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Darwinismus und Sprachwissenschaft

Ohne Absicht, ohne Zweck verändert die Sprachtätigkeit jedes Individuums den bestehenden Sprachgebrauch. Dies sieht unser Forscher theoretisch ein. Aber genau so, wie Darwin trotz seiner besseren Einsicht auf Schritt und Tritt in die Teleologie zurückfällt, weil er aus seiner menschlichen Haut nicht heraus kann, genau so leugnet Hermann Paul in einem Atem jede absichtliche Einwirkung auf den Sprachgebrauch, um fortzufahren: "Im übrigen spielt der Zweck bei der Entwicklung des Sprachusus keine andere Rolle als diejenige, welche ihm Darwin in der Entwicklung der organischen Natur angewiesen hat; die größere oder geringere Zweckmäßigkeit der entstandenen Gebilde ist bestimmend für Erhaltung oder Untergang derselben" (S. 30). Also keine Absicht, wohl aber ein Zweck! Wieder wird der Sprache Gewalt angetan, indem Zweckmäßigkeit in einem zwecklosen Sinne gebraucht wird. Zweckmäßig ist und bleibt ein neuer Gebrauchsgegenstand der Menschen, wenn er nicht nur der Absicht des Erfinders entspricht, sondern auch der Absicht der übrigen Menschen. Es ist ein feiner Unterschied zwischen der einen und der anderen Absicht. Die Absicht des Erfinders ist ein mittelbarer Zweck, die Absicht des Käufers ist ein unmittelbarer Zweck. In der Abänderung einer Tierart, in der Entstehung also eines gegen früher veränderten Organs oder auch in der Entstehung eines neuen Worts oder einer Wortveränderung kann von der Erfinderabsicht für uns, die wir an göttliche Schöpfung nicht glauben, überhaupt nicht die Rede sein; aber doch auch nicht von der Käuferabsicht. Denn die Änderung in der Sprache und in der Natur überhaupt ist in einer Reihe von Individuen unbewußt entstanden, bis der ererbte Grad stark genug war, um wahrnehmbar zu sein. Was wir dann an der Änderung zweckmäßig nennen, ist also auch nicht mehr der unmittelbare aber bewußte Zweck des Käufers, sondern einzig und allein die Fähigkeit, zu bestehen. Es ist also Darwins von Paul angenommene Definition der Zweckmäßigkeit, als einer Zweckmäßigkeit der Erhaltung, eine tief versteckte Tautologie: es erhält sich Art oder Wort, wenn es sich erhält; es geht unter, was untergeht. Habe ich diese Tautologie an einem so wichtigen Begriffe offenbar gemacht, so wäre noch hinzuzufügen, dass der Zweckbegriff nicht gut etwas anderes sein konnte als ein leerer Wortschall. Denn die Arten der Natur und die Worte der Sprache, in welche unser Ordnungssinn den Begriff der Zweckmäßigkeit von außen hineinträgt, sind ja eben nur, wie wenige Zeilen vorher gesagt wurde, die wahrnehmbar gewordenen Änderungen bestehender Arten und Worte. Wir sollten daraus lernen, dass die Zweckmäßigkeit an keiner Stelle der Entwicklung einen natürlichen Platz habe. Die wirklichen Veränderungen in Natur und Sprache sind zwecklos, weil sie minimal, sind absichtslos, weil sie unbewußt sind. Wo die Summe aller Veränderungen bewußt wird, wahrnehmbar, eine meßbare Größe, da ist sie auch schon eine Abstraktion, da ist sie nicht mehr wirklich, da kann sie kein Zweck mehr sein. (Vgl. Art. Zweck in meinem "Wörterbuch der Philosophie".)

Die Voraussetzungen einer solchen Anschauung von der Sprache teilt Hermann Paul; wenn er trotzdem wie die andere Sprachforschung darwinistisch fehl greift, so rührt das wohl von einer scheinbaren Kleinigkeit her. Er erkennt deutlich, dass alle Einteilungen der Menschensprache bis herab in die Mundarten nur Abstraktionen seien, wie ebenso der große Umschwung in der neueren Zoologie auf der Erkenntnis beruhe, dass alle Klassen, Gattungen und Arten nur Schöpfungen des Menschenverstandes, dass nur die Individuen wirklich seien. Aber da entschlüpft ihm das verräterische Wort: "Dass Altersunterschiede und individuelle Unterschiede nicht dem Wesen, sondern nur dem Grade nach verschieden sind". "Das klingt ganz gemeinverständlich, weil wir alle glauben, uns bei dem Gegensatz von Wesen und Grad etwas denken zu können. Das Bild vom Gradunterschied scheint beinahe eine Erklärung zu sein. Wir denken an die Skala des Thermometers und legen dem Gradunterschied sofort Wirklichkeit bei. So verwandelt sich für die Darwinisten wie für die modernsten Sprachforscher die Abstraktion, als welche sie eben alle Klassen, Gattungen und Arten erkannt haben, sofort wieder in Wirklichkeit. Es werden nach dieser neuesten Weisheit innerhalb einer Volksgemeinschaft in jedem Augenblicke so viele Dialekte geredet, historisch entstandene Dialekte, als Gruppen, als Dörfer, als Familien, ja als Individuen vorhanden sind. Die allgemein sogenannten Dialekte bedeuten der neuen Weisheit nichts anderes, als das Hinauswachsen der individuellen Verschiedenheiten über ein gewisses Maß. Es kann kein Zweifel sein, dass Hermann Paul unter dem "gewissen Maß" eine zwar unbekannte oder ungenau bekannte, aber bestimmte positive Größe versteht. Und hier liegt ein erkenntnistheoretischer Fehler des Darwinismus und der Sprachwissenschaft verborgen.

