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Sprechfehler

Auch die Artikulation, die Zertrennung der Sprache in Laute, kann freilich eingeübt werden. Seitdem es eine Schriftsprache, seitdem es Schulen gibt, mag es auch in der lebendigen Sprache etwas wie Artikulation geben.

Es ist aber eitel Schulmeisterei, den Gegensatz von Versprechen und richtigem Sprechen auf den Begriff der Artikulation zurückzuführen. Wir werden ja sehen, dass die menschliche Sprache nicht artikulierter ist als die tierische. Darum kann sich auch ein Hund verbellen, ein Hahn sich verkrähen. Uns klingt das komisch wie oft das Versprechen der Menschen.

Auf die Bedeutung des Versprechens für den Sprachwandel hat Hermann Paul (Prinzip, d. Sprachg. S. 59) frei hingewiesen. Die Erscheinung selbst und ähnliche "Störungen der Sprache" hat Kußmaul bekanntlich beschrieben und geordnet, so gründlich, dass seitdem nichts Wesentliches hinzugefügt worden ist. Die Monographie, die Rudolf Meringer (unterstützt von einem Mediziner) über das "Versprechen und Verlesen" herausgegeben hat, ist nicht nur arm, sondern auch sonst unbrauchbar)1.

Wie gerade geübte Leser bekanntlich Druckfehler überlesen, weil sie mit den Augen ganze Wortbilder auf einmal fassen und aus einigen Hauptbuchstaben blitzschnell den Sinn des Ganzen erfassen, so müßten wir alle, weil wir doch noch geübtere Hörer sind, auch Sprechschnitzer überhören. Dem ist aber nicht so. Wir bemerken jeden leisesten Irrtum, jeden fehlenden oder falschen Buchstaben, auch wenn wir noch so viel Übung im Zuhören haben, ja selbst bei geringer Aufmerksamkeit.

Dagegen aber hören wir gewöhnlich richtig, das heißt wir erzeugen uns Worte und Sätze genau in dem Sinn des Sprechenden, wenn uns die Entfernung oder sonst ein Umstand einige, ja viele Laute unterschlagen hat.

Die erste Tatsache, dass wir nämlich einen Fehler leichter überlesen als überhören, möchte ich so erklären: Das Bemerken des Fehlers kann natürlich erst im Augenblick des Verstehens erfolgen, nicht beim mechanischen Sehen oder Hören. Das Verstehen ist — wie (I, S. 508 f.) ausführlich nach Stricker dargelegt ist — sowohl beim Lesen als beim Hören an ein lautloses Denken, das heißt ein Sprechen, also an lautlose motorische Vorstellungen in unseren Artikulationsmuskeln gebunden. Nun kann aber meist das gesehene Wortbild leicht das gewohnte, das heißt richtige Begriffswort reproduzieren, und wenn das gesehene Wortbild ihm nicht ganz entspricht, so fällt es nicht auf, weil keine direkte Vergleichung stattfindet zwischen dem Augen- und Sprachzentrum. Die Nervenbahn mag immerhin kurz genug sein.

Entspricht aber das gehörte Wort nicht vollkommen demjenigen, worauf die Bahnen meiner Sprachorgane eingeübt sind, so muß ich wohl einen Euck kriegen, weil ja doch die Nervenverbindung zwischen Gehör- und Sprachzentrum wahrscheinlich (aus anderen Gründen) eine sehr nahe ist. Man könnte dasselbe auch so ausdrücken, dass die Ergänzung der motorischen lautlosen Sprachmuskelbewegungen im Hören Reflexe der gehörten Laute sind und dass darum immer der Fehler zum Bewußtsein kommt, wenn ein falscher Laut die richtig eingeübten Reflexbewegungen stört. Wir sehen an anderer Stelle, dass Bewußtsein sich gern an solche Rucke oder Störungen knüpft.

Nun scheint es mir, dass wir aus eben diesem Grunde — weil unser Verstehen oder stilles Denken Vorstellung von Muskelbewegung ist, weil also nicht das Ohr, sondern die eingeübte Sprachbildung entscheidet —, es scheint mir, dass wir durch diesen selben Zwang, das Gehörte durch unsere Sprachgewohnheit zu flicken, dazu kommen, mangelhaft Gehörtes richtig aufzufassen. Wir übersehen Druckfehler und können uns als Leser fehlende Wörter oder Zeilen nicht leicht ersetzen; aber wir überhören keinen Sprechfehler und sind rasch dabei, ganze Worte, ja Wortgruppen aus unserem Vorrat einzuschieben, wenn wir den Sprecher nur im ganzen verstanden haben. Bekannte Schauspielerspäße zeigen, dass das selbst im Theater, wo doch gewerbsmäßig gute Sprecher die Worte artikulieren, häufig vorkommt.


  1. Es ist dem Forscher passiert, dass wenigstens einer der Herren, die ihm psychologisches Material zu liefern hatten, sich über ihn lustig machte und ihm einen Bären nach dem andern aufband. Meringer führt diesen Spaßvogel ganz ernsthaft als seinen Freund Mu. ein. Es kann kein Zweifel sein. "Du leichst dir merk seinen Namen" (anstatt: du merkst dir leicht) oder "Mastrostochsbraten" (anstatt: Mastochs usw.) oder "Offiziere mit aufgespanntem Säbel" und andere Scherze des Freundes Mu.