Das Elternhaus


Immanuel Kants Geburtshaus steht schon längst nicht mehr. Bereits zu des Philosophen Lebzeiten war es einer jener verheerenden Feuersbrünste, die in dem Speicherviertel am Pregel besonders reiche Nahrung fanden, zum Opfer gefallen. Es stand in einer Seitengasse der "Vorderen Vorstadt", durch die heute die elektrische Bahn zum Hauptbahnhof führt. Sie, die jetzt den nüchternen Namen "Bahnhofsstraße" trägt, hieß bis tief ins 19. Jahrhundert hinein Sattlergasse. Denn hier wohnten nach mittelalterlicher Sitte, wie in Danzig, Köln und anderen alten Städten, viele Handwerksgenossen in der nämlichen Straße; dass es gerade in der Vorstadt, durch die der Wagen- und Fuhrmannsverkehr aus dem "Reiche" ging, für Sattler, Riemen- und Wagenmacher besonders viel zu tun gab, liegt auf der Hand.

Ein solcher ehrsamer Sattler-, genauer Riemermeister, war auch Immanuels Vater, der aus Memel zugewanderte Johann Georg Kant. Auch dessen Vater, Hans Kant, hatte bereits, nachdem er sich als Handwerksgeselle in "frembden Landen" umgesehen und in Tilsit sein Meisterstück gemacht, in Memel dem Riemerhandwerk obgelegen, während der Urgroßvater 1667 urkundlich als "Krug"-Besitzer, also Wirt, in Werden bei Heydekrug im nördlichsten Ostpreußen nachgewiesen ist. Wie weit damit die von dem Philosophen selbst für wahr gehaltene*) schottische Abstammung vereinbar ist, steht dahin. Wenn Kants Großvater wirklich zu den "vielen" gehörte, die "aus Schottland ... in großen Haufen emigrierten, und davon ein guter Teil ... sich in Preußen, vornehmlich über Memel, verbreitet hat", so müßte er jedenfalls viel früher als "am Ende des vorigen" (17.) oder zu Anfang "dieses", d. h. des 18. Jahrhunderts, aus Schottland eingewandert sein, denn er hatte sich nach seiner Rückkehr von der Wanderschaft bereits um 1670 als Meister in Memel ansässig gemacht und, anscheinend nicht lange nachher, eine wohlhabende, einheimische Bürgerstochter geheiratet, die ihm als zweiten Sohn Ende Dezember 1682 Johann Georg, eben den Vater unseres Philosophen, gebar. Während der Großvater nun in Memel blieb und dort 1698 eine neue Ehe schloß, aus der ein Sohn Christian hervorging, wanderte Johann Georg, vielleicht ebendeshalb, nach Königsberg aus, wo er am 13. November 1715, also schon beinahe 33 Jahre alt, die 18 jährige Tochter eines Handwerksgenossen, Anna Regina Reuter, heiratete, deren Vater, Caspar Reuter (geb. 1670), aus Nürnberg stammte.

"Anno 1715, den 13. November, habe ich, Anna Regina Reuterin, mit meinem lieben Mann Johann George Kant, unsern hochzeitlichen Ehrentag gehalten; sind von Herrn Magister Lilienthal copulirt worden in der Kneiphöfschen Thum (d. i. Dom-) Kirche." So lautete die Eintragung der jungen Frau in ein von Immanuels Eltern, der Sitte der einfachen Leute gemäß, geführtes "Haus-", d. h. Gebet- oder Andachtsbuch. Von den neun Kindern, die sie im Verlauf einer 22 jährigen glücklichen Ehe ihrem Manne schenkte, haben nur fünf die Eltern überlebt. Das erste wurde totgeboren, zwei andere starben schon im ersten Lebensjahre, von einem vierten (einer Tochter) wissen wir nichts als den Geburtstag. Das vierte in der Reihe, der älteste der am Leben gebliebenen beiden Söhne, war unser Philosoph.

In der fünften Morgenstunde des 22. April 1724, eines Sonnabends, erblickte er das Licht der Welt. Nach alter Sitte bereits am folgenden Tage, wurde er — vermutlich in der alten Taufkapelle der Domkirche — auf den Namen E m a n u e l getauft, der nicht bloß für den 22. April in den alten preußischen Kalendern stand, sondern auch der frommen Sinnesart der Mutter entsprach. Sie schließt ihre Eintragung in das "Hausbuch" mit dem frommen Wunsche: "Gott erhalte ihn in seinem Gnaden Bunde bis an sein seliges Ende um J: C: Willen. Amen." Die bei diesem Kinde allein aufgeführten sechs Paten lassen auf den Verkehrskreis der Familie schließen. Es befinden sich darunter ein Gürtlermeister aus der Vorstadt, ein Gerichtsangestellter auf dem Sackheim, ein Händler in der Altstadt, eine verheiratete Frau Barbara Wolffin, eine Jungfer Dorothea Dürrin und ein (in dem Kirchenbuch der Domgemeinde nicht mitaufgeführter, demnach wohl bei der Taufe nicht persönlich anwesender) Kupferschmied und Bürger aus Memel, also der alten väterlichen Heimat. Im übrigen scheinen mit der großväterlichen Familie in Memel keine weiteren Beziehungen mehr bestanden zu haben. War doch auch der dortige Großvater, "Meister Kandt der Riemer", bereits acht Monate vor der Hochzeit von Immanuels Eltern gestorben und als wohlhabender Mann "mit allen Glocken, der ganzen Schul und ein Lied vor der Thür" begraben worden und nur noch die Stiefmutter am Leben, im Jahre 1735 aber bereits das Memeler Familienhaus nicht mehr vorhanden.

 

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*) Vgl. Kants Brief an den schwedischen Bischof Lindblom 13. Okt. 1797. Der Philosoph hat noch bis in sein hohes Alter Zuneigung für die von ihm als fleißig und wißbegierig bezeichneten Schotten bewahrt, deren Beharrlichkeit, praktische Klugheit und leidenschaftslose Kühle seiner eigenen Art sympathisch war, wie auch seine Hochschätzung ihres Hauptphilosophen Hume charakteristisch ist. Während des Weltkriegs ist denn auch Kant von unseren Gegnern als Schotte, von anderen als Litauer (Kantus litauisch = geduldig) in Anspruch genommen worden.


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