, wenn künftig einmal ein rechtschaffener Wind Mist heranwehen sollte, ich glauben werde, es sei ein schöner Gruß vom Hermann Bahr .... Nun müßte man allerdings meinen, daß ein Mensch, dem das aus der Feder geflossen ist, auf Lebenszeit verhindert wäre, eine »Himmelfahrt« mit Erfolg auf den Markt zu bringen, weil es ja doch unmöglich sei, daß sich die Leser je noch von einem solchen Salzburger etwas erzählen lassen werden. Denn wenn es bekannt ist, daß es keine hypertrophischeren Formen in der Welt der Erscheinungen geben kann als einen Christen, der ein Schmock, und einen Juden, der dumm ist, so könnte eine Verbindung dieser verschiedenen Eigenschaften und Zustände nicht eben das Ragout sein, das die Feinschmecker in der Belletristik vertragen. Aber was vertragen sie nicht! Wenn sich ein Herrgottsschwindler in einem Feldpostbrief, den er in Wien durch einen Dienstmann abgeben könnte, nur auf Eckhart und Tauler beruft, so glauben sie ihm sogar die Mystik; und wenn ein ausgewitzter Literaturschieber von einem heiligen Augenblick sprach und sich als sterbender Attinghausen noch einmal aufrichtete, um den Krieg zu segnen und die beiden Jünger, die an ihm auf so exponiertem Posten teilnehmen, mit der Bitte zu entlassen, ihn, während sie Baudelaire singend in den Tod ziehen, nicht zu vergessen, da stand wohl in manchem Auge eine Träne. Hätten wir unberufen die Einbildungskraft des größten Moriz, so »möchten wir uns das Gesicht des Herrn Hofmannsthal vorstellen«, wenn er dem alten Mystiker zum erstenmal wieder auf einem Jour bei Schlesingers begegnet und wenn der die Frage stellt, wie sich das damals in Warschau gemacht habe. Aber die beiden Herren, der Grüßer und der Gegrüßte, müssen sich irgendwie auf den Schlachtenruhm geeinigt haben, denn das Buch, in dem der Brief steht, ist im Handel geblieben und gewiß sind sie einverständlich zu dem Entschluß gekommen, es in dieser großen Zeit nicht einstampfen zu lassen. Mindestens ist nicht bekannt geworden, daß Herr v. Hofmannsthal aus Wien einen Feldpostbrief nach Salzburg, das doch immerhin zum weiteren Kriegsgebiet gehört, geschrieben hat, des Inhalts: »Lieber Bahr, machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Weit entfernt, in Warschau zu sein, bin ich in Wien, ich bin gesund und arbeite an einem ›Prinzen Eugen‹. Ob ich das Glück fühle, dabei zu sein? Ob ich es fühle! ›Ich weiß, Sie sind froh‹, schreiben Sie. Wie Sie das erraten haben, Sie Kenner. Ob ich froh bin! Mir fällt schrecklich viel ein, zum Beispiel, daß wir uns eigentlich niemals näher waren als jetzt. Ich meine das nicht im lokalen Sinne, denn Sie sind in Salzburg; sondern im Punkt der Gesinnung. Sie können sich noch erinnern, wie ich Dragoner war. Sehen Sie, es ist das einzige, was ich ganz vergessen hatte. Ja, Sie haben recht. Wie sagt doch Baudelaire: Was wir vor zwanzig Jahr’n für zwei Hallodri war’n! Sonst hat sich wenig verändert. Was den Poldi anlangt, an dessen Stimme Sie sich seit damals dunkel erinnern, so kann ich Ihnen mitteilen, daß auch bei ihm sich wenig verändert hat, es wäre denn, daß die Umstände schon zu der Zeit, wo ich nicht vor Warschau stand, ihn verhindert haben, dort Generalkonsul zu sein. Ich hätte ihn also nicht getroffen; gut, daß ich nicht dort war. Das Buch, das er mit vierzig Jahren hätte schreiben sollen, ist noch nicht erschienen, und zu dem mit sechzig, sagt er, hat er noch Zeit. Tatsächlich aber hat er neulich, während draußen die Burgmusik spielte, Baudelaire deklamiert, um Ihre Illusionen, Sie lieber Phantast, nicht ganz zu enttäuschen. Er hat durchgehalten. Die Zeit ist ernst, die Stimmung zuversichtlich. In diesem Sinne grüße ich Sie.