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Stammbäume der Völker

Man kann nach dem römischen Worte pater semper incertus bekanntlich von keinem Menschen sagen, wer sein leiblicher Vater gewesen sei. Gewiß ist, wenn man die Sache naturwissenschaftlich betrachtet, in der unendlichen Mehrzahl der Fälle nur die Herkunft von der Mutter. Es handelt sich hier nicht um Sentimentalitäten, sondern um Tatsachen. Und es ist eine Tatsache, dass in gut geleiteten Gestüten die Herkunft eines Pferdes besser bezeugt ist als in unserer Gesellschaft die Herkunft der Menschen. Das Gefühl davon mag denn auch dazu geführt haben, dass das Institut eines Mutterrechts, nach welchem Kinder Namen und Rechte, auch Pflichten nur von der Mutter erben, seit der entscheidenden Anregung durch Bachofen über alle bewiesene Erscheinungen hinaus ausgedehnt worden ist. Das Mutterrecht erinnert aber daran, dass die Herkunft eines Menschen zur Hälfte doch eine Sicherheit gewährt. Der Sohn einer deutschen Frau stammt mit der Hälfte seines Blutes — wenn man sein ganzes Leben und Wesen derart halbieren darf — gewiß von einer Deutschen ab. Die andere Hälfte ist aber — auch wenn man von dem gesetzlichen Vater gänzlich absieht — ebenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit deutsch. So hat es z. B. bei dem Verhältnis der Slawen und Semiten in Deutschland nur eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass ein Slawe oder ein Semite der Vater gewesen sei. Und wenn in Deutschland sechzig Millionen Deutsche leben und nur fünfzig Japaner, so ist die Wahrscheinlichkeit einer japanischen Vaterschaft eine äußerst geringe. So ergibt sich für uns — die Zeiten großer Völkerrevolutionen abgerechnet — die Annahme, dass innerhalb eines Landes jede Generation ordentlich von der vorigen abstamme. Und selbst in Zeiten von Völkerrevolutionen bleibt das Mutterrecht bestehen, die Hälfte des Blutes ist geblieben. So kann man nicht eigentlich sagen, Völker seien ausgestorben. Nur Sprachen sind gestorben, soweit man den Begriff Tod eher auf das Abstraktum Sprache als auf das Abstraktum Volk anwenden mag.

Die gotische Sprache, von der vor fünfzehnhundert Jahren die für uns wichtigsten Dokumente niedergeschrieben wurden und die noch vor dreihundert Jahren auf der Krim gesprochen worden sein soll, ist verschwunden. Ebenso die Sprache der Altpreußen. Ebenso die alte Sprache der adriatischen Insel Veglia. Wenn nun auf der Krimhalbinsel oder in Preußen die alte Sprache durch eine neue bis auf den letzten Rest verdrängt worden ist, so ist selbstverständlich nicht anzunehmen, dass die Bewohner des Landes heute kein gotisches bzw. preußisches Blut in den Adern haben.

Dazu muß man noch bedenken, dass in älterer (immer noch historischer) Zeit die Verdrängung einer Sprache durch eine andere leichter war als heute. Seit der Erfindung der Schrift und seit der Entstehung einer Volksliteratur durch die Buchdruckerkunst hat auch das kleinste und zurückgebliebenste Volk in seiner Literatur etwas Handgreifliches, woran es festhalten kann. Vollends seit dem Einfluß des Nationalitätenprinzips sorgt die Eitelkeit für Erhaltung von Sprachen, welche der Hunger und die Liebe längst fallen gelassen hätten. Die österreichische Monarchie weiß davon zu erzählen.

Wir müssen also annehmen, dass in vorhistorischer Zeit die teilweise und vollständige Verdrängung einer Sprache durch eine andere noch viel häufiger gewesen ist als in der durch Dokumente belegten Periode.