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Tagebuch des Urlaubers

›Die Rose von Stambul‹

»Ach, warum ist nicht alles operettenhaft! Warum bewegt sich nicht alles im Takte dieses englischen Walzers Myosotis!« Das hätte Laforgue nicht gesagt, wenn er unsre Operetten gekannt hätte. Gott soll uns bewahren! Das Leben ist schon traurig genug.

Es ist schon so, dass dieses Leben aber noch ein Cancan ist im Vergleich zu der tristen Öde der obbenannten Kunstgattung. Ich will ja gern leichte Musik hören, aber ich bin doch kein geistesschwaches Kind. Es ist wie in der Schule. Witze auf dem Katheder und in der Operette sind keine; sie sterben an der Luft. So ein Operettenwitz ist ernst, sachlich, dumm und gewissermaßen mit der Geste gemacht: nun aber hier keine Allotria, das ist eine wichtige Sache, sein Publikum zu unterhalten! Ach ja.

›Die Rose von Stambul‹ – das Gericht war nicht mehr ganz neu. Viele hatten schon an dieser Tafel gesessen, und es war zu befürchten, dass sie sich am Tischtuch den Mund abgewischt hatten. Oder waren die Flecke künstlich eingewebt, damit sich die Kundschaft wohler fühle? Der Zuckerguß der Torte aber glänzte hellweiß wie am ersten Tag. Auf der Bühne steht sie: die Massary – und alles ist vergeben und vergessen. Wie wohl das tut, wieder einmal eine Frau zu sehen, bei der jede Bewegung bewußt und graziös ist und die so überlegen ist, so unendlich überlegen. (»Unerbittlich?« fragt sie einmal ihr Partner. »Ja«, sagt sie. Du Dummkopf, solche fragt man nicht.) Sie tanzt einen Walzer im Sitzen, nur, weil sie die Dreiviertel scharf akzentuiert, und es ist nicht ein, es ist: der Walzer. Sie setzt sich zum Essen; bevor sie auf ihrem Stuhl zur Ruhe kommt, ruckelt sie noch einmal ein bißchen hin und her, so wie ein Gummiball auf der Erde noch einmal federt, jetzt hat sie den bequemsten Sitz, so, es kann losgehen. Nun, mein Herr, was haben Sie mir vorzuführen? Liebe? oder zarte Zuneigung? oder vielleicht stehen Sie ein bißchen auf dem Kopf? Sie ist beim Mann immer wie im Theater. Und piekt ihn nicht nur mit der Gabel (die sie übrigens sorgfältig jedesmal abwischt) und prüft zwischendurch das Essen, denn soviel Zeit ist immer noch für das Wichtigere, und ganz kurz vor dem Trinken fällt ihr ein, dass der andre ja auch noch da ist, und dann bekommt er ein kleines flüchtiges Prost –!

Sie ist so ganz und gar unberlinisch, so gar nicht aus dieser Stadt, in der man mit den Frauen einen faulen Frieden geschlossen hat, bevor man seinen kleinen Kakelkrieg führt. Sie ist Urwald mit asphaltierten Hauptwegen.

Und bevor sie mit ihm ihren Walzer tanzt, wippt sie so zehn oder zwölf Takte leise gehend durch den Raum. Andante – der Körper ganz ruhig, die Füße bewegen sich kaum, wo, in aller Welt, liegt das, was diesen Walzer zusammenreißt, dass die Muskeln zucken? In ihr. Und dann tanzt sie, schwebend, federleicht. Und ich gebe für diese zwölf Takte langsamen Walzer gut und gern – sagen wir: ein halbes Jahr Krieg.

Operetten, Theater, Berlin, Unterhaltungsmusik, Kultur – das sind wohl sehr schwierige Probleme. Sie aber lacht, umarmt den Mann und reißt mit einer krampfigen Hand leise lachend Kalenderblätter von einem Block, weil sie will, dass heute nicht der dreißigste, sondern der neunzehnte ist. Und es ist der neunzehnte – es ist jeder Tag, den sie will. Denn sie ist eine Zauberin.