« So ungefähr hätte Herr v. Hofmannsthal sich aussprechen sollen, ohne gezwungen zu sein, auch nur anzudeuten, daß er im Krieg eine Tätigkeit ausübe, mit der verglichen die im Kriegsarchiv auf der Mariahilferstraße gefahrvoll ist, von den Helden der Kriegsberichterstattung nicht zu reden, die doch oft den Rauch der Kaffeehäuser im engeren Kriegsgebiete zu schlucken kriegen, und ganz zu schweigen von manch einer draufgängerischen Kollegin, die eben dort, wo Männer auf Eroberungen ausgehen, am liebsten auch die Hände nicht in den Schoß gelegt hätte. Die Dienstleistung aber, die Herr v. Hofmannsthal erwählt hat, bietet dafür den Vorteil, daß sie den Funktionär in einem angenehmen Inkognito erhält, dem zwar kein Lorbeer blüht, das aber den Glauben, er stehe vor Warschau, weder hervorruft noch ausdrücklich in Abrede stellt. Hätte Herr v. Hofmannsthal der Gnade des Schicksals oder wie die Protektion heißen mag, die ihn unsichtbar gemacht hat, sich durch den Vorsatz würdig gezeigt, auf Kriegsdauer auch unhörbar zu sein, so hätte ich gern davon Abstand genommen, die Verlegenheit, in die ihn der taktlose Gruß des Herrn Bahr gebracht hat, zu vergrößern. Niemand hätte ihm vorgeworfen, daß er, der doch einst als Dragoner sein Jahr an der Seite des Bahr absolviert hat, das Glück, dabei zu sein, in einer ziemlich versteckten Filiale des Kriegs verspiele. Er hätte nichts zu tun gebraucht, als den gewagten Ausspruch, mit dem er seine »Österreichische Bibliothek« eingeleitet hat: »Es ist etwas Stummes um Österreich«, für seine Person wahr zu machen. Er hätte nichts zu tun gehabt, als zu schweigen, in einer Zeit, in der manche »nichtgediente« Kollegen, die zum Wort eine, wenn auch nicht so erlesene, so doch tiefere Beziehung haben als er, es der Tat, zu der sie nicht geboren wurden, opfern mußten! In dem Augenblick, als er Musenalmanache auf das Jahr 1916 herausgab, schwarzgelbe Büchel aussteckte und die unleugbare Popularität des Prinz Eugen-Marsches für literarische Zwecke zu fruktifizieren begann, war jede Diskretion über die weite Entfernung, in der sich seine einwandfreie Gesinnung von dem ihr angemessenen Schauplatz aufhält, überflüssig. In dem Augenblick, als er hervortrat, war es klar, daß er nicht in Warschau sei. Er mußte es nicht mehr dementieren. Er konnte die Theaternotizen, in denen von seinem Abmarsch an die Front berichtet wurde, unwidersprochen lassen. Er konnte die Ehre, die ihm durch das Manifest des Bahr angetan wurde, auf sich sitzen lassen! Jeder wußte es und konnte ihm ins Gesicht sagen, daß er in Wien sei, und an diesem Zustand ist nichts unstatthaft als der volle Mund einer Kriegsfürsorge, die anderen den Krieg besorgen möchte und sich selbst mit der Literatur zufrieden gibt. Denn da möchte ich doch bitten: wenn einer bei Kriegsausbruch im Vorzimmer einer Wohltätigkeitsanstalt gesehen wurde, von des Gedankens Blässe angekränkelt, wenn einer in einem heiligen Augenblick so verfallen aussah, wie zwanzig Jahre in der Erinnerung, so hat er auf Kriegsdauer jede Annäherung an den Prinzen Eugen zu unterlassen; wiewohl dieser auch wenig Freude an dem Weltkrieg gehabt hätte, aber selbst heute und trotz dem Bündnis mit der Türkei das mit der Brücken nicht so gemeint hätte, daß man könnt hinüberrucken ins Kriegsfürsorgeamt! Es