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Sonne und Mond

st die Unterschiebung einer modernen Bedeutung für den Begriff Himmel nicht ganz deutlich, ist auch bei diesen Götternamen die Frage offen, ob sie verwandt oder entlehnt seien, so scheint mir bei einer anderen vielgenannten Mythe die verhältnismäßige Jugend in die Augen zu stechen. Man hat natürlich sehr frühzeitig beobachtet, dass Sonne und Mond in einem gewissen Wechsel am Himmel sichtbar werden. Da soll denn das "kindliche Gemüt" der Indoeuropäer zu der religiösen Vorstellung gekommen sein, Sonne und Mond seien Ehegatten, und zwar schlechte Ehegatten. Spuren einer solchen Vorstellung werden in allerlei perversen griechischen Sagen gesucht. Sehr reizvoll ist eine kleine russische Erzählung: "Die Sonne ist mit ihrem Gemahl nicht zufrieden, mit dem Monde, der ein sehr kühler Ehemann ist. Infolge einer Wette trennen sie sich; er leuchtet des Nachts, sie des Tags, und nur zur Zeit der Sonnenfinsternisse nähern sie sich und machen einander Vorwürfe. Im Schmerze nimmt der Mond, der die Trennung bereut, ab und schwindet, bis ihn die Hoffnung wieder belebt und voller rundet."

Sehr witzig in der Tat, doch so modern, dass es von Heinrich Heine sein könnte. Wir müssen uns aber mit dem bloßen Gefühl für die Echtheit des Altertums nicht begnügen. Um diesem Geschichtchen indoeuropäische Herkunft zuzugestehen, müßten wir erstens voraussetzen, dass die Geschlechtsbezeichnung die Sonne und der Mond, oder meinetwegen die umgekehrte Bezeichnung, kurz dass die Metapher nach den Geschlechtern schon der Urzeit angehört habe. Denn früher konnte man kaum auf den Einfall kommen, Sonne und Mond miteinander zu vermählen. Zweitens müßten wir annehmen, dass jene Urzeit schon eine Scheidung oder Trennung der Ehe gekannt habe, was doch schwerlich den damaligen Gewohnheiten entsprechen dürfte. Drittens aber müßten wir mit dem Altertum dieser Geschichte auch für glaubhaft halten, dass eine Sonnenfinsternis in jenen Urzeiten ein Gegenstand spaßhafter Beobachtung gewesen sei, wie wenn heutzutage eine von den Zeitungen auf die Minute vorausgesagte Sonnenfinsternis durch geschwärztes Glas betrachtet und mit albernen Scherzreden begleitet wird.

Ist nach alledem die ethnographische Sprachwissenschaft zu dem Geständnis gezwungen, dass aus der Geschichte der Sprache allein über die Urzeit nichts erschlossen werden könne, dass man Geschichte und Paläontologie mit herbeiziehen müsse, um auf dem schwierigen Gebiet Schritt für Schritt vorwärts zu kommen, so muß ein kurzer Blick auf die zeitliche Ausdehnung dieses Gebietes darüber belehren, dass auch diese letzte Hoffnung, Schritt für Schritt vorwärts zu kommen, trügerisch ist.