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Hermann Paul

Der Darwinismus, insbesondere die Auffassung der Sprache Hermann durch Herbert Spencer, hat nun die deutsche Sprachphilosophie, die sich aus englischen Sanskritstudien entwickelt hatte, neuerdings um einen starken Schritt vorwärts gebracht. Der geistreichste Kritiker des bisherigen Verfahrens ist Hermann Paul in seinen "Prinzipien der Sprachgeschichte". Das Werk hätte eine Revolution der Geister herbeiführen können, wenn der Verfasser die Nachbarwissenschaften, namentlich Logik und Psychologie, ebenso selbständig und unabhängig studiert und geprüft hätte, wie die von ihm völlig beherrschte Sprachwissenschaft. Dies aber gerade ist die Kehrseite der deutschen Professorentüchtigkeit, dass ein jeder nur Spezialist sein will und darf auf seinem besonderen Gebiete, über dessen Grenzen hinaus er jedoch die Ergebnisse seiner Herren Kollegen vertrauensvoll hinnimmt und benützt. Keiner scheint noch zu ahnen, dass jenseits der Grenze eine andere Sprache gesprochen wird, und dass darum sogenannte Naturgesetze niemals ungestraft aus einer Wissenschaft in die andere, aus einer Sprachkonvention in die andere hinübergenommen werden dürfen. Es steht damit womöglich noch schlimmer als mit Münzkonventionen. Tritt man aus Italien nach Frankreich, so verliert das Geld trotz aller Verbriefungen dennoch ein wenig an Wert.

So konnte sich Hermann Paul nicht zu der Wahrheit durchringen, dass Logik und Grammatik nur moderne Mythologien der menschlichen Sprache seien, aber die neue Stellung, die er der Sprachwissenschaft anweist, bietet dennoch bedeutende Anregungen. Er zuerst faßte die Sprachwissenschaft rein als eine historische Disziplin, als einen Teil der Kulturgeschichte, er zuerst lehrte, dass Sprachwissenschaft immer Gesellschaftswissenschaft sei, und zwar so, dass niemals psychische Kräfte allein, sondern auch physische Kräfte zu beobachten seien. Damit überwand er die Arbeiten Steinthals und die Geistreichigkeit von Lazarus, die sich zusammen als Völkerpsychologen etabliert hatten. Diese Völkerpsychologie hatte sich blind den alten abstrakten Gegensätzen von Natur und Geist unterworfen und war über alle Maßen wortabergläubisch. In seiner Kritik von Lazarus und Steinthal erhebt sich Hermann Paul einmal über seine eigene Anschauung, wenn er folgende vortreffliche Sätze niederschreibt (Pr. d. Sprachg. II. Aufl. S. 11): "Mancher Forscher, der sich auf der Höhe des neunzehnten Jahrhunderts fühlt, lächelt wohl vornehm über den Streit der mittelalterlichen Nominalisten und Realisten, und begreift nicht, wie man hat dazu kommen können, die Abstraktionen des menschlichen Verstandes für realiter existierende Dinge zu erklären. Aber die unbewußten Realisten sind bei uns noch lange nicht ausgestorben, nicht einmal unter den Naturforschern. Und vollends unter den Kulturforschern treiben sie ihr Wesen recht munter fort, und darunter namentlich diejenige Klasse, welche es allen übrigen zuvorzutun wähnt, wenn sie nur in Darwinistischen Gleichnissen redet. Doch ganz abgesehen von diesem Unfug, die Zeiten der Scholastik, ja sogar die der Mythologie liegen noch lange nicht so weit hinter uns, als man wohl meint, unser Sinn ist noch gar zu sehr in den Banden dieser beiden befangen, weil sie unsere Sprache beherrschen, die gar nicht von ihnen loskommen kann. Wer nicht die nötige Gedankenanstrengung anwendet, um sich von der Herrschaft des Worts zu befreien, wird sich niemals zu einer unbefangenen Anschauung der Dinge aufschwingen."