ist unwürdig, sich von einem Professionsgrüßer ein »Glückauf, lieber Leutnant« zurufen zu lassen, wenn man bei sich selbst weiß und sich jeden Tag davon überzeugen kann, daß man das Glück hat, hinauf in ein Büro gekommen zu sein. Man hat den Zuruf »Ich weiß, Sie sind froh« in solcher Lage mit einem lauten und vernehmlichen Ja zu quittieren, ganz als stünde man vor einem andern Altar als dem des Vaterlandes. Niemand hat von Leuten wie Bahr und Hofmannsthal Bravourstückeln in den Dolomiten erwartet; von Hofmannsthal nicht, weil er dazu zu gut erzogen ist, und vom Bahr nicht, wiewohl der Alterston des Abschiednehmers, der zwar nicht mehr mittun kann, aber von der rüstigen Jugend nicht vergessen werden will, keineswegs darüber hinwegtäuschen darf, daß die Biederkeit auch waffenfähig ist und daß schon ältere Älpler in diesem Krieg losgegangen sind. Item; man war nie so herzlos, die Namen der beiden Herren in einer Verlustliste zu vermissen — obgleich sie schon manch wertvollere, wortärmere Menschen angeführt hat und wenige, von deren Fortleben sich eine ungünstigere kulturelle Wendung befürchten ließ. Aber der Übermut, der, nicht zufrieden, daß das Glück des Augenblicks lebenslänglich erstreckt wird, noch täglich in der traurigen Gewinnliste des Hinterlands figurieren will, ist wahrlich die lästige Kehrseite des Mutes, der einem erlassen wird. Herr Hofmannsthal hatte erst zu dementieren und dann ein Patriot zu sein! Oder zu schweigen und dann auch, solange der Krieg dauert, keine Musik dazu zu machen! Wenn er nicht bis Warschau gekommen ist, so hatte er auch nicht nach Berlin zu gehen und dort nebst einigen anerkennenden Worten für »Hindenburgs Siegeszug nach Warschau« eine Rede über den Krieg gegen Italien als »unseren Krieg« zu halten und durch solche Wendungen den schon ganz konfusen Bahr in Versuchung zu bringen, bei ihm anzufragen, ob er nun bald in Venedig sein werde, nämlich am Lido, wo Bahr selbst schon in den buntesten Uniformen Aufsehen erregt hat. Aber niemand hat dem Herrn v. Hofmannsthal, den der Treubruch Italiens einen Dreck angeht — privat mag er ihn schmerzen, weil er ihn verhindert, Goethes dritte italienische Reise zu machen —, niemand hat ihm außer dem Kriegsfürsorgeamt noch das Amt gegeben, die Nation zu vertreten. Er mag ja, was nicht schwer ist, eine ehrlichere Haut sein als der d’Annunzio, aber es ist kompletter Größenwahn, der ihn in die künstlerische wie politische Rivalität treibt, denn abgesehen davon, daß er mit dem bißchen ästhetischen Kram in Österreich weit weniger Staat machen kann, als jener mit seiner melodischen Fülle in Italien, wird doch d’Annunzio aus diesem Krieg mit etwas geschwächter Sehkraft hervorgehen, während Herr Hofmannsthal schon heute mit zwei blauen Augen davongekommen ist. Wenn einer statt vor Warschau zu stehen, im Kriegsfürsorgeamt sitzt, statt in Venedig einen Bombenerfolg zu haben, auf dem Podium der Berliner Singakademie steht und statt in Belgrad einzurücken, im Verlag der »Muskete« einen Prinzen Eugen mit Bildeln herausgibt — dann hat selbst einer, der sonst der letzte wäre, aus jenen Unterlassungen jemand einen Strick zu drehen, das Recht, sie festzustellen. Der alte Weg, den schon das Nibelungenlied ging, ist jener gerade nicht, den der Herr Hofmannsthal gegangen ist, aber sicher hat der alte Mentor recht, wenn er bezweifelt, ob diese zwanzig Jahre, die so blaß wurden, als sollten sie gehalten werden, gut für uns waren. Was sein Telemach — »griechisch: