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Oktober 1916

Made in Germany

Fünftausend Dokumente, deren jedes für sich der Nachwelt die Schande zum Bewußtsein brächte, von dieser Welt zu stammen, liegen noch in meinem Schrank. Aber den Vorrang, ihr den Tort anzutun, hat jeder neue Tag, und unter allen Nachrichten sind die neuesten am besten und unter den neuesten Nachrichten wieder die Leipziger Neuesten Nachrichten. Die zentrale Eigenart des Denkens, vor der das Staunen der europäischen Umgebung sicherlich größer ist als das Hassen, findet wohl nirgendwo einen planeren Ausdruck. Ein Leser, dessen Ehrgeiz, mich an die Quelle zu führen, keine Rücksicht auf meine Pflicht nimmt, dem Jahrhundert zwar »den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen«, jedoch nur »die abgekürzte Chronik des Zeitalters zu sein«, bringt mich mit etlichen Ausschnitten in Versuchung. Aber nirgend kommt die Gemütsart, die die rechte Hand nicht wissen läßt, daß die linke Bomben wirft, sondern es niederschreiben läßt, daß es der Feind tut, nirgend kommt sie so schön zur Geltung.

Daß die Vorführung einer Schlacht im Film zum täglichen Brot der deutschen Kinobesitzer gehört, weiß man. Da nun die technische Kanaille in London, wenngleich sicherlich mit größerem Können, dasselbe tut und Aufnahmen von der Offensive an der Somme vorgeführt hat, heißt es in Leipzig:

... Die gefilmte Schlacht, die gefilmte Majestät des Sterbens und des Todes. Daß die Engländer eine unwissende und ungebildete Gesellschaft sind, wissen wir ja, der vorliegende Fall zeigt aber auch, bis zu welcher Gefühlsroheit Neid und Lüge führen.

So heißt es in Leipzig. Da der Neid aber ein hervorragendes Motiv für das Kinorepertoire ist, meldet sich die ›Kölnische Zeitung‹ (Ausgabe für das Feld), die auch zu bescheiden ist, von den deutschen Schlachtfilms außerhalb der Annoncenrubrik etwas zu wissen, und regt an, die Roheit und Unbildung der Engländer sogleich in Deutschland einzuführen:

... Wäre es nicht erwünscht, daß man auch dem Deutschen hinter der Front solche lebenswahren Bilder der jüngsten Ereignisse vorführte? An Gelegenheiten, die geeignete Bilder zur Aufnahme bieten, dürfte kein Mangel sein. Die Taten unserer Soldaten, im Bilde vorgeführt, gäben wahrhaftig Stoff genug für mehr als einen Film, und das Volk, das am Bilde manchmal mehr hängt, als am Worte, würde solchen Vorführungen ein gewaltiges Interesse entgegenbringen, auch wenn wir auf die Ausschmückungen im Interesse nationaler Selbstverhimmlung, die Engländer und Franzosen nötig haben, verzichten.

Versteht sich. Machen wir. Zwar ist es längst gemacht, aber das vergessen wir, um den Feinden, die es auch machen, teils Gefühlsroheit vorwerfen, teils beweisen zu können, daß wir’s noch besser machen werden. Nur daß ein deutscher Ulan, der mir den Ausschnitt von der Front schickt, dazu schreibt, »jetzt habe das Sterben des armen Schützengrabensoldaten wirklich einen Zweck: es dürfe mit allem Dreck von Reinhardt um den Beifall des deutschen Kinopöbels konkurrieren«. Leipzig aber, das die Erbärmlichkeit, um die Köln die Engländer beneidet, auf den Neid der Engländer zurückführt, veröffentlicht eine Kritik des durch das Genie und die Persönlichkeit seines Autors berühmt gewordenen »Hias«:

