Zum Hauptinhalt springen

XII. Schrift und Schriftsprache

Geschwindigkeit des Sprachwandels

Es ist oft bemerkt worden, dass die Geschwindigkeit sehr verschieden ist, mit welcher die Sprachen sich verändern. Von Revolutionen der Sprache infolge von Sprachmischungen soll dabei gar nicht die Rede sein. In ihrer ganz normalen Entwicklung hat eine Sprache zu verschiedenen Zeiten und haben die Sprachen verschiedener Völker ungleiche Geschwindigkeiten. Um nur bei dem Bekanntesten stehen zu bleiben, so ist die Veränderung im Deutschen immer geringer, also langsamer, je mehr wir uns der Gegenwart nähern. Die drei Jahrhunderte von Luther bis auf unsere Zeit haben keinen so starken Wechsel gebracht wie die drei Jahrhunderte von den Minnesängern bis auf Luther, und dieser Wechsel war wieder nicht so stark wie der in den drei Jahrhunderten vom Vertrag von Verdun bis auf die Minnesänger. Sodann hat sich wieder das Deutsche in den letzten zweihundert Jahren schneller verändert als das Französische im gleichen Zeitraum.

Alle diese Geschwindigkeiten sind aber äußerst gering im Verhältnis zu der Schnelligkeit, mit welcher nach übereinstimmenden Berichten die Indianer Amerikas drüben und die Polynesier hüben ihre Sprachen verändern.

Da scheint es nahe zu liegen, diese Geschwindigkeiten in Beziehung zu bringen mit der Existenz und auch mit der Verbreitung der Schrift bei einem Volke. Wir brauchen auf diesen Punkt nur unsere Aufmerksamkeit zu richten, um sofort überzeugt zu sein, dass das dauernde Zeichen, die Schrift, auch den hörbaren flüchtigen Zeichen größere Dauer verleihen werde. Unverändert kann freilich auch die Schrift eine Sprache nicht erhalten, weil von Geschlecht zu Geschlecht der Wert eines Schriftzeichens leisen Schwankungen ausgesetzt ist; aber die vollkommene Haltlosigkeit, mit welcher ein Volk, bei dem nicht einmal die Gebildeten eine Schrift kennen, Sprachänderungen von jedem Nachbar- und jedem fremden Volke willfährig aufnimmt, hört auf mit der Einwanderung der Schrift. Wird der rasche Wechsel bei den sogenannten Wilden dadurch erklärt, so werden auch die feineren Unterschiede bei unseren Kulturvölkern vom Schriftwesen begleitet. Zur Zeit der größeren Geschwindigkeit, in der althochdeutschen Zeit, waren in Deutschland nur wenige Personen des Schreibens kundig, in der mittleren Periode wird die Schreibkunst der Besitz aller gebildeten Klassen, und seit Luther gewinnt die Schrift durch die Buchdruckerkunst und durch die Volksschule eine ungeheure Ausdehnung. Nebenbei folgte auf die größere Stetigkeit in der Zeit auch eine größere Stetigkeit im Raume. Das heißt, wenn die Veränderung der einzelnen Sprache immer langsamer vor sich geht, so entwickelt sich auch schneller als bis dahin die Gemeinsamkeit der Volkssprache, es entsteht die Gemeinsprache und die "Schriftsprache". Der Begriff ist nicht ganz neu. Ich fand ihn schon in der spätrömischen Überkultur, bei Augustinus natürlich. Der spricht einmal (Conf. XI, 2), und etwas verächtlich, der Redner, von der lingua calami. Wo das — durch große staatliche Zentralisationen unterstützt — wieder besonders wirksam wird, wie in Frankreich seit der Errichtung der einheitlichen Monarchie und ihrer Einrichtungen (von der Herrschaft von Paris an bis herunter zur Gründung der Akademie), da geht die Änderung auch noch langsamer vorwärts als in der gleichzeitigen deutschen Sprache.

* * *