Von diesem Standpunkt steigt der Forscher leider immer wieder hinunter, so oft er die Kategorien der Sprache im einzelnen behandelt. Immer wieder hält er Abstraktionen für wirksam, nachdem er vorher mit dankenswerter Deutlichkeit ausgesprochen hat, es wirke im geistigen Verkehr unter den Menschen immer nur Physisches aufeinander, der Inhalt der erzeugten Vorstellungen werde in jedem einzelnen Gehirn ausnahmslos nur durch seine eigenen physiologischen Erregungen hervorgerufen, die Mitteilung könne immer nur die bereits in einer Seele ruhende Vorstellungsmasse erregen oder auf die Schwelle des Bewußtseins heben: der Vorstellungsinhalt selbst sei unübertragbar.

Dass nun trotzdem eine geschichtliche Entwicklung der Sprache, das heißt ein Fortschritt des Menschengeistes wirklich und möglich sei, das erklärt er etwas künstlich durch die Umwandlung indirekter Vorstellungsassoziationen in direkte. Es soll diese Umwandlung sich in der Einzelseele vollziehen und das gewonnene Resultat auf andere Seelen übertragen werden. Ich kann mir bei diesen Worten nichts denken, wenn nicht die gesamte vorausgegangene Gedankenarbeit zugleich mit übertragen wird. Es wird wohl auf eine Einübung und deren Vererbung hinauslaufen, wobei dann freilich unendlich viele Zwischenglieder unbewußt werden müssen.

Sehr fruchtbar ist Hermann Pauls Gedanke, dass jede sprachliche Neuschöpfung, das heißt auch die leiseste Änderung im Wandel von Laut oder Bedeutung, stets nur das Werk eines Individuums sei, wodurch sich die Sprache von anderen menschlichen Erzeugnissen unterscheide. Das schließe natürlich nicht aus, dass innerhalb kleiner und großer Gruppen von Individuen eine große Gleichmäßigkeit aller sprachlichen Vorgänge vorhanden sei. So kommt Hermann Paul zu seinem wichtigen Ergebnis, dass für eine ideale Sprachforschung das Objekt wäre: die sämtlichen Äußerungen der Sprachtätigkeit an sämtlichen Individuen in ihrer Wechselwirkung aufeinander. Alles, was jemals ein Mensch vorgestellt, gelallt, gesprochen oder gehört hat, alle Kombinationen aller möglichen Vorstellungen, die jemals irgendwo vorhanden waren oder sind, gehören der Sprachwissenschaft an, wenn sie Sprachgeschichte sein will. Die Träger aber dieser historischen Entwicklung sind — ich bemühe mich um eigene Worte — die unwahrnehmbaren Vorgänge in den Menschengehirnen, nicht die wahrnehmbaren Äußerungen. Das wirklich ausgesprochene Wort verfliegt nach physikalischen Gesetzen wie ein Paukenschlag. Es verwandelt sich nicht ein Wort in ein anderes, eine Bedeutung in eine andere; es ist nur ein anderes Gehirn, das mit anderen Nerven ein anderes Sprachorgan in Bewegung setzt, um andere Vorstellungen zusammenzufassen. Die tönende Sprache ist für den geistigen Verkehr der Menschen notwendig, weil die Geister nicht unphysikalisch aufeinander wirken können; aber die Sprachgeschichte muß es trotzdem versuchen, sich allein an die unwahrnehmbaren psychischen Vorgänge zu halten. Sie muß also aus den vorhandenen Sprachen die psychologischen Vorgänge zu erkennen suchen, sie beschreiben, wie der Darwinismus aus den vorhandenen Tierverschiedenheiten Naturgesetze zu erschließen sucht. Die alten Klassifikationen sind in der Naturgeschichte ebenso mangelhaft wie in der Sprachgeschichte. Das überkommene grammatische System ist nicht fein genug für die Wirklichkeit.

Die erste Frage der Sprachwissenschaft muß also diese sein: wie verhält sich die individuelle Sprachtätigkeit zum ererbten Sprachgebrauch? Wir könnten sagen, es sei dieselbe Frage, die die moderne Naturgeschichte zu stellen hatte: wie verhält sich das Individuum zu seiner Art? Damit kommen wir zu Hermann Pauls (von Schleicher wird noch zu reden sein) darwinistischer Anschauung von der Sprache.