Telemachos, der aus der Ferne Kämpfende« — getan hat, entspricht höchstens der Sorge, »immer etwas zu haben, wobei man sein kann«, oder wo man dabei sein kann. Gewiß, man soll ihm nicht vorwerfen, daß er die große Zeit nur mit dem Erlebnis der Bündnistreue hingebracht hat und damit, andere patriotisch zu ermuntern: er war wie bei manchem harten Strauß auch wieder bei jenem beteiligt, dem er die Libretti liefert, und er hat die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, zu Ehren Shakespeares ein intellektuelles Feuerwerk abzubrennen, bei dem die Einfälle knallten, ehe sie leuchteten und durch den Widerspruch, mit dem sie aufeinander losplatzten, einiges Aufsehen entstand. Er sprach davon, daß die »heutige Zeit keinen tieferen Drang kenne, als über sich selber hinauszukommen« — Glückauf! — und wenn Shakespeare bisher der Geist war, der alles sagt, »was in Momenten ungeheurer Ereignisse sich in den Herzen der Menschen verbirgt, was ein Gemüt ängstlich versteckt«, so werde »einem anderen Geschlechte ein stummer Shakespeare entgegentreten«. Shakespeare hätte das Gemütsleben einer Zeit, an der nichts ungeheuer ist als der Kontrast von ängstlich versteckten Gedanken und angemaßten Taten, wohl zur Gestalt gebracht; aber was uns vorderhand genügen würde, ist nicht so sehr die Erwartung eines stummen Shakespeare, als die Vermeidung eines lauten Hofmannsthal. Denn eben dieser ist eines der hervorragendsten Beispiele aus der Armee von Literaten, die zur Verherrlichung von Ereignissen ausgesendet wurden, welche sie um keinen Preis erleben möchten, und denen im Krieg »schrecklich viel eingefallen« ist. Sein ganzer Ruhm, der immer auf so schwachen Beinen stand, daß er nun vollends militärtauglich wurde, ist ihm dabei eingefallen. Der Krieg hat durch die Anziehung, die er auf die schwerpunktlosen Gehirne, auf das Scheinmenschentum, auf die dekorationsfähige Leere ausgeübt hat, Unwerte vernichtet und sich wenigstens darin von seiner positiven Seite gezeigt. Herr Hofmannsthal, der vom Vaterland erwartet, daß es ihn nicht rufe, wenn er von Schlachtenruhm träumt, aber wenn er erwacht, ihm Grillparzers Ehren erweise, er, der nie mehr war als ein tauglicher Übersetzer fremder Werte oder ihr kunstgebildeter Vertreter, nie mehr als der gefällige Platzhalter eines vor ihm gegebenen Niveaus, auf dem sich die Natur unwohl gefühlt hat, dieser Hugo Hofmannsthal ist wie kaum einer aus der Schar geistiger Flüchtlinge um sein bißchen Besitzstand gebracht. Österreich irrt wie immer, wenn es in einem, der heute eben noch die Geschicklichkeit hat, sich mit den Landesfarben zu schminken, seinen geistigen Vertreter sieht. Es müßte ihm die Lizenz entziehen, das Wort in vaterländischer Sache mit mehr Anspruch auf Glaubhaftigkeit zu führen als ein beliebiger Journalist, und ihn endgültig in die Redaktion verweisen, aus der Sphäre der Wohltat, wo an Literaten Kriegsfürsorge geübt wird, in einen jener dunkeln Privatbetriebe, wo Worte unerlebten Gesinnungen dienen müssen. Schon damit Herr Bahr, dessen Wehrfähigkeit trotz der Musterung, der er sich am Lido freiwillig unterzog, nicht mehr in Anspruch genommen wird und dessen nationale Bestrebungen weniger die politische Arena als die eines Zirkus verlangen — schon damit er wisse, wo er ihn und seinesgleichen zu finden hat, ihn nicht vergebens am Wachtfeuer suche und dort auch nicht vermisse!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 423-425, XVIII. Jahr
Wien, 5. Mai 1916.