›Drei alte Schachteln‹

Es hat den Schlachtenlärm überdauert. Noch immer ziehen die Geigen pflaumig dahin, und der Liebeskummer wird im ersten Akt gepflanzt und trägt im letzten gar herrliche Früchte; es schneit, es walzert, es klingelt – aber eigentlich glaubt niemand so recht daran. Die Autoren nicht: die wollen publikums-kühl und tantiemen-heiß Geld verdienen; die Darsteller nur, soweit sie Tenöre sind: dann schreien sie allerdings schrecklich und bilden sich zeitweise ein, es sei schließlich – alles in allem, sei dem, wie ihm wolle – hohe Kunst, die ihrem Munde entströmt; und das Publikum schon gar nicht. Es nimmt die tragischen Konflikte des deutschen Schwankes mit Musik hin und freut sich, wenn es spaßig zu werden verspricht – so, wie man ja auch nach Zucker anstehen muß, bevor man ihn bekommt.

Ja, es war sehr schön. Ich sah mein Geld ordentlich ab, mit meinem Theaterglas: ich sah bei dem schwarzen Liebhaber das Zäpfchen hinten im Gaumen beim hohen G zittern, welch eine Mundhöhle! welch ein gutturaler Ton! – und ich sah die Waldoffn. Und da mußte ich das Glas absetzen.

Noch immer, noch immer. Neben all den schönen Tönen, unmittelbar aus dem Wasser der Panke hervorgegurgelt, zwei kleine Höhepunkte: einmal weich und dick hingelehnt auf ein Sofa, eine berliner Récamier; und einmal mit der Petroleumlampe vor dem Spiegel, mits neue Kleid … »Wenn ick mir so in den Trimoh bekiecke – ick weeß nich recht: ick seh so komisch aus … . « Spielen kann sie gar nicht; die Komik ihres Körpers ist nicht da, sie tut nur so – aber ihre Stimme hallt noch wie einst über die Gefilde. Sie brauchte gar nicht so zu brüllen – viel komischer ist sie, wenn sie im piano verzittert. Und obgleich sie nur schnoddrig ist, so ist sie dies als Spezalistin vollkommen. Ich möchte nicht der Engel sein, der dieses arme Seelchen einst am Auferstehungstag aus dem Grab holt. Es möchte mich nicht sehr fein begrüßen …

Bei uns in Berlin ist die Struktur dieser Dinge nur immer so überdeutlich. Das Rätsel und der Zauber ›Theater‹ – sie sind fast dahin. Früher zitterten wir, wenn sich der Vorhang bei der Ouvertüre wehend bewegte. Nur weil wir jünger waren? Aber dann laß mich das Ganze: diesen Kulissenkram und das Drum und Dran und das Drängen in den Gängen vorher und nachher und die Rampe und die Souffleurmuschel – laß es mich noch einmal genießen. Du sollst dasitzen und Deine erstauntesten Kinderaugen machen (die alles so rasch durchschauen) und lachen und bewundern und die Achseln zucken und auch klatschen, jenachdem. Wenn ich zurückkomme, laß mich noch einmal jung werden. Und dann will ich Dir alles zeigen: die Waldoffn und die großen Nummern und die kleinen Chargen und die Parkettgäste und einen uralten Logenschließer mit einer entsetzlich langen Nase und – wenn Du durchaus willst – auch Alfred Holzbock. ›Drei alte Schachteln‹ wird es dann freilich nicht mehr geben, aber sei ohne Angst: das stirbt nicht aus; der unerschöpflichen Phantasie unsrer Herrn Autoren wird dann schon etwas Neues entsprungen sein. Kommst Du –?

Peter Panter
Die Weltbühne, 16.05.1918, Nr. 20, S. 457 .