(Berliner Theater. »Der Hias.«) Unter dem Krachen aller Feuerwaffen und mit Sturmgeschrei ging gestern abend »Der Hias«, ein feldgraues Spiel in drei Akten, über die Bretter des Berliner Theaters. Der Zettel verschwieg den Namen des Verfassers; aber ein Feldgrauer soll das Stück geschrieben haben, und Feldgraue (Offiziere und Mannschaften Berliner und bayrischer Ersatztruppenteile, unter denen gewiß einige von schauspielerischer Herkunft waren) führten es auf. Für die Frauenrollen stellten sich Frauen der Aristokratie zur Verfügung. Das Stück, nicht besser als die meisten seiner Art, gab Gelegenheit, Lagerleben und blutige Kämpfe mit erstaunenswertem Naturalismus vorzuführen. Die echten Soldaten auf der Bühne spielten, als ob sie an der Front wären. Dort, wo die kriegerischen Vorgänge der technischen Mittel der Bühne spotteten, sprang der Film ein und der Apparat rollte (im letzten Akte) eine Reihe von geschickt in die Szene des Stückes eingelegten Schlachtbildern ab. Erhöht wurde der Eindruck durch den Lärm der Maschinengewehre und Handgranaten und durch das Ächzen und Stöhnen der Gefallenen.

Freilich bemerkt Leipzig, um nicht ganz in den Verdacht zu kommen, daß es ein klein London sei, dazu:

Die mörderische Abspiegelung ging auf die Nerven, ohne daß sie durch die Kunst geadelt zur Höhe der zeitgeschichtlichen Ereignisse emporgetragen worden wäre. Von einem dichterischen Atem ist in dem Stück kein Hauch zu verspüren.

Ein Unrecht am »Hias«. Wenngleich nicht gerade durch die Kunst, sondern nur durch die Mitwirkung der deutschen Aristokratinnen geadelt, ist er doch zur Höhe der zeitgeschichtlichen Ereignisse emporgetragen. Die echten Soldaten auf der Bühne spielten, als ob sie an der Front wären, und für zwei Mark fünfzig kann man das Ächzen und Stöhnen der Gefallenen hören, was viel lohnender ist als die gefilmte Majestät des Sterbens in London, die doch stumm bleibt. Den Neid, der die Engländer darob befallen müßte, könnte man ihnen schon jetzt vorhalten. Aber ein Beispiel für deren Verlogenheit wird gleich angeführt:

Eine englische Denkmünze auf die Seeschlacht im Skagerrak. Nachdem die Engländer ihre schwere Niederlage vom Skagerrak auf dem Papier allmählich in einen Sieg umgemodelt haben, setzen sie diesem Lügenverfahren dadurch die Krone auf, daß sie eine Denkmünze auf die Seeschlacht prägen, womit sie sie offenbar in eine Reihe mit anderen Seeschlachten stellen wollen, die seit dem Vorbilde der Königin Elisabeth, die auf den Untergang der Armada im Jahre 1588 eine berühmte Münze prägen ließ, durch Denkmünzen als Siege verherrlicht worden sind ... Rund herum läuft die Inschrift: »Der ruhmreichen Erinnerung derer, die an jenem Tage fielen.« Im Vergleich mit neueren deutschen Denkmünzen kann diese englische als gedankenarm und unkünstlerisch bezeichnet werden. Der Text, der nichts von Sieg enthält, ist für englische Verhältnisse ziemlich bescheiden ... Die Denkmünzen sollen käuflich sein — die goldene zu 230 Mk., und der Gesamtertrag soll den Hinterbliebenen der gefallenen Seeleute zukommen. — So verabscheuungswürdig diese englische Verlogenheit auch ist, kann man es nicht in Abrede stellen, daß sie System hat und sicher auch Erfolg haben wird, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß auch auf diesen englischen Schwindel wieder eine ganze Menge neutraler Untertanen hereinfallen wird.

Man muß die gedankenreichen und künstlerischen deutschen Denkmünzen keineswegs zum Vergleich heranziehen, um sich von der Bescheidenheit und Käuflichkeit, kurz von der verabscheuungswürdigen Verlogenheit dieser englischen Denkmünze, deren Text nichts von Sieg enthält und deren Gesamtertrag den Hinterbliebenen der gefallenen Seeleute zukommt, eine Vorstellung machen zu können. Sie gilt der Erinnerung derer, die an jenem Tage gefallen sind, ihr Ertrag der Unterstützung derer, die sie zurückgelassen haben: man mache sich von diesem englischen Schwindel, der wie gesagt nichts von Sieg enthält, also als völlig gedankenarm und unkünstlerisch bezeichnet werden kann, ein Bild. Wovon man sich hingegen kein Bild machen kann, ist die Geistesverfassung, die hier vor den blutigsten Kontrasten ihrer dummacherischen Übung nicht satt wird und aus dem Abhub der Phrase noch ein Surrogat der Gesinnung herzustellen vermag, von dem sie mit verzücktem Augenaufschlag weiterlebt. Da wird links »von unsrem römischen Mitarbeiter« über den »Kampf gegen den deutschen Geist in Italien« berichtet:

