Kants Studienplan


Doch wir haben uns noch gar nicht mit der Frage beschäftigt, welcher Fakultät denn überhaupt der junge Kant sich zuwandte. Im Anschluß an eine Notiz Borowskis hat Schubert einfach angenommen und der gelesenste Darsteller von Kants Leben (Kuno Fischer) es ihm nacherzählt, Kant sei durch den Einfluß von F. A. Schultz der theologischen Fakultät zugeführt worden. Allein schon der verdiente und exakte Kantforscher Emil Arnoldt hatte auf Grand aktenmäßiger Feststellungen diese angebliche Tatsache zweifelhaft gemacht, und jetzt hat Bernhard Haagen endgültig nachgewiesen, dass Kant in keinem der in den Königsberger Universitätsakten befindlichen Verzeichnisse als Angehöriger einer der drei "oberen" Fakultäten angeführt ist, und dass er selbst sich noch 1748 als studiosus philosophiae bezeichnet hat.*) Für die Einzelheiten dieser von den Kantphilologen bis zum Überdruß behandelten Frage verweisen wir auf die betreffende Literatur und unsere zusammenfassende Darstellung in "Kants Leben". (S. 16—20.) Das, worauf es ankommt, ist nicht die ziemlich untergeordnete Frage, welcher Fakultät unser Held formell angehört hat, sondern die Richtung seiner Studien. Diese aber ist von Anfang an offenbar keine theologische gewesen. Das Genie geht früh seine eigenen Wege. Mag der künftige Predigerberuf ein Lieblingswunsch seiner frommen Mutter oder seines einstigen Direktors gewesen sein: die erstere war seit mehreren Jahren tot, und der letztere scheint bei seiner weitverzweigten Tätigkeit den früheren Schüler, falls man ihn überhaupt als solchen bezeichnen will, ziemlich aus dem Auge verloren zu haben, da er ihn einst am Schlüsse des Semesters nach beendeter Vorlesung erst nach seinem Namen, seinen Lehrern und Studienabsichten fragen mußte. Vielmehr tritt hier ein von den bisherigen Biographen viel zu wenig beachtete Charakterzug hervor, der uns bereits in der äußeren Lebensführung des Studiosus Kant begegnet ist: die frühe Selbständigkeit seines Charakters und seines Willens. Wir haben ja leider nur wenige Nachrichten über Art und Gegenstand seiner Universitätsstudien; aber sie weisen alle nach der nämlichen Seite. Er schlägt schon bald eine seinen Freunden gänzlich "unerwartete Richtung" ein. Er befolgt schon früh einen "eigenen Studienplan", der ihnen "unbekannt" bleibt. Er widmet sich nämlich zu ihrer Verwunderung keiner "positiven" Wissenschaft; denn es war offenbar mehr ein übermütiger Scherz, wenn er auf jene Frage Schultzens erklärte, "ein Medikus werden zu wollen". Er war vielmehr der Meinung und suchte sie auch seinen nächsten (juristischen) Freunden zu Gemüte zu führen: man müsse von allen Wissenschaften "Kenntnis" nehmen, auch wenn man sie nicht zum Brotstudium erwähle. So hat er mit ihnen auch eine ihn interessierende theologisch-dogmatische Vorlesung seines früheren Direktors gehört und, von diesem verwundert nach dem Grunde gefragt, die für ihn charakteristische offenherzige Antwort gegeben: "Aus Wißbegierde."

Was aber mochte denn der Hauptgegenstand des selbst den Freunden unverständlichen "Studienplanes" dieses sonderbaren Studenten sein, der kein Brotstudium treiben wollte, obwohl nach des Soldatenkönigs Universitäts-Ordnung, die auch der Nachfolger nicht aufgehoben hatte, "wenig Hoffnung von solchen zu schöpfen" war, die "ihre Sachen so schlecht treiben". Der Theologie hatte ihn augenscheinlich die Überladung mit religiösem Stoff, die ihm auf dem Fridericianum zuteil geworden, abwendig gemacht. Aber wie war es mit den sogenannten "Humaniora", die er nach Jachmann "vorzüglich studierte", d. h. nach seiner eigenen späteren Erklärung in seinem Kolleg über Logik, demjenigen Teil der Philologie, unter dem man die "Kenntnis der Alten versteht, welche die Vereinigung der Wissenschaft mit Geschmack befördert, die Rauhigkeit abschleift und die Kommunikabilität und Urbanität, worin Humanität besteht, befördert"? Nun, seine "Alten", die griechischen und noch mehr die ihm von der Schule her vertrauteren römischen Klassiker, hat er bis in sein Alter geschätzt und geliebt. Gelten sie ihm doch noch in der Kritik der Urteilskraft (§ 60) als die Propädeutik zu aller schönen, den höchsten Grad von Vollkommenheit anstrebenden Kunst, die in ihrer glücklichen Vereinigung von höchster Kultur mit der kraftvoll-freien Natur schwerlich jemals von einem späteren Zeitalter erreicht werden könnten. Auch später empfahl er seinen Zuhörern, um wahre Popularität zu lernen, die Lektüre von Ciceros philosophischen Schriften, sowie Horaz und Vergil, neben Hume und Shaftesbury. Jedoch sein Innerstes erfüllten auch sie nicht. Schon damals wird sich in ihm der Gedanke geregt haben, dem er gelegentlich einmal in der Streitschrift gegen Eberhard Ausdruck gibt: was philosophisch richtig ist, könne keiner aus Plato oder Leibniz lernen, denn "es gibt keinen klassischen Autor der Philosophie". Ihr Probierstein vielmehr, der dem einen so nahe liegt wie dem anderen, sei die "gemeinschaftliche Menschenvernunft". Das, was er von ihnen wünschte, konnten ihm keine trockenen Vorlesungen geistloser Pedanten geben, die schon bald seinen Freund Ruhnken veranlaßten, den Staub Königsbergs von den Füßen zu schütteln; das konnte er, der geschulte Lateiner, ebenso gut, ja noch besser durch fortgesetzte Privatlektüre erreichen. So täuschte er denn die Hoffnung derer, die in ihm, wegen seiner Lieblingsbeschäftigung während der Gymnasialzeit, den künftigen bedeutenden Philologen sahen. Er vollzog vielmehr, um mit eben jenem philologischen Freunde zu reden, den Abfall "aus den blühenden Gefilden der humanistischen Studien in — die dürren Steppen der Philosophie".

Kopf und Herz zogen ihn — wie es scheint, schon bald nach seinem Eintritt in die Universität — zu denjenigen Fächern hin, die gerade die pedantisch-pietistische Bildung des Friedrichskollegs am meisten vernachlässigt hatte: Philosophie, Naturwissenschaft und Mathematik.

 

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*) Haagen in Altpreuß. Monatsschrift, 48. Bd., S. 553ff., bes. S. 553 f. A. Vgl. auch unser folgendes Kapitel.


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