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Sprachenmischung

Man hat die alte gotische Sprache des Bischofs Wulfila mit dem Angelsächsischen und mit dem Althochdeutschen verglichen, und es hat sich gezeigt, dass man weder das Angelsächsische noch das Althochdeutsche als eine Tochtersprache des Gotischen ansehen dürfe. Auch das Gotische mußte auf die Mutterschaft verzichten, wurde eine Mundart wie andere, wurde eine Stieftante des Englischen und Althochdeutschen. Ebenso wurde die provençalische Sprache, welche man eine Zeitlang für die richtige Mutter (das Latein war zur Großmutter geworden) der romanischen Sprachen ausgegeben hatte, zu einer solchen entfernten Verwandten, und auch sie bekam den Ehrentitel einer älteren Schwester.

Ich brauche aber nur an allbekannte Tatsachen zu erinnern, um feststellen zu können, wie wenig Sinn selbst diese entfernteren Sprachverwandtschaften in Wirklichkeit haben. Man nehme einmal das moderne Französisch zum Beispiel. Es ist jedem Forscher bekannt und müßte jedem Laien erst recht einleuchten, dass seine zunächst auffallende Ähnlichkeit mit dem klassischen Latein neuern und neuesten Ursprungs ist. Der Zufall der Kulturgeschichte brachte Invasionen des klassischen Latein in die französische Sprache genau so hinein wie in die deutsche. Die scholastische Denkweise des Mittelalters, die literarische Reaktion der Renaissancezeit, die Rezeption des römischen Rechts, ja sogar die sich für antik haltende republikanische Bewegung der großen Revolution führten der französischen Sprache stoßweise klassisch lateinische Worte zu, wie der deutschen. In der unverträglichen deutschen Sprache blieben sie zu Hunderten haften, in der französischen, in welcher sie unzählige Bekannte vorfanden, zu Tausenden. In Deutschland machten sich viele (nie genug gewürdigte) Männer, von Zesen bis Campe, um die "Reinigung" der Sprache verdient; in Frankreich konnte der Purismus niemals recht festen Boden fassen.

Es ist also die außerordentliche Ähnlichkeit der heutigen französischen Sprache mit der lateinischen, wie den Forschern längst bekannt ist, eher ein Ergebnis der späteren Geschichte als der "Verwandtschaft". Ein deutscher Lateinschüler lernt mit Hilfe der lateinischen Vokabeln wissenschaftliches Französisch viel leichter verstehen als die französische Umgangssprache, und modernes Französisch leichter als Altfranzösisch. Ein alter Römer würde im modernen Französisch die Ähnlichkeit mit seinem Latein sofort erkennen, schwerlich aber in dem Französisch des achten Jahrhunderts. Das wäre ihm eine unverständliche Barbarensprache gewesen.

Was sprachgeschichtlich vorging, als lateinisch schreibende Beamte die Franken regierten, als römische Soldaten mit fränkischen Mädchen Kinder erzeugten und den Kindern ihre italische Mundart lehrten, das wird sich nicht mehr entwirren lassen. Wir können es uns aber nicht anders vorstellen, als dass eine Vermischung von Blut und Sprache zustande kam. Diese Vermischung, dieser tatsächliche Vorgang, erklärt uns wiederum einen anderen Begriff der Sprachgeschichte. Wir sind geneigt, in unzähligen Fällen Entlehnung anzunehmen, wo die Sprachwissenschaft um ihrer gesuchten Stammbäume willen von Abstammung redet. Ich habe in der Einleitung zu meinem "Wörterbuch der Philosophie" diese Verhältnisse mit vielen Beispielen zu erklären versucht. Jetzt sehen wir, dass auch der Begriff der Entlehnung von der Vorstellung ausgeht, dass die "Tochtersprache" die ärmere, die bedürftigere sei im Verhältnis zur Muttersprache. Stellen wir uns aber so eine fränkisch-italische Mischehe aus der Zeit des Sprachübergangs vor, so müssen wir zugeben, dass selbst der Begriff, der Entlehnung schon auf einem Vorurteil beruhe. Wer entlehnte? Und woher wurde entlehnt? Wir müssen schon unduldsam, wie man die romanischen Sprachen Barbarisierungen des Lateinischen genannt hat, die neue fränkische Sprache entweder an die alte Volkssprache oder an die eingedrungene italische Sprache anknüpfen, um in unserer Abstraktion zwei Sprachen einander gegenüber zu stellen, eine entlehnende und eine, aus welcher entlehnt wurde. In Wirklichkeit wird nur da entlehnt, wo ein technischer Ausdruck bewußt aus einer fremden Sprache herübergenommen wird. Im natürlichen Wachstum der Sprache wird überhaupt nicht entlehnt. Das Kind des römischen Soldaten und der Frankin, oder auch der Soldat in der Unterhaltung mit der Frankin bildeten unbewußt ein Sprachgemisch, und die aus Tausenden solcher Fälle sich entwickelnde französische Sprache war doch nur ein Not- und Zufallsprodukt dieser historischen Ereignisse.