Die Experimente der neueren physiologischen Psychologie haben uns darüber belehrt, dass Reizunterschiede ein "gewisses Maß" überschreiten müssen, um unseren Sinnen wahrnehmbar zu sein. Reize unter diesem Maß nehmen wir nicht etwa schwächer wahr, sondern gar nicht. So steht es um unser Tastgefühl, um das Gesicht und um das Gehör. Dahin gehört es auch, dass wir auf- oder absteigende Töne ohne bestimmte Intervalle nicht mehr als Musik empfinden. "Der Wolf heult," sagten die alten Musikanten von solchen Tonfolgen. Alles das muß uns klar machen, dass die Gradunterschiede, auf denen unsere Klassifikationen von Natur und Sprache beruhen, durchaus nichts Positives sind, nichts Objektives, sondern subjektiv in unseren Sinnen, den Grundlagen unserer Erkenntnis, begründet. Man halte dazu, was ich Trauriges über die Relativität von subjektiv und objektiv zu sagen hatte (vgl. Bd. 1, S. 415 ff. und Art. objektiv in meinem "Wörterbuch der Philosophie"), und wird begreifen, wie armselig mir selbst diese Bemerkung zu der darwinistischen Sprachwissenschaft erscheinen muß. Und dennoch war sie notwendig.

Darwinismus und Sprachwissenschaft werden von der gleichen Kritik betroffen, weil die Ähnlichkeit zwischen der Entstehung von Individualsprachen und von Tierindividuen noch weit größer ist, als selbst die Darwinisten unter den Sprachforschern anzunehmen scheinen. Es ist bekannt oder allgemein angenommen, dass die Entwicklung eines Organismus, eines tierischen oder pflanzlichen Individuums, von zwei Faktoren abhängt, von der Erblichkeit durch die Eltern und von der Anpassung an das Milieu. Die Erblichkeit soll — kurz ausgedrückt — die Konstanz, die Anpassung die Veränderlichkeit erklären. Wenn nun Hermann Paul die Verkehrsgenossen eines Menschen für die Erzeuger seiner Indivi-dualsprache hält, ihren Einfluß mit der Erblichkeit gleichstellt, und anderseits die Veränderungen den übrigen Eigenheiten und Erregungen seiner geistigen und leiblichen Natur zuschreibt, so hat er das eigentliche Verhältnis ein wenig verschoben. Wir können bis heute die minimalen, sich zu Artunterschieden summierenden Veränderungen in den menschlichen Sprachorganen, deren motorischen Nerven und den Sprachzentren des Gehirns nicht so aufzeigen, wie es die Physiologen mit der Entwicklung z. B. des Auges bereits vermochten. Wir können es uns aber nicht anders vorstellen, als dass sich das alles ebenso vererbt wie Hand und Fuß und Auge, und dass demnach die Sprache als eine Äußerung des Sprachorgans genau so wie das Leben als Äußerung des einzelnen Tierorganismus sich vererbt. Konstant, wenn man das Wort schon gebrauchen will. Und jede Veränderung, jede Anpassung wird dann erzeugt von den Verkehrsgenossen, von Eltern, Mitschülern usw. Es ist eben die Sprache eine Lebensäußerung wie eine andere; in diesem Sinne erst gibt es nur Individualsprachen, wie es nur individuelle Organismen gibt. Alle Unterschiede, auf welche man hingewiesen hat, sind darum unerheblich; ererbt hat der Mensch sein Sprachorgan in allen seinen feinen Wirklichkeitsnüancen, wie er ebenso seine übrigen Organe, wie er sein Leben ererbt hat; ist doch das Leben auch nur wieder eine Abstraktion für alle Äußerungen aller seiner Organe. Schwächer oder stärker umgeändert wird dieses Sprachorgan, wenn man Gehirn und Nerven dazu rechnet, von allen seinen Beziehungen zur Außenwelt, unaufhörlich bis zur Stunde seines Todes, und unaufhörlich bis zur Stunde seines Todes wirkt die Persönlichkeit des Einzelmenschen mit an der Entwicklung der Sprachorgane der anderen Menschen, zunächst der ihm nahe stehenden. Genau so wechselseitig, wenn auch noch so minimal beeinflußt der Gesamtorganismus des einen die Lebensäußerungen aller anderen. Ich kann kein Stück Brot essen, ohne dass ich unendlich klein beitrage zum Stande der Nahrungsmittelmasse und zu ihrem Einfluß auf die Menschen. Und mein Nachbar kann kein Huhn aufziehen, ohne dass diese Vermehrung der Nahrungsmittelmasse unendlich klein auf meine Lebensführung zurückwirkt. Aus Milliarden solcher Einzelerscheinungen summiert sich dann etwa die Erscheinung, welche in der Natur sich einmal als Hungerempfindung äußert, in der Sprachgeschichte darin, dass ich z. B. das Wort "teuer" mit einem gesteigerten Vorstellungsinhalt ausspreche. Was die Sache so unendlich kompliziert, das ist nicht ein Unterschied zwischen Individualsprache und Tierindividuen, sondern nur die unergründliche Tatsache, dass die einzelne Sprachäußerung zuerst immer eine Lebensäußerung ist, eine Wirklichkeit des Augenblicks, und daneben auch eine Vorstellung, eine Erinnerung.

