Redende Künste

Redende Künste. Man versteht unter dieser allgemeinen Benennung die Wohledenheit, Beredsamkeit und Dichtkunst. Einige scheinen auch die Kunst des Geschichtschreibens dazu zu rechnen, die in der Tat wichtig genug ist, um als ein besonderer Zweig der redenden Künste behandelt zu werden, nicht insofern die Frage darüber ist, was ein Geschichtschreiber sagen soll, denn dieses macht eine besondere Wissenschaft aus; sondern insofern untersucht wird, wie er erzählen soll. Zwar könnte man sagen, dass die alten Lehrer der Redner die Kunst des Geschichtschreibers bereits in der Rhetorik behandelt haben. Denn da in ihren gerichtlichen Reden, über welche sie vorzüglich geschrieben haben, ein Hauptteil vorkommt, den die römischen Redner Narratio, die Erzählung nennen1, so haben sie eben dadurch schon Unterricht über dem erzählenden Vortrag gegeben. Allein, die Art wie der gerichtliche Redner die Erzählung behandelt, ist, wie bereits anderswo erinnert worden2 von der Art des Geschichtschreibers in einem wesentlichen Punkt völlig verschieden. Der Redner erzählt so parteiisch als möglich und der Geschichtschreiber soll völlig unparteiisch erzählen. Es ist ein Hauptkunstgriff des Redners, dass er, wenn er auch bei der völligen historischen Wahrheit bleibt, den Sachen durch einen entschuldigenden oder beschuldigenden Ausdruck, den Anstrich gibt, den sein Zweck erfordert, wie wir in allen gerichtlichen Erzählungen des Cicero sehr deutlich sehen.

 Man kann also nicht sagen, dass die Lehren der Rhetoriker, über die Erzählung, auch Lehren für den Geschichtschreiber seien. Daher scheint es allerdings, dass der historische Vortrag als ein besonderer Zweig der redenden Künste anzusehen sei, der besonders in Deutschland, wo die gerichtlichen Reden, mithin auch die Anweisungen dazu beinahe ganz in Abgang gekommen sind, sehr verdiente besonders behandelt zu werden. Dann müsste man zu den zwei Teilen der Rhetorik davon im Artikel Redekunst gesprochen worden, noch einen dritten Teil, der die Theorie des historischen Vortrages enthielte, hinzutun. Wir haben auch in der Tat schon etwas von dieser Art in der vortreflichen Abhandlung des Lucianus, wie die Historie zu schreiben sei.

 Dass die redenden Künste überhaupt in Absicht auf den Nutzen den ersten Rang unter den schönen Künsten behaupten, ist bereits an mehr Orten dieses Werks hinlänglich gezeigt worden,3 und es würde unnötige Wiederholung sein, wenn ich dieses hier besonders ausführen wollte. Aber ein besonderer Nutzen den man daraus zieht, ob sie ihn gleich nicht unmittelbar zum Zweck haben, verdient hier in Erwägung genommen zu werden.

 Wenn wir die besonderen Materien, wovon Redner oder Dichter bei besonderen Gelegenheiten sprechen, ganz auf die Seite setzen und die redenden Künste bloß aus dem Gesichtspunkt betrachten, dass sie dienen die Kunst der Rede überhaupt vollkommener zu machen, so erscheinen sie uns da in einer sehr großen Wichtigkeit. Die Rede hängt mit der Vernunft selbst so genau zusammen, dass die Vervollkomnung der ersteren zugleich auch die andere betrifft. Ein Ausdruck der uns einen Begriff oder eine Wahrheit, mit vorzüglicher Klarheit, Stärke oder mit großem Nachdruck erkennen lässt, ist allemal für eine nützliche Erfindung, nicht eben eines neuen Begriffes oder einer neuen Wahrheit, aber eines neuen Instruments zur Vervollkommnung der Vernunft.

 Alle Bemühungen der Philosophen und derer, die sich auf Entdeckungen spekulativer Wahrheiten legen, müssen, wenn sie dem menschlichen Geschlechte wahrhaftig nützlich sein sollen, auf populare Vorstellungen gebracht, das ist auf eine leichte, sinnliche und dem Gedächtnis leicht inhaftende Art ausgedruckt werden können. Je vollkommener zu dieser Absicht die Sprach eines Volkes ist, je mehr wahre Kenntnis und Vernunft besitzt es auch. Die Nation der Huronen kann im Grunde so viel Genie, so viel Fähigkeit des Geistes haben als irgend eine der erleuchtesten Nationen von Europa; aber so lange sie eine arme unausge bildete Sprache hat, bleibt auch der größte Geist unter diesem Volke, weit unter einem mittelmäßigen Kopf, der eine wohlausgebildete Sprache besitzt.

 Man muss die Redner, Geschichtschreiber und Dichter als Mittelspersonen zwischen den spekulativen großen Philosophen und dem Volk ansehen, welche die wichtigsten Begriffe und tiefesten Wahrheiten der Vernunft in die gemeine Sprache übersetzen.

Tacitus ist freilich in seinem Vortrag nicht popular; aber wenn wir zum Beispiel setzen, dass auch ein von spekulativen Wissenschaften entfernter Mensch, sich mit dem Vortrag dieses Geschichtschreibers völlig bekannt gemacht hätte, so müssen wir gestehen, dass er nun auch überaus feine Kenntnisse sittlicher Dinge besitzen würde, die nur der große Philosoph zu entdecken und deren popularen Ausdruck zu erfinden nur ein großer Redner in Stande gewesen.

 Eine genaue Ausführung dieser Sache möchte hier zu schwerfällig und auch zu weitläufig werden: darum begnüge ich mich eine Wahrheit, die ich schon anderswo in ihren eigentlichen philosophischen Gesichtspunkt gesetzt habe,4 hier bloß anzuzeigen und den wichtigen Schluss daraus zu ziehen, dass die redenden Künste, wenn wir auch ihren unmittelbaren Nutzen beiseite setzen, nur insofern sie die Sprache vervollkommnen und mit neuen Wörtern und ganzen Sätzen, die von ihnen aus allmählich in die populare Sprach übergehen, bereichern, vorzüglich verdienen geschätzt und mit großem Eifer betrieben zu werden.

 

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1 S. Rede.

2 S. Erzählung.

3 S. Künste; Beredsamkeit; Dichtkunst.

4 In der Sammlung meiner aus dem französischen übersetzten akademischen Abhandlungen; an zwei Orten, nämlich in der Zergliederung des Begriffes der Vernunft auf der 278 u.s.w. S. und in der Untersuchung über den wechselseitigen Einfluss den Vernunft und Sprache auf einander haben.

 


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