Die verzweifelten Versuche der italienischen Überpatrioten, den Kampf gegen Deutschland auch auf den deutschen Geist und auf die deutsche Wissenschaft auszudehnen, erleben immer wieder neue Niederlagen, die dann ihrerseits zu den erheiterndsten Klagen in der italienischen Patriotenpresse führen. So finden wir in dem römischen »Giornale d’Italia« vom 8. September, das den höchsten Deutschenhaß mit der größten eigenen Ignoranz verbindet, eine herzbewegende Klage über zwei Veröffentlichungen der allerletzten Zeit in Italien ...

Aber eine Veröffentlichung gleich rechts in den ›Leipziger Neuesten Nachrichten‹ würde den italienischen Überpatrioten eine kleine Genugtuung verschaffen und ihren verzweifelten Versuchen, den Kampf gegen Deutschland auch auf den deutschen Geist und die deutsche Wissenschaft auszudehnen, zum Druchbruch verhelfen:

Die Lauterberger Weltanschauungswoche. Für die vom 2. bis 7. Oktober in Bad Lauterberg im Harz im städtischen Kurhause in Aussicht genommene »Weltanschauungswoche« haben Geheimrat Natorp-Marburg, Professor Leser-Erlangen und Professor Hunzinger-Hamburg je 6stündige Vorlesungen über: »Die hauptsächlichsten Weltanschauungstypen der führenden Kulturvölker und der Kulturberuf unseres Volkes«, »Fichte und wir« und »Die Weltanschauung unserer Klassiker« zugesagt. Außerdem wird Dr. Ferdinand Avenarius-Dresden einen Einzelvortrag halten. Für die Nachmittage sind gemeinsame Wanderungen, für die Abende gesellige Zusammenkünfte vorgesehen. Der Preis der Teilnehmerkarte ist auf 10 Mark festgesetzt worden. Die Vorlesungen beginnen um 8 Uhr vormittags und dauern bis 11 Uhr.

Da das nur um drei Stunden zu viel wäre, so dürfte jeder der drei Gelehrten zwei Vormittage innehaben, wobei aber Avenarius-Dresden in die gemeinsamen Wanderungen oder geselligen Zusammenkünfte eingeschoben werden müßte. Das Arrangement ist schwierig. Aber die Natur einer im städtischen Kurhause in Aussicht genommenen Weltanschauungswoche bringt das mit sich. Warum veranstaltet man sie nicht bei Wertheim? Was es alles gibt und was für bunte Dinge auf diesem kärgsten Stück Erde wachsen! Alles was sie dort nicht haben, bekommen sie geliefert. Und so auch ’ne Weltanschauung. Da es jetzt dank solchen Möglichkeiten, also dank einer Weltanschauung, die deren Herstellung als Fertigware nebst Aufmachung garantiert, unmöglich geworden ist, sich die Welt anzuschauen, so möchte ich gern die Lauterberger Weltanschauungswoche mitmachen. Die Welt schaut Lauterberg an, Lauterberg die Welt, und beide verstehen einander doch nicht. Aber ein Hauptspaß muß es sein, und Filmaufnahmen sollten von dem belehrenden Teil sowohl wie insbesondere von den geselligen Zusammenkünften in der Welt verbreitet werden. Man müßte den Avenarius sprechen sehen und eindrucksvoller als die gefilmte Majestät des Sterbens wäre einmal die gefilmte Humilität des Lebens. Was es aber mit der deutschen Weltanschauung, soweit sie sich ohne Grenzübertrittsbewilligung entfalten kann, für eine Bewandtnis hat, und wie das deutsche Wort dem deutschen Volk sogar den Film ersetzt, bewies der folgende Bericht, den Leipzig von Köln bezogen hat:

Kaiser Wilhelm als Feldarbeiter. Aus Oberschlesien geht der ›Köln. Vlksztg.‹ die folgende hübsche Schilderung eines Vorganges zu, der sich dort vor einiger Zeit abspielte:

Bekanntlich reiste der Kaiser an die Ostfront. Seine schlesischen Truppen erfreute Seine Majestät durch persönliche Anerkennung und durch seinen Dank für ihre Tapferkeit. Des freute sich ganz Schlesien. Aber ganz Schlesien freute sich noch über etwas anderes.

