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Der Zensor geht um!

Augenblicklich wird wieder ein altes preußisches Gesellschaftsspiel gespielt: die Verleger stehen im Kreise um den Staatsanwalt herum, und der zählt ab:

Hans, mein Sohn, was machst du da?
Mensch, ich konfisziere!
Hans, mein Sohn, das kannst du nicht!
Vater, ich probiere!
Slevogt, Zille, Wassermann –
Du bist dran!

Der § 184 des Strafgesetzbuches ist einer von denen, deren Auslegung von dem jeweiligen Stand der öffentlichen kulturellen Meinung des deutschen Volkes abhängig sein sollte. Denn in der Tat klafft heute zwischen der Gerichtspraxis und dem Volksempfinden weiter Kreise ein solcher Widerspruch, dass man diese Art Rechtsprechung wohl als ganz verstaubt und unpopulär bezeichnen darf. Das Vermögen, ein unsauberes Groschenheft und ein Kunstwerk auseinanderzuhalten, ist nicht jedem gegeben – aber dazu hat der liebe Gott die Sachverständigen erfunden, daß man sie benütze. Unsre Staatsanwälte tuns nicht. Ich habe selbst einmal als Sachverständiger einer Gerichtsverhandlung beigewohnt, wo der Vorsitzende erklärte, die Sachverständigen könnten ihm viel erzählen, er brauche sie gar nicht, sondern das Gericht werde sich über die Unzüchtigkeit der vorliegenden Mappe schon selbst sein Urteil bilden. Es war auch danach.

Um zu entscheiden, ob ein Kunstwerk unzüchtig ist oder nicht, darf man den Begriff der Unzüchtigkeit nicht wie die Vorsteherin jenes Jungfernstiftes formulieren: »Alles, was unter der Tischplatte ist, ist unanständig.« So liegts nicht.

Augenblicklich geht der Staatsanwalt wieder einmal heftig um. Die letzten Konfiskationen, über die die Verleger und die Sortimenter gleichmäßig zu klagen haben, rühren zum großen Teil von dem berliner Staatsanwalt Orthmann her, der sich in Beschlagnahmungen gar nicht genugtun kann. Nun liegt die Ungerechtigkeit einer solchen Beschlagnahme darin, daß sie vor dem Spruch des ordentlichen Gerichts erfolgt, und dass selbst eine spätere Freigabe die große geschäftliche Schädigung nicht mehr wettmachen kann. Ein seither Feldzug gegen die Kunst ist aber unmöglich. Wenn der Staatsanwalt für Kunst und Künstler so wenig Verständnis hat, muß man ihm solche Verfahren abnehmen. Er hat soeben beschlagnahmen lassen:

bei Paul Steegemann in Hannover:

Paul Verlaine: ›Frauen‹, übersetzt von Curt Moreck,
Paul Verlaine: ›Hommes‹, französisch und deutsch;

bei Fritz Gurlitt in Berlin:

Friedrich von Schiller: ›Der Venuswagen‹, mit Lithographien von Lovis Corinth,
Huysmans: ›Gilles de Rais‹, mit Lithographien von Willi Geiger,
Heinrich Zille: ›Zwanglose Geschichten‹, mit Lithographien von Heinrich Zille,
Alfred Richard Meyer: ›Das Aldegrevermädchen‹, mit Lithographien von Georg Walter Rößner,
Paul de Kock: ›Der Mond im Kastanienwäldchen‹, mit Lithographien von Franz Christophe,
Gottfried August Bürger: ›Die Königin von Golkonde‹, mit Lithographien von Lovis Corinth,
Das indische Fabelbuch ›Pantschatantra‹, mit Lithographien von Richard Janthur.

Das ist Zensur. Nun will ich mir aber nicht von Herrn Staatsanwalt Orthmann vorschreiben lassen, was ich lesen darf, und wenn das so weiter geht, dann haben wir in vier Wochen eine obrigkeitliche Bevormundung, die sich in gar nichts von Metternichs Zensur unterscheiden wird. Daß Lovis Corinth Präsident der Sezession und Akademieprofessor ist, braucht der Staatsanwalt nicht zu wissen; dass Georg Walter Rößner Lehrer an der staatlichen Kunstschule in Berlin ist, auch nicht. Aber er mag zur Kenntnis nehmen, dass die deutschen Schriftsteller, die deutschen Maler und die deutschen Verleger nicht gesonnen sind, sich den Bütteleingriff eines Mannes gefallen zu lassen, der außerstande ist, einen Nackttanz in der Motz-Straße von einer Radierung Corinths zu unterscheiden.

Der dumpfe Ärger juristischer Spießer gegen alles, was in der Kunst frische Luft heißt, hat sich zu Hause auszutoben. Gestern George Grosz und heute Slevogt und Schiller, und morgen wahrscheinlich Goethe und Jakob Wassermann … In welcher Zeit leben wir?

Wir leben in einer Zeit, wo dem stramm emporgereckten Philister erlaubt ist, einer Nation Kandare anzulegen. Wehrt euch!

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 25.11.1920, Nr. 48, S. 616.