Bei Major von Hülsen in Arnsdorf


Vermutlich bald darauf — von einem Königsberger Aufenthalt dazwischen wissen wir nichts — trat er eine zweite Hauslehrerstelle an der entgegengesetzten Ecke der Provinz an. Diesmal war es das Haus eines adligen Rittergutsbesitzers, des Majors Bernhard Friedrich von Hülsen auf Groß-Arnsdorf bei Saalfeld zwischen Elbing und Osterode, in das er eintrat, um den Unterricht der drei älteren Söhne, des 13 jährigen Christoph Ludwig, des 10 jährigen Ernst Friedrich und des 6 jährigen Georg Friedrich, zu leiten. Neben ihm ist vermutlich noch ein französischer Sprachlehrer engagiert gewesen; wenigstens war ein solcher Anfang 1761 vorhanden; Kant hat Französisch nur verstanden, nicht gesprochen. Der ostpreußische Landadel in der Zeit vor der großen Revolution lebte, wie der bekannte H. von Boyen in seinen Erinnerungen (I, 24) erzählt, "im allgemeinen noch sehr einfach, aber gastfrei. Für bessere Erziehung seiner Kinder zeigte sich hin und wieder ein rühmliches Streben; doch kann man nicht behaupten, dass die gnädigen Fräuleins und die Herren Junker von den gewöhnlich etwas unerfahrenen Hauslehrern beim Lernen zu sehr angestrengt wurden, darüber wachte die adlige Zärtlichkeit der Frau Mutter." Wahrscheinlich ist auch hier Kants Aufenthalt ein mehrjähriger gewesen. Wenigstens entspann sich mit der Familie ein noch viele Jahre fortdauerndes näheres Verhältnis: Zeugnis dessen sind dankbare und hochachtungsvolle Briefe des Vaters wie der Zöglinge, die den einstigen Hausgenossen noch nach Jahren "zum Teilnehmer jedes interessanten Familienereignisses machten" (Rink)*). Von dem Philosophen selbst ist ein vom 10. August 1754 datiertes, bereits wieder aus Königsberg geschriebenes Briefchen an den älteren Zögling erhalten, dem er zwei gewünschte Schulbücher "zur Historie und Latinität" nebst zwei Bildern für den jüngeren Bruder ("HE. Fritzchen") und den "lieben HE. Behrend"**) schickt. Das ganze Schreiben macht in seiner Lebendigkeit den Eindruck, dass Kant damals das Hülsensche Haus noch nicht lange verlassen hatte. Als "Herr Fritzchen" sieben Jahre später in Königsberg immatrikuliert wurde, kam er zu seinem früheren Lehrer, dem jetzigen Magister Kant, in Pension. Freilich ging er, als echter ostpreußischer Junker, nach einem Jahre in den Offiziersberuf über, beurlaubte sich aber noch vor seinem Abschied aus dem Vaterhause "von seinem treuen Lehrer und Vorsorger durch ein dankbares Schreiben"***) das dieser unter seinen Papieren aufbewahrte. Später hat er dann selbst dem einstigen Zögling für seine Kinder Hauslehrer von Königsberg aus besorgt (vgl. Kants Brief an G. F. von Hülsen, 1. Mai 1784).

Vielleicht war es doch eine Nachwirkung der von dem früheren Lehrer empfangenen Eindrücke, wenn gerade dieser Georg Friedrich von Hülsen zu den ersten der Rittergutsbesitzer gehörte, die unter Friedrich Wilhelm dem Dritten freiwillig ihre Gutsuntertanen von dem Zwang der Erbuntertänigkeit befreiten. Der Philosoph soll nach dem Zeugnis des späteren freisinnigen Oberpräsidenten Ostpreußens, Theodor von Schön, um 1795 von der menschenunwürdigen Lage der Erbuntertänigen gesagt haben: "die Eingeweide drehten sich ihm im Leibe um, wenn er daran dächte"! Ob er wohl schon als Hofmeister in Groß-Arnsdorf Erfahrungen in dieser Hinsicht gesammelt hat?

 

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*) Rink, Ansichten aus J. Kants Leben. Königsberg 1805, S. 29.

**) Kant bittet, "diesem kleinen feinen Mann immer mit gutem Exempel vorzugehen". Gemeint ist Bernhard, der jüngste Sohn (geb. 1750).

***) Rink, Ansichten aus I. Kants Leben. Königsberg 1805, S. 29.


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