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Metersystem

Man denke einmal an die Einführung der metrischen Maße für Längen, Flächen, Räume und Gewichte, wie sie seit hundert Jahren sich in den Kulturländern langsam vollzogen hat. Die Worte oder Begriffe sind ja immer nur Zeichen für Beobachtungen. Ob nun die Babylonier oder andere Leute vor Jahrtausenden zuerst die Gleichmäßigkeit des Sonnenjahres beobachteten, sie setzten die Zahl der Tage auf 360 fest, und an dem daraus folgenden System, an Kalendereinrichtungen u. dgl., wurde viele Jahrhunderte lang nichts geändert. Der kleine Fehler von einigen Tagen fand in der Sprache keinen Ausdruck. Genau so verhielt es sich, als die Männer der französischen Revolution in ihrem Bemühen, die Welt (nach Hegels witzigem Wort) auf den Verstand, also auf den Kopf zu stellen, im Jahre 1799 den zehnmillionsten Teil eines Erdquadranten zur Maßeinheit, zum Meter machten. Die französischen Astronomen arbeiteten mit ganz anderen Instrumenten als die alten Babylonier oder deren Vorgänger; sie berechneten die Maßeinheit, den Meter, bis auf 6 Dezimalstellen einer Linie genau und setzten das Einheitsmaß schließlich auf 443,296 Pariser Linien fest. Ein Metailstab von dieser Länge gibt seitdem bei einer bestimmten Temperatur die Längeneinheit an. Es ist ein Selbstbetrug übrigens, wenn man diese Länge ein natürliches Maß nennt. Denn erstens fehlt die präzise Bestimmung einer wirklichen Pariser Linie, zweitens berechnen die heutigen Mathematiker den zehnmillionsten Teil eines Erdquadranten um 3/1000 Linien länger, und schließlich ist die Zugrundelegung eines Meridianteils doch ein ganz willkürlicher Einfall. Durch Einflüsse der verwickeltsten Art gewann aber dieses französische Metermaß ein solches Ansehen, dass es im Laufe von ungefähr hundert Jahren in den meisten Kulturländern offiziell eingeführt wurde. Die bekannten französischen Bezeichnungen, die mit ihren lateinischen und griechischen Vorsilben künstlich geschaffen wurden, sind internationale Sprache geworden, nicht ohne dass hie und da die alten einheimischen Worte für die neuen Maße erhalten blieben. So rechnet man bei uns z. B. noch nach Zentnern, auch nach Talern und Dreiern, und nennt in München das Liter eine Maß. Man stelle sich nun vor, die gegenwärtigen europäischen Maßbezeichnungen wären vorhanden, die gesamte Kulturgeschichte bis zur Gegenwart wäre durchaus vernichtet, so wie jede Spur von der Kulturgeschichte der Urzeit vernichtet ist, und unsere Gelehrten sollten aus den internationalen Worten für Maße der Längen, Flächen, Räume und Gewichte erraten, welches Volk dieses System eingeführt habe. Ich will einige grundgelehrte Schlüsse, die unter solchen Umständen nicht nur möglich, sondern geboten wären, ausdenken, um daraus erkennen zu lassen, wie phantastisch und unwahrscheinlich unsere Vermutungen über die ethnographische Bedeutung des Dezimal- und Duodezimalsystems sind.