Was rennt das Volk, was läuft die Schar hinaus auf die abgemähten Felder? Den Kaiser zu sehen. Nachmittags zwischen 5 und 7 Uhr ist es. Munteres Volk birgt die kostbaren Ährengarben auf bereitstehende Wagen. Plötzlich ruhen alle Hände, Stille tritt ein, alle Mützen fliegen vom Kopfe, Staunen ergreift alle: Der Kaiser kommt! Er ist schon da, zieht den Rock aus und — in Hemdsärmeln beginnt des Deutschen Reiches Oberhaupt mit Hand anzulegen an die Feldarbeit. Auf dem mit goldenen Getreidegarben besäten durchfurchten Boden unseres lieben Vaterlandes erheitert das durch die Sorgen der Kriegsjahre tief durch fürchtete Antlitz Seiner Majestät munteres Lächeln. Er hilft selbst, mit höchsteigener Person, den »von oben« gespendeten Segen für sein Volk einzuheimsen. Wie der Herr, so der Knecht. Dem Kaiser tun es seine Begleiter, hohe Herren und Offiziere, nach. »Siehst du da nicht auch unsern Reichskanzler bei der Feldarbeit?« — »Wahrhaftig, er ist’s

Von der Stirne heiß, rinnen muß der Schweiß bei solcher Arbeit. Überrascht schaut das zuschauende Volk, wie Seine Majestät den von der Stirne perlenden Schweiß mit dem Hemdärmel ein übers andre Mal abwischt; denn in brennender Sonnenhitze mit der Garbengabel Wagen vollzuladen, wenn auch mit aufgestreiften Hemdärmeln, macht schwitzen — und Durst. Und so haben wir wieder das schöne Bild: Seine Majestät sitzt mitten in seinem ihm treu ergebenen oberschlesischen Volk, auf das er sich verlassen kann, sitzt auf einem Feldrain und trinkt aus einem gewöhnlichen Krug frisches Wasser.

Herablassend winkt er den Kindern und spricht wie ein Vater traulich zu ihnen. Sie sollen versuchen, über die Stoppeln zu laufen. Sie tun es. Herzlich lacht Seine Majestät über der Kinder Vergnügen und schenkt ihnen etwas als Lohn für ihre Mühe und die Freude, die sie ihm bereitet haben.

Ist da nicht alles, was es gibt, wie im Gesamtkunstwerk vereinigt? Der Kaiser sitzt mitten in seinem Volk, auf das er sich verlassen kann, auf einem Feldrain, was rennt das Volk, das Oberhaupt streift die Hemdärmel auf, von der Stirne heiß, der Segen kommt in einem doppelten Sinne von oben, wie der Knecht, so der Herr, wie der Herr, so der Knecht, nämlich unser Reichskanzler, siehst du da nicht, wahrhaftig er ist’s, die Welt ist verkehrt, die Genitive sind vorangestellt, es ist der Kinder Vergnügen, des Reiches Oberhaupt legt Hand an, und so haben wir wieder das schöne Bild — aber selbst Ganghofer hätte den Text nicht zustande gebracht: »Auf dem mit goldenen Getreidegarben besäten durchfurchten Boden unseres lieben Vaterlandes erheitert das durch die Sorgen der Kriegsjahre tief durchfurchtete Antlitz Seiner Majestät munteres Lächeln.« Man beachte die unwillkürliche Steigerung von »durchfurcht« und den Vorgang, wie auf dem Boden, der mit Garben besät ist, munteres Lächeln das Antlitz erheitert. Nie ist ein deutscherer Satz geglückt. Wie ein durch alle Gefahren heimgeführtes Unterseehandelsboot mutet er an. Ein Londoner Film muß vor Neid zerspringen. Eine Lauterberger Weltanschauungswoche kann etwas zulernen.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 437-442, XVIII. Jahr
Wien, 31. Oktober 1916.