Hermann Paul sieht nun sehr scharfsinnig, dass die Schwierigkeit der Sprachgeschichte nicht darin liege, die Spaltung einer Muttersprache in ihre Dialekte zu erklären. Denn die Verschiedenheit ist ja das Selbstverständliche, weil es überhaupt nur verschiedene Individualsprachen gibt. Er sieht die Schwierigkeit ganz richtig in der Frage, woher es komme, dass die Verschiedenheit dennoch zu einer größeren oder geringeren Übereinstimmung führe, dass es Einheiten wie Mundarten, Muttersprachen usw. gebe. Die alte Frage beiseite zu schieben, die Frage nämlich nach der Zerspaltung höherer Spracheinheiten in niedere, das war gut, das kann alle Irrtümer der vergleichenden Sprachwissenschaft endlich zerstören. Die neue Frage jedoch, die Frage nach der Entstehung der Mundarten aus den Individualsprachen, ist doch nur wieder eine scharfsinnige Schwäche.

Denn wir bewegen uns doch im glühenden Kreise der Abstraktionen, wenn wir der Gemeinsprache, der Muttersprache, der Mundart, oder wie wir immer das geistige Verkehrsmittel einer Menschengruppe nennen wollen, wenn wir der zwischen den Menschen bestehenden Sprache die Individualsprachen der einzelnen Menschen gegenübersetzen. Wirklich, individuell, lebendig sind doch nur die Sprachorgane der Einzelmenschen, Gehirn und Nerven immer wieder zum Sprachorgan mitgerechnet. Diesen individuellen Sprachorganen steht allerdings nichts Gemeinsames als wirklich gegenüber, höchstens ein Typus, eine Art, eine ererbte Gleichmäßigkeit. Die Individualsprache jedoch, das heißt die jeweilige Äußerung des individuellen Sprachorgans, ist ja nicht wirklich, wäre ja ohne Vorbereitung des hörenden Mitmenschen ein Paukenschlag im luftleeren Raum. Sprache wird das physikalische Erzeugnis des individualen physiologischen Sprachorgans erst dadurch, dass die Laute zwischen den Menschen einen Tauschwert erhalten haben. Wir sehen jetzt erst, was es für eine Bedeutung hatte, wenn die Sprache für uns von Anfang an etwas zwischen den Menschen war. Wir dürfen also nicht fragen: wie entsteht Sprache oder eine Mundart aus den Individualsprachen? Wir müssen erkennen, dass die erste und älteste unförmliche, lallende Äußerung eines urzeitlichen individuellen Sprachorgans beim ersten Laute bereits nicht mehr bloß Individualsprache, sondern Sprache, das heißt etwas zwischen einem sprechenden und einem hörenden Menschen war.

Ganz vorsichtig möchte ich hier nur noch fragen, ob man nicht auch in der lebendigen Natur eine solche Unterscheidung vermuten oder gar aufstellen könnte. Ohne Zweifel gibt es im Tier- und Pflanzenreich keine wirkliche Gattung, keine wirklichen Arten. "Wirklich sind nur die Individuen. Wie aber, wenn es uns erlaubt wäre, den vielumstrittenen Artbegriff als etwas zwischen den Individuen aufzufassen? Arten erkennen wir nach wie vor, wenn wir uns bei dem Worte überhaupt noch etwas vorstellen, an ihrer gegenseitigen Beziehung, an der Fortpflanzungsfähigkeit. Diese Tatsache, diese Äußerung der Individualorganismen bleibt bestehen, auch wenn der alte Artbegriff abgeschafft ist. Hund und Katze verstehen einander nicht zur Schaffung neuer Individuen. Dogge und Schäferhund verstehen einander. Wer weiß, vielleicht ist die Art doch etwas Wirkliches, etwas zwischen den Individuen.  

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