Wenn sich nämlich Archäologen einer künftigen Zeit mit der Herkunft unserer Metermaße beschäftigen würden, so könnten sie dahin gebracht werden, Peru für die Heimat dieses Systems zu erklären. Man schwankte im 18. Jahrhundert zwischen verschiedenen Maßeinheiten, und so lange man glaubte, der Sekundenpendel habe überall auf der Erde gleiche Länge, so lange galt diese Länge für die natürliche Einheit, welche denn auch zur Zeit der französischen Revolution vorübergehend in England eingeführt wurde. Nun war vorher die Verschiedenheit der Pendellänge (je nach der geographischen Breite) entdeckt worden, und der französische Reisende La Condamine, der für die Sekundenpendellänge (am Äquator) als Einheit agitierte, stellte in Peru ein Denkmal auf, in welches er diese Länge eingraben ließ; durch eine lateinische Inschrift bezeichnete er sie als das Muster eines allgemeinen und natürlichen Maßes. Einen vollständigen Untergang unserer neuesten Geschichtsquellen nun vorausgesetzt, würden wohl künftige Archäologen dieses Denkmal auffinden, die Inschrift entziffern und den logischen Schluß ziehen, dass das Metersystem aus Peru herübergekommen sei. Selbstverständlich würde dann Peru Mode werden, und die Wissenschaft würde den größten Teil der europäischen Kultur aus Peru herleiten. Im Jahre 1799 wurde jenes Maß des Denkmals von Peru übrigens zur Grandlage für die Länge einer Pariser Linie genommen, so dass die Herkunft des Systems aus Peru wirklich eine schmale Unterlage hätte.

Würden aber nicht Archäologen, sondern Sprachforscher, immer noch die Vernichtung der Kulturquellen vorausgesetzt, die Herkunft unserer Metermaße zu erforschen suchen, so würden sie eine gewisse Vermischung des Dezimalsystems mit dem Duodezimalsystem entdecken, genau so wie unsere heutigen Sprachforscher das für die Urzeiten der Indoeuropäer entdeckt haben. Sie würden bemerken, dass der heutige Deutsche — wie schon erwähnt — zwar offiziell nach dem Dezimalsystem rechnet, dass er jedoch im Kleinhandel immer noch ein Schock oder eine Mandel Eier besonders bezeichnet und dass er solche Gegenstände ebenfalls nach dem Zwölfersystem mit Talern beziehungsweise mit Dreiern bezahlt. Glaubten die künftigen Sprachforscher dann noch an den semitischen Ursprung des Zwölfersystems, so würden sie vielleicht Berlin für eine semitische Kolonie im Herzen Europas erklären und grundgelehrte Abhandlungen über die Wanderungen semitischer Völker schreiben. Den Scherz, wie sie das alles aus der gegenwärtigen Bevölkerung Berlins belegen könnten, will ich nicht ausführen, trotzdem ich nicht daran zweifle, dass die Schriften von Johannes Schmidt und Ihering über die Zahlenfrage den Zeitgenossen des alten Ereignisses ebenso scherzhaft erscheinen müßten.

Noch eine Hypothese möchte ich erwähnen, welche unter der Annahme einer Vernichtung aller historischen Quellen möglich oder wahrscheinlich, vielleicht bewunderungswürdig wäre. Bekanntlich wurde bei der Aufstellung des Metersystems eine Art Volapük geschaffen, indem durch Vorausstellung der griechischen und lateinischen Zahlworte die Einheit multipliziert beziehungsweise dividiert wurde. Tausend Meter wurden mit dem griechischen Zahlwort Kilometer benannt, 1/1000 Meter mit dem lateinischen Zahlwort Millimeter. Ebenso heißt Dekameter so viel wie 10 Meter, Dezimeter so viel wie 1/10 Meter. Was wäre das nun für ein herrlicher Sprachforscher, der die etymologische Verwandtschaft von deka und dezi (zehn) erkannt hätte und nun einen neuen klassischen Beitrag zum Gegensinn der Urworte, wie ihn Abel aufgestellt hat, gefunden zu haben glaubte. Wir besäßen ein neues Sprachgesetz: gewisse Zahlen der gräko-italischen Familie bezeichnen in ihrer östlichen Form die Multiplikation, in ihrer westlichen Form die Division.

Ich hoffe, in dieser Weise nicht fortfahren zu müssen. Wir haben aus der Vergleichung des angeblich babylonischen Duodezimalsystems mit dem französischen Metersystem zweierlei gelernt, eine Tatsache und eine Vermutung. Die Tatsache ist, dass ein nützliches neues Rechnungssystem vollkommen von einem anderen Volke herübergenommen werden kann, ohne dass das aufnehmende Volk darum seine alten Worte vollständig aufgibt. Die Vermutung ist die, dass wir über das wirkliche Ereignis der Einführung der Zahlensysteme in der Urzeit